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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Wir waren nie bescheiden'

Ausgabe 11/2010

INTERVIEW IG-Metall-Bezirksleiter Oliver Burkhard über den jüngsten Stahlabschluss, gleiche Löhne für Leiharbeiter und tarifpolitische Spielräume.

Das Gespräch führten MARGARETE HASEL und KAY MEINERS./Foto: Susanne Kurz

Kollege Burkhard, die Stahlbranche ist überschaubar, der Organisationsgrad liegt bei über 90 Prozent, und die Tarifbindung besteht durchgängig. War der Stahlabschluss eine leichte Runde?
Auch in der ersten Tarifrunde im Aufschwung wollten die Arbeitgeber nichts freiwillig geben. Und auf beiden Seiten war klar, dass dieser erste Abschluss nach der Krise eine hohe Symbolkraft hat. Also wurde hart verhandelt, mit gutem Ergebnis.

Die gesellschaftliche Stimmung für Lohnerhöhungen war günstig. Sogar die Bundeskanzlerin und Herr Brüderle haben sich aufgeschlossen gezeigt.
Aber erst hinterher, als wir mit den Verhandlungen fertig waren. Für mich zählen die Erwartungen und die Zufriedenheit unserer Mitglieder, die Politik sollte sich raushalten.

Hinzu kommt, dass die Lohnkosten in der Stahlbranche kaum zu Buche schlagen. Der Anteil der Rohstoff- und Energiekosten ist viel höher - und schwer berechenbar.
Natürlich sind Löhne wichtig, aber bei der Stahlerzeugung machen die eben nur neun Prozent aus, während die Rohstoff- und Energiekosten 77 Prozent der Kosten je produzierte Tonne Stahl ausmachen. Unsere Tarifverträge sind verlässlich, die Rohstoffpreise sind ein Problem.

Jetzt gibt es 3,6 Prozent mehr und den gleichen Lohn für Leiharbeiter. Ist das Ende der Bescheidenheit gekommen?
Bescheiden waren wir nie. Wann soll das gewesen sein?

Zum Beispiel im Februar, als der Tarifvertrag für das metallverarbeitende Gewerbe abgeschlossen wurde. Damals gab es eine Nullrunde, beziehungsweise eine Einmalzahlung für das erste Jahr, danach 2,7 Prozent mehr Lohn und insgesamt eine sehr lange Laufzeit bis 2012. Haben Sie das schon bereut?
Keineswegs, das war und ist ein guter Abschluss. Unsere Industrien, vor allem der Maschinenbau und die Autobranche, waren damals noch mitten in der schwersten Krise seit 60 Jahren. Die Aufträge brachen zum Teil um mehr als 40 Prozent ein. Im Vordergrund stand deshalb die Beschäftigungssicherung. Mit unserem Tarifvertrag "Zukunft in Arbeit" sichern wir übrigens auch jetzt noch Arbeitsplätze.

Wie wichtig war dieser Tarifvertrag für die Bewältigung der Krise?
Er hatte eine enorme psychologische Bedeutung. Denn die Menschen hatten große Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Es kam aber nicht zur Katastrophe am Arbeitsmarkt, trotz der Katastrophe bei den Auftragseingängen. Das haben wir geschafft. Und erstmals haben übrigens die Arbeitgeber anerkannt, dass Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze sichern kann.

Wird es jetzt, wo die Wirtschaft anspringt, Nachverhandlungen geben?
Nein. Die IG Metall ist vertragstreu. Das erwarten wir schließlich auch von den Arbeitgebern.

Wie sieht es mit der zweiten Phase der Umsetzung des Tarifvertrages aus, die für April 2011 terminiert ist? Man kann ja zwei Monate vorziehen oder zwei Monate nach hinten schieben.
Stimmt, man kann die Erhöhung auch vorziehen. Bisher hatten wir diesen "Verschiebebahnhof" nur nach hinten: Die Betriebe, denen es schlechter ging, konnten später einsteigen. Dieses Mal gibt es den Korridor auch nach vorne. Wir geben die Empfehlung, da, wo es wirtschaftlich möglich ist, davon Gebrauch zu machen.

Anfang des Jahres stand die Beschäftigungssicherung im Zentrum. Worum ging es jetzt in der Stahlrunde?
Um Fairness. Unser Ziel war eine deutliche Lohnerhöhung. Daneben ging es uns um ein politisches Thema, das uns unendlich nervt, weil es die Errungenschaften von 60 Jahren Tarifpolitik zerstört: unregulierte und schlecht bezahlte Leiharbeit.

Bleiben wir erst einmal beim Thema Geld. Für die Stahlbranche hat die IG Metall sechs Prozent mehr Lohn gefordert. Wie berechnet man eine Lohnforderung?
Das kann man nicht ausrechnen. Das ist doch am Ende auch ein politischer Vorgang.

Die Zahl wird immer wirtschaftlich begründet.
Klar. Wir sehen uns die gesamtwirtschaftliche Situation an. Die erste Kennziffer ist die gesamtwirtschaftliche Produktivität. Die zweite Kennziffer ist die Inflationsrate - nicht die des aktuellen Monats, sondern die Zielinflationsrate der EZB, die aktuell bei etwa zwei Prozent liegt. Dazu kommen weitere Zahlen wie der Anteil der Bruttolohnkosten an den Umsätzen oder die Auftragseingänge. Und natürlich reden wir auch über Verteilungsgerechtigkeit. Deshalb kann auch eine Umverteilungskomponente hinzukommen.

Und wie wird die errechnet?
Die Stimmung in der Bevölkerung spielt eine wichtige Rolle. Gegen die öffentliche Meinung ist nur schwer Tarifpolitik zu machen. Sonst läuft man in eine Falle: Erst gibt es noch Verständnis, aber wer es mit der Forderung übertreibt, isoliert sich. Am Schluss zählt nicht die Forderung, sondern was wir als Ergebnis erreicht haben.

Rausgekommen sind jetzt eine Einmalzahlung von 150 Euro für September und 3,6 Prozent mehr - bei einer Laufzeit von 13 Monaten. Sind Sie zufrieden?
Wir haben einen ordentlichen Wert ausgehandelt. Die hohe Zustimmung zeigt, dass wir damit richtig liegen.

Mehr Wirbel als mit dem Lohnplus hat der Stahlabschluss verursacht, weil erstmals in einem Flächentarifvertrag die Leiharbeiter beim Lohn gleichgestellt werden. Wie haben Sie die Arbeitgeber überzeugt?
Einige Arbeitgebervertreter haben mir gesagt: Das mache ich nur über meine Leiche. Da habe ich sie gefragt, was sie eigentlich sind: Kapitalisten oder Ordnungspolitiker? Letztlich wollten sie Geld verdienen. So konnten wir ihnen vorrechnen, dass faire Lohnarbeit in der Stahlindustrie kein Kostenthema ist. Und ihnen wurde auch nach und nach klar, wie ernst uns diese Forderung ist.

Es ist für die Stahl-Arbeitgeber nicht teuer, weil es in der Branche kaum Leiharbeiter gibt.
Von den rund 85 000 Beschäftigten sind rund 3000 Leiharbeiter. Davon hatten wir für 60 bis 70 Prozent bereits sogenannte Besser-Vereinbarungen erreicht. Jetzt gibt es die per Tarifvertrag - für alle.

Wie kann die IG Metall zusammen mit den Entleihbetrieben dafür sorgen, dass der Verleihbetrieb, also ein Dritter, besser bezahlt?
Die Stahlunternehmen haben sich verpflichtet, die Differenz zwischen dem Gehalt des Leiharbeiters und dem Gehalt der Stammbelegschaft wenn nötig selbst zu zahlen. Das ist kein Vertrag zulasten Dritter, wie uns jetzt die Leiharbeits-Lobby vorwirft, sondern zugunsten Dritter. Es handelt sich um eine schuldrechtliche Verpflichtung, die Begünstigten sind die Leiharbeiter.

Eine pfiffige Konstruktion. Aber die Stahlunternehmen werden versuchen, die Mehrkosten am Ende auf die Leiharbeitsfirma abzuwälzen.
Das ist deren normales Verhandlungsgeschäft und nicht unser Problem. Unser Ziel ist, Leiharbeit mindestens genauso teuer zu machen wie Arbeit, die von Stammbelegschaften erledigt wird. Wie in jeder Tarifrunde haben wir die Gewinnmarge für die Arbeitgeber zugunsten der Arbeitnehmer verringert.

Sie möchten beim Stahl vorangehen, um dann nach und nach weitere Branchen einzufangen?
So einfach ist das leider nicht. Was wir machen, ist doch die klassische Gewerkschaftsarbeit. Der Stärkere muss dem Schwächeren helfen. In ein schweres Spiel geht man nur mit einer starken Mannschaft. Aber natürlich packen wir auch die anderen Branchen an. Und wir reden auch mit der Politik und mit den Zeitarbeitsverbänden, um unsere Ziele zu erreichen. Denn eine Zweiklassengesellschaft im Betrieb wollen wir nicht. Das ist eine Frage von Fairness und Solidarität.

Die Leiharbeiter flogen als erste raus. Ohne sie als Flexibilitätspuffer wäre es den Betriebsräten schwerer gefallen, die Stammbelegschaften in der Krise zu schützen. Leiharbeit hat so manchen Sozialplan erspart.
Allein in der Metallverarbeitung in NRW haben 60 000 Leiharbeiter durch die Krise ihren Job verloren. Aber das ist nicht den Betriebsräten vorzuwerfen. Sie haben das System nicht erfunden. Wo die Betriebsräte und die Gewerkschaften stark sind, haben sie erreicht, dass Leiharbeiter zum Beispiel auch Kurzarbeit machen konnten, statt arbeitslos zu werden. Wir kriegen aber nicht all das allein mit Tarifpolitik wieder geheilt, was bundespolitisch oder sonstwo ausgeheckt wird.

Was macht Leiharbeit zum Topthema für Gewerkschaften und Betriebsräte?
Es ist ein großes Thema unserer Mitglieder. Viele haben Angst davor, dass über Leiharbeit und andere Formen prekärer Beschäftigung die Standards gesenkt werden. Die Betroffenheit ist auch in Stammbelegschaften groß. Sie erleben, dass es gerade für die Jüngeren in den Betrieben nicht besser, sondern schlechter wird. Aber gerade die Jüngeren interessiert nicht nur, wie viel genau sie verdienen. Wichtig ist ihnen die Frage, wie wir künftig arbeiten werden. Die psychischen Belastungen, die zunehmen, ängstigen sie ebenso wie die Verlagerungen oder die Einführung neuer Produktionssysteme, die die Qualität der Arbeit beeinträchtigen.

Würden Sie Leiharbeit verbieten, wenn Sie könnten?
In NRW gibt es derzeit schon wieder 200 000 Leiharbeiter, bundesweit eine knappe Million. Wenn es nach mir ginge, gäbe es eine klare gesetzliche Regelung: Leiharbeit dürfte nur zum Ausgleich von Produktionsspitzen oder in Krankheitsfällen geduldet werden. Und sie müsste mindestens genauso oder besser bezahlt werden als normale Arbeit. Gesamtgesellschaftlich ist das Leiharbeits-Modell einfach extrem teuer. Wie wir jetzt Leiharbeit betrieblich, tariflich und politisch angehen, das prägt in zehn oder 15 Jahren grundlegend die Arbeitswelt. Daran entscheidet sich, was Fairness in der Arbeitswelt künftig heißt.

Wie viele Leiharbeiter hat die IG Metall NRW organisiert?
Deutlich weniger als hier arbeiten. Für uns ist die Organisation der Leiharbeiter eine neue Aufgabe, bei der die klassischen Zugänge oft nicht funktionieren. Hier entwickeln wir neue Strategien. Die IG Metall NRW hat 2008 etwa 2500 Leiharbeiter aufgenommen, bei 27 000 Neuaufnahmen insgesamt. Jetzt, in der 40. Kalenderwoche beispielsweise, hatten wir in NRW rund 1000 Neuaufnahmen insgesamt, davon fast die Hälfte Leiharbeiter. Das freut mich und macht Mut.

Sind solche guten Wochen das Ergebnis von gezielten Aktionen?
Manchmal ist es weniger die Werbeaktion als vielmehr die Grundstimmung. Alle Zeitungen, von der "FAZ" bis zur "taz", haben uns für diesen Abschluss gelobt. Das hat dann auch eine Wirkung. Es ist eine Form von Respekt. Bei uns rufen Leute an oder schicken uns Mails, um sich zu bedanken, weil wir das Thema Leiharbeit anpacken. Sogar aus ganz anderen Branchen. Für schwache Gruppen gibt es nur selten starke Fürsprecher. Das wollen wir ändern.

Was macht Tarifverhandlungen aus Sicht der Arbeitnehmer am Ende erfolgreich?
Der Erfolg entscheidet sich daran, ob die Beschäftigten gut organisiert und bereit sind, für ihre Interessen einzustehen. Sind nur 20 oder 30 Prozent der Belegschaft in der IG Metall, sprechen wir nicht für die Mehrheit der Beschäftigten. Das Rezept lautet also: gut organisiert, entschlossen und selbstbewusst handeln.

Wie wird die Krisenerfahrung die Tarifpolitik beeinflussen?
Wir haben eine gemeinsame Kraftanstrengung hinter uns. Das Ansehen des deutschen Tarifsystems hat durch die Krise und in der Krise gewonnen. Keiner redet mehr davon, Tarifverträge zu verbrennen. Jetzt zeigen wir unseren Mitgliedern, dass wir nicht nur Krise können, sondern auch Aufschwung.


ZUR PERSON

OLIVER BURKHARD, geboren 1972 in Frankfurt am Main, gilt in Tarifkonflikten als verhandlungsstark und zielorientiert. Seit 2007 leitet er den IG-Metall-Bezirk NRW. Burkhard, der neben seinem Job als Sachbearbeiter im Statistischen Bundesamt ein BWL-Studium absolvierte, ist seit 1997 hauptamtlich für die Gewerkschaft tätig, zunächst beim Vorstand in Frankfurt, später dann als Tarifsekretär in Düsseldorf. Er ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Edelstahlwerke GmbH und Aufsichtsratsmitglied bei ThyssenKrupp Elevator und der Vodafone D2 Deutschland GmbH. Er ist Mitglied der SPD, verheiratet und hat zwei Kinder.

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