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Magazin Mitbestimmung: INTERVIEW 'Wir müssen aus eigener Stärke agieren'
IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber über bedingt zuverlässige Arbeitgeberverbände, eine Entschuldigung von Siemens-Chef Löscher wegen der AUB und das Verhältnis der IG Metall zu SPD und Linkspartei.
Mit Berthold Huber sprachen in Frankfurt Cornelia Girndt und Matthias Helmer/Foto: Alexander Paul Englert
Berthold Huber, reden wir über den Zustand der Verbände: Heutzutage greift die IG Metall zum Mittel des Warnstreiks, damit der Arbeitgeberverband Kfz sich nicht auflösen soll - ist das normal?
Nein, so etwas wäre in der alten Republik nicht denkbar gewesen. Wir sind im System der Tarifautonomie nach wie vor abhängig von unserem Partner, dem jeweiligen Arbeitgeberverband. Wenn der seine Mitglieder nicht mehr zusammenhalten kann oder ganz verloren geht, sind wir als IG Metall auf unsere eigene Stärke und auf den Staat verwiesen. Das ist dann die logische Konsequenz. Aber das Beste ist das fürwahr nicht.
Die Akteure vereinzeln sich, mehr denn je agiert heute jeder für sich.
Wenn die Arbeitgeberverbände ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen wie in der Kfz-Branche, dann ist die IG Metall letztlich nicht in der Lage, diese zigtausend Kfz-Betriebe alle einzeln zu organisieren.
Ist diese Erosion der Verbände unvermeidbar so über uns gekommen?
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts sind die politischen und sozialen Rücksichtnahmen gefallen und einer Rücksichtslosigkeit gewichen. In den Ideologieabteilungen der deutschen Arbeitgeberverbände wurde offensiv darauf hingearbeitet, den tariflichen Schutz zu diskreditieren. Der frühere BDI-Präsident Henkel hat dazu aufgerufen, aus dem Tarifkartell auszutreten. Sein Nachfolger Rogowski wollte Tarifverträge und Betriebsverfassungsgesetz verbrennen. Wenn diese Rechnung aufgehen würde, hätten wir eine andere, eine marktradikale Republik, die den sozialen Ausgleich der Interessen - das genau leisten die Tarifparteien - abschafft. Die Selbstverständlichkeiten der alten Republik scheinen mir ziemlich gebrochen zu sein - wenn auch nicht in jedem Betrieb und Unternehmen.
BDA-Präsident Hundt lobte aber kürzlich "die erfolgreiche und bewährte Tarifautonomie". Kann man das ernst nehmen, wenn die Arbeitgeber auf einmal vor einer "Zerfaserung der Tarifautonomie" warnen?
Diese Zerfaserungen, wie Hundt das nennt, haben auch damit zu tun, dass in manchen Bereichen die Einheitsgewerkschaft durch ein berufsständisches Organisationsprinzip ersetzt wird. Für diese Entwicklung haben die Arbeitgeber sehr viel getan - bis hin zum aktiven Aufbau gewerkschaftsfeindlicher Organisationen, wie der AUB, bei Siemens oder Aldi. Was sie wollten, ist klar: die Einheitsgewerkschaften im DGB schwächen.
Und jetzt haben sie das Problem?
Jetzt werden sie die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Manche machen trotzdem munter weiter und verhandeln erst mit der IG Metall einen Tarifvertrag, den sie dann von den christlichen Gewerkschaften unterschreiben lassen. Die Arbeitgeber haben mir erst vor Kurzem erklärt, das würde so bleiben. Dann dürfen sie sich über die zersplitterte Gewerkschaftslandschaft nicht beschweren. Die Folgen sind klar: Auf Betriebsebene werden die Auseinandersetzungen schärfer und weitere berufsständische Organisationen werden sich herausbilden.
Seit vier Jahren bist du im Aufsichtsrat der Siemens AG, hat dich überrascht, dass die AUB als Gegenorganisation zur IG Metall mit 50 Millionen Euro vom Unternehmen aufgebaut wurde?
Bei Siemens überrascht mich gar nichts mehr - nach all den Krisen der letzten Jahre, die ich näher beurteilen kann. Die AUB, die gegen die IG Metall aufgebaut wurde, ist eine Veranstaltung gegen Recht und Gesetz. Einige Leute dachten offenbar: "Was interessiert uns der Staat und was interessieren uns Gesetze, wir machen das so, wie wir das für richtig halten." So war Siemens.
Hat sich schon mal jemand bei der IG Metall dafür entschuldigt?
Der jetzige Vorstandsvorsitzende Peter Löscher hat sich auf der letzten Betriebsrätekonferenz entschuldigt. Aber er hat das ja nicht angestellt. Die jetzt angeklagt sind, haben sich niemals entschuldigt, das wäre ja ein Eingeständnis.
Apropos Schuldeingeständnis: Inwiefern hat die VW-Affäre um Hartz und Volkert auch die Figur des Betriebsrates als Co-Manager beschädigt? Die Anwälte haben vor Gericht argumentiert, dass sie durch die Nähe, die Mitbestimmung herstellt, zu den hohen Boni angeregt wurden.
Das ist doch nur der durchsichtige Versuch, sich selbst zu entlasten. Was hat das mit dem System der Mitbestimmung zu tun, wenn sich einer ungebührlich und korrupt Beträge zuschanzt? Mich ärgert, dass man am Ende das System für sein eigenes moralisches und persönliches Versagen verantwortlich macht. Das ist ein Angriff auf die Integrität tausender Betriebsrätinnen und Betriebsräte der IG Metall, die jeden Tag aus Überzeugung und Idealismus für ihre Kollegen etwas erreichen wollen und auch erreichen.
Was sind für dich die Gründe für die Schwäche der Verbände, sprich: des Korporatismus?
Es gibt den Zwang der Finanzmärkte zu extrem hohen Renditen. Soziale Teilhabe soll auf dem Altar des Turbokapitalismus geopfert werden. Es gibt aber keinen Grund und keinen Zwang, dass wir diesen Leuten unser Land, unsere Betriebe und unsere Unternehmen überlassen. Auch im Arbeitgeberlager sagen mir einige Leute ausdrücklich, dass sie diese Entwicklung nicht gutheißen. Dieser Finanzkapitalismus setzt auf kurzfristige Höchstprofite und ihm sind die Menschen so egal wie die nachhaltige Entwicklung der Unternehmen oder der soziale Ausgleich in der Gesellschaft.
Wenn wir über die Bruchstellen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften reden - hat der Angriff auf die Unternehmensmitbestimmung eine Rolle gespielt, wobei BDA und BDI die Gewerkschafter aus den Aufsichtsräten raushaben wollten?
Eugen Loderer, einer meiner Vorgänger, sagte: "Der Kapitalismus hat nie seinen Frieden mit uns gemacht, deswegen werden wir unseren Frieden nicht mit dem Kapitalismus machen." Insofern sind diese Angriffe nichts Neues, aber sie zeigen: Wir können uns nicht mehr nur auf das institutionelle Geflecht verlassen.
Das durchaus weiterhin existiert, aber zunehmend innerlich ausgehöhlt wird.
Wir müssen aus eigener Stärke agieren. Daher ist die Mitgliederfrage in der IG Metall an die erste Stelle gerückt und für uns die politischste aller Fragen. Wir beziehen die Belegschaften sehr viel stärker ein in betriebliche Konflikte und Lösungen. Beteiligung ist die moderne Basis der Solidarität. Und in der Fläche wird es immer wichtiger, in wie vielen Betrieben wir mobilisierungsfähig sind.
Auch wenn nur die eigene Stärke zählt: Wie wichtig ist ein guter Draht zu Parteien und Regierung? Kürzlich hast du die Linkspartei wissen lassen: "Permanentdemonstrationen sind nicht die optimale Strategie für die IG Metall."
Gregor Gysi hat uns Frankreich als Vorbild empfohlen. Daraufhin habe ich ihm geschrieben: "Die Zukunft der Gewerkschaften in Deutschland liegt nicht in erster Linie auf der Straße. Die Stärke der Gewerkschaften zeigt sich in der Kompetenz unserer Betriebsräte und Mitglieder im Betrieb, wie auch in unserer unternehmensstrategischen Kompetenz." Unsere Mitbestimmung befähigt uns, nicht nur zu reagieren, sondern ein Unternehmen auch nach vorne zu bringen. Da entwickeln wir auch neue Kompetenzen, von denen wir vor 30 Jahren gesagt hätten: Das ist nicht Sache von Betriebsräten und Gewerkschaften.
Ist die betriebliche Kooperation der Belegschaften mehr denn je gefragt, als Wissen im Wettbewerb?
Da gibt es enorme Unterschiede. Wir haben Unternehmen, die wissen, dass Betriebsräte und Mitbestimmung eine starke Produktivkraft sind. Bei anderen fühlt man sich ja nachgerade an die Anfänge der Industrialisierung zurückerinnert, weil dort Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter diskriminiert oder gar bespitzelt werden.
Unterschiedlich sind auch die Gewerkschaften. Die IG BCE hält die Sozialpartnerschaft hoch, während sich viele ver.di-Aktivisten davon verabschiedet haben. Ist die Sozialpartnerschaft für die IG Metall eine Orientierungsmarke?
Der Begriff Sozialpartnerschaft war bei uns immer ein umstrittener Begriff - anders als bei der IG BCE. Die haben einen relativ stabilen Arbeitgeberverband, mit dem sie erfolgreich Tarifpolitik machen. Aber uns hilft die Begrifflichkeit Sozialpartnerschaft nicht groß weiter. Das kann auf Betriebs- oder Branchenebene durchaus gehen und woanders funktioniert es überhaupt nicht. Uns geht es darum, für die Beschäftigten materielle und politische Teilhabe zu organisieren.
Was die Teilhabe an den Sozialreformen betrifft: Würdest du sagen, dass die Verständigungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften hier an ein Ende gekommen sind?
Auf der tarifpolitischen Ebene haben wir in den letzten Jahren recht viel zustande gebracht. Aber auf der Sozialstaatsebene? Was soll ich mit Leuten verhandeln, die den Abriss des Sozialstaates zu ihrem Glaubensbekenntnis erhoben haben. Da hilft nicht Kooperation, sondern wir müssen eigene Stärke aufbauen. Sinnvolle Projekte, wie ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch, sind gescheitert, weil es die BDA nutzen wollte, um die Rechte der Arbeitnehmer zu beschneiden. Warum sollten wir da mitmachen?
Andererseits haben die Tarifparteien, zum Beispiel mit den Rentenfonds, den Sozialstaat entlastet. Warum hat das nicht sichtlich zu ihrer Aufwertung geführt?
Das ist ein mühsames Geschäft. Die Metallrente war in einer bestimmten Situation möglich. Das hängt immer davon ab, welche Strömung sich im Arbeitgeberlager durchsetzt. Mittlerweile gibt es eine tiefe Abneigung von Arbeitgeberseite, mit der IG Metall auch künftig solche Verabredungen zu treffen. Auch an dieser Stelle sind wir darauf verwiesen, eigene Stärke aufzubauen.
Und in der Industriepolitik? Da macht doch die IG Metall zusammen mit der IG BCE und dem VDA gemeinsame Branchenpolitik für die Automobilzulieferer. Ist das beispielhaft?
Dialoge setzen immer voraus, dass man nicht als Bittsteller kommt. Und das sind wir in der Auto- und Autozuliefererbranche nicht. Vielfach versuchen wir branchenübergreifend Eckpunkte für eine zukunftsweisende Industriepolitik zu setzen. Auch in der Frage der CO2-Emissionen gegenüber der EU: Industriepolitisch sind wir in gemeinsamer Position mit der IG BCE wirkungsmächtiger. Was interessieren mich die ideologischen Debatten von vorgestern.
Das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften war auch schon schlechter. Du wirst verdächtigt - trotz Agenda 2010 und Rente mit 67 - diesem Verhältnis zu neuem Elan verhelfen zu wollen.
Gegenseitige Sprachlosigkeit hilft nicht weiter. Spätestens seit der Herausbildung der Linkspartei auf Bundesebene ist doch klar, dass Gewerkschaften noch viel stärker auf ihre Unabhängigkeit hinarbeiten müssen. Wir lassen uns nicht vereinnahmen, von keiner Partei. Das heißt aber, dass wir selbstverständlich mit allen demokratischen Parteien reden - von der Union über die Sozialdemokratie, die Grünen bis zur Linkspartei.
Und die privilegierte Partnerschaft mit der SPD?
Das Klima war auch deshalb am Boden, weil die Agenda 2010 ohne Rücksicht auf Verluste durchgedrückt worden ist. Was hat unsere Leute am meisten aufgebracht? Dass ihre arbeitslos gewordenen Kollegen ihre Altersrücklagen aufbrauchen müssen, während gleichzeitig für die Besserverdiener der Spitzensteuersatz gesenkt wird und Konzerne ihre Beteiligungen steuerfrei veräußern können. Das ist doch Wahnsinn! Die Gewerkschaften müssen eben ihre eigene unabhängige Politik machen.
Was heißt das jetzt für die Bundestagswahl im nächsten Jahr?
Es wird keine Nähe zu einer Partei geben. Die IG Metall wird ihre Argumente auf den Tisch legen und auf Probleme hinweisen. Und wir werden tatkräftig unsere Mitglieder mobilisieren, damit sie wählen gehen.
Und im Verhältnis zur Linkspartei?
Stigmatisierungen helfen nicht weiter. Was ist denn die Alternative? Schwarz wählen? Roland Koch in Hessen weiterregieren lassen? Den kriegt man nur weg, wenn man eine Koalition aus SPD, Grünen und der Linken eingeht. Ich würde dann immer Bedingungen stellen an die Linkspartei. Mir braucht keiner erzählen, was deren Defizite sind. Demokratie erfordert aber, Mehrheiten zu finden. Wo ist das Problem?
In Brüssel ist der Einfluss von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften weit geringer als das, was wir hier im System der Tarifautonomie nach wie vor haben. Was will die IG Metall tun?
Das ist kein geringes Problem für uns. Die Arbeitgeber in Europa wollen keinen wirklichen sozialen Dialog, sie wollen in Wirklichkeit keine Verhandlungen. Sie führen seit vielen Jahren mit uns nur Scheinverhandlungen, wie man bei der EBR-Richtlinie sieht. Hier wird uns seit 1999 zugesagt, dass die Richtlinie fortentwickelt wird. Aber viele Jahre passierte nichts. Da bleibt dann tiefes Misstrauen. Wir Gewerkschaften müssen unsere europäischen Vertretungen effizienter machen und neu ordnen.
Was könnte die Politik tun, um Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als korporatistische Akteure zu stärken?
Vor allem sollen Politiker nicht immer die Tarifautonomie in Frage stellen. Im europäischen Binnenmarkt müssten sie dafür Sorge tragen, dass sich in Mittel- und Osteuropa Arbeitnehmerorganisationen und Arbeitgeberverbände überhaupt entwickeln können. Und sie sollten nicht zulassen, dass über die EU-Kommission und den EuGH Entscheidungen durchgesetzt werden, die im Kern nur einem radikalen Marktgedanken zum Durchbruch verhelfen. In Europa müssen soziale Grundrechte mindestens den gleichen Stellenwert haben wie die sogenannten Binnenmarktfreiheiten.
ZUR PERSON
Berthold Huber, 58, verbindet in seiner Person handfeste betriebliche Praxis und eine humanistische Bildung. Der gelernte Werkzeugmacher war viele Jahre als Betriebsrat in der Metallindustrie tätig, studierte dann Geschichte, Philosophie und Politik, bevor er IG Metall-Gewerkschaftssekretär wurde. Huber war ab 1998 IG Metall-Bezirksleiter in Baden-Württemberg, wechselte fünf Jahre später als Zweiter Vorsitzender nach Frankfurt. Beim Gewerkschaftstag am 6. November 2007 wurde Berthold Huber mit 92,6 Prozent der Stimmen zum Ersten Vorsitzenden der IG Metall gewählt. Er ist Mitglied der SPD.