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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Mehr Härte gegen die schwarzen Schafe'

Ausgabe 03/2008

Peter Camin, Konzernbetriebsratsvorsitzender der Hydro Aluminium, über die Rückkehr des Staates in Sachen Arbeitsschutz.

Das Interview führte JÖRN BREIHOLZ in Hamburg.

Herr Camin, vor kurzem hat sich auf dem Hamburger Betriebsgelände von Hydro Aluminium ein tödlicher Arbeitsunfall ereignet. Prompt kam ein Spitzenmanager der norwegischen Unternehmensführung angereist. Ist das üblich?
Der Unfall ist bei Betonarbeiten auf einer Baustelle passiert, für die eine Fremdfirma verantwortlich war. Nach dem deutschen Verständnis hat der Auftraggeber damit nichts zu tun. Aber die Skandinavier sehen das anders. Die haben eine viel feinere Sensibilität, was tödliche Unfälle angeht. Als uns der Hydro-Vorstandsvorsitzende das nächste Mal besuchte, war seine erste Frage, wie wir in Zukunft sicherstellen, dass es auch bei Fremdfirmen nicht zu Arbeitsunfällen kommt. Die Skandinavier sind uns im Arbeitsschutz Jahre voraus - das ist ein gesellschaftliches Thema.

Ist man in Deutschland weniger am Arbeitsschutz interessiert?
Wir haben eines der besten Systeme weltweit sowohl in der medizinischen Versorgung, bei der Rehabilitation wie auch im Todesfall, was die finanzielle Versorgung angeht. Aber die Unfallopfer bekommen kaum öffentliche Aufmerksamkeit.
 
Zum Beispiel?
Während des Sturms Kyrill im Januar 2007 sind zwölf Menschen ums Leben gekommen - das stand in den Zeitungen, aber nicht, dass bei den Aufräumarbeiten nach dem Sturm zwei- bis dreimal so viele Forstarbeiter tödlich verunglückt sind. Bei Arbeitsunfällen heißt es schnell: menschliches Versagen. Natürlich machen Menschen Fehler, etwa in der Nachtschicht morgens um drei Uhr.

Was sind die häufigsten Ursachen bei tödlichen Unfällen?
Das größte Risiko besteht bei außerplanmäßigen Vorgängen, etwa Maschinendefekten, nicht während Routinearbeiten. Bei uns in der Aluminiumproduktion kann man bestimmte Teile der Anlage nicht abstellen, wenn etwas defekt ist und man auf Ursachensuche gehen muss. Das ist oft eine sehr gefährliche Situation.

Im Arbeitssicherheitsbericht der Bundesregierung vom Dezember 2006 heißt es, die Zahl der Arbeitsunfälle sei seit 2002 um 20 Prozent gesunken. Eine gute Nachricht, oder?
Eine sehr gute - bloß liegt das nicht an einem verbesserten Arbeitsschutz. Der Grund dürften neue Maschinen und damit ein gestiegener Anteil von Automatisierungsprozessen in den vergangenen Jahren sein.

Zwei Monate vor dem Bericht schlug der sächsische Wirtschaftsminister Thomas Jurk Alarm. Die Zahl der Todesunfälle sei besorgniserregend in die Höhe geschnellt. Was stimmt denn nun?
Beides stimmt. In Hochrisikobranchen wie der Bauindustrie nimmt die Unfallrate drastisch zu. Der Konkurrenzdruck, das Subunternehmer-Unwesen, auch dass sich auf Großbaustellen die Arbeiter aus vielen Ländern gar nicht mehr verständigen können und dass viele Betriebe am Rand des Konkurses stehen - all das hat die Arbeitssicherheit auf Baustellen dramatisch sinken lassen. Dagegen sorgt in anderen Branchen wie der Metallindustrie der höhere Automatisierungsgrad für mehr Arbeitssicherheit.

In Deutschland wird der Arbeitsschutz dereguliert. Die Kontrollen auf Baustellen haben sich in Sachsen innerhalb von sechs Jahren fast halbiert, von 7500 auf 4000. Kann man sagen: je weniger Kontrollen, desto mehr Tote bei Arbeitsunfällen?
Ja, das ist so. Es hat ja immer geheißen, die deutsche Gesellschaft sei überreguliert. Das Gegenteil ist der Fall. Die gesetzlichen Bestimmungen für den deutschen Arbeitsschutz sind heute viel weicher als die EU-Regelungen. Inzwischen laufen wir sogar Gefahr, uns von der EU eine massive Rüge einzufangen, weil wir die Standards unterlaufen. Bei einer Evaluation durch den Ausschuss hoher Aufsichtsbeamter in 2006 wurden erhebliche Mängel im deutschen Arbeitsschutzsystem festgestellt. Der Bericht ist ein Desaster für die deutschen Arbeitsschutzbehörden.

Der Trend geht ja hin zu Selbstverpflichtung der Unternehmen statt staatlicher Kontrolle. Ist da wirklich zu viel dereguliert worden?
Die Arbeitgeber haben natürlich Druck gemacht, weil sie keine staatliche Kontrolle in ihren Betrieben wollen. Und so hat man in den vergangenen Jahren unter dem Stichwort Bürokratieabbau jede Menge Unfallverhütungsvorschriften abgebaut. Wo es früher klare Regeln gab, in welchen Intervallen eine Maschine, ein Kran, ein Druckbehälter sicherheitsüberprüft werden muss, besagt die Vorschrift heute lediglich, dass der Arbeitgeber die Sicherheit gewährleisten muss. Die Zeitabstände legt er selber fest. Damit mutet man den Unternehmen einiges an Sachverstand zu - unter dem heutigen Kosten- und Zeitdruck können einige die Erwartungen gar nicht erfüllen.

Wenn es dann schief geht, zahlt die Versicherung und der Arbeitgeber ist fein raus?
Nicht ganz. Das Unfallopfer wird im Regelfall zwar über Versicherungsleistungen entschädigt. Handelt der Unternehmer jedoch grob fahrlässig, dann kann ihn die Versicherung in die Pflicht nehmen. Das kann schon an die Substanz gehen. Der Unternehmer kann zusätzlich auch noch strafrechtlich belangt werden. Und die Gerichte sind schärfer gegenüber dem Management geworden.

Inwiefern?
Sie verurteilen nicht mehr nach dem Prinzip, dass derjenige haftet, der am dichtesten am Unfall dran ist, sondern es haftet, wer die Organisationsverantwortung hat. Das ist ein Prinzip aus dem Umweltrecht. Beim Tankwagenunglück in Herborn ist nicht der Tankwagenfahrer, sondern das Management verurteilt worden. Dieses Urteil war richtungsweisend.

Steht es in großen Konzernen besser um den Arbeitsschutz als in kleinen Betrieben?
Es gibt eine immer deutlichere Schere. In den großen Unternehmen wird der Arbeitsschutz wichtiger, die Shareholder wollen keine Unfälle, kein schlechtes Image, keine Störungen. Aber die kleinen Unternehmen sind mit der Neugestaltung der Betriebssicherheitsverordnung völlig überfordert. Sie schwächt die staatlichen Kontrollen zu Gunsten freiwilliger Selbstverpflichtungen. Die Kleinen müssen sich jetzt externen Rat teuer einkaufen.

Deregulierung heißt dann wohl auch, das Personal in der Gewerbeaufsicht als kontrollierender Behörde auszudünnen?
Das zentrale Problem ist, dass die gesetzlichen Bestimmungen für den Arbeitsschutz zwar auf Bundesebene verabschiedet werden, ihre Umsetzung aber Sache der Kommunen und der Länder ist. In den vergangenen Jahren haben nach und nach alle Bundesländer ihre Gewerbeaufsichtsämter zusammengestrichen, aufgrund von Sparzwängen oder weil sie die Beamten in andere Bereiche wie den Umwelt- und Verbraucherschutz versetzt haben.

Und die Folgen?
Inzwischen haben wir in Deutschland weniger als einhundert Arbeitsschutzinspektoren pro eine Million Arbeitnehmer. Das ist unter dem Standard der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für Industriestaaten. In Frankreich will man die Zahl der Gewerbeaufsichtsinspektoren gerade erhöhen: von 94 auf 148 pro eine Million.

Sie waren jüngst auf einer internationalen Konferenz zum Arbeitsschutz im kanadischen Ontario. 20 Prozent aller unfall- und krankheitsbedingten Kosten und zehn Prozent aller Unfälle gehen dort auf das Konto von nur zwei Prozent der Unternehmen. Was folgt daraus?
In Ontario geht man - wie in Frankreich - nach Jahren des Laissez-faire wieder eine härtere Gangart. 200 zusätzliche Arbeits- und Gesundheitsschutzinspektoren wurden eingestellt zu den vorhandenen 230. Damit ist man den schwarzen Schafen erheblich auf die Pelle gerückt. Im US-amerikanischen Bundesstaat Maine hat man sich die 200 Firmen mit den schlimmsten Arbeitsunfällen vorgenommen und sie aufgefordert, freiwillig an einem vom Staat unterstützten Programm der Unfallreduzierung teilzunehmen. 198 haben erfolgreich mitgemacht, die übrigen zwei zahlten drastische Bußgelder.

Nicht nur die staatlichen Stellen in anderen Ländern reagieren härter als in Deutschland. Auch die an US-Standards orientierten Multis praktizieren einen konsequenten Arbeitsschutz.
Vorreiter beim strengen Arbeitsschutz war das als Schießpulverfabrik gegründete heutige Chemieunternehmen Dupont, das auf absolute Sicherheit gesetzt hat. Noch heute müssen Dupont-Mitarbeiter, bevor sie sich in einem Hotel einquartieren, die Sicherheitsausgänge checken. Und sie werden verwarnt, wenn sie im Unternehmen auf der Treppe nicht den Sicherheitslauf benutzen. Diese sehr strikte Philosophie ist einerseits bewundernswert, weil sie sich angenehm von der üblichen "Sonntagsreden-Philosphie" unterscheidet.

Und andererseits: Ist so ein System wünschenswert?
Solche Werke haben auch etwas Totalitäres, zumindest Autoritäres. Begründet ist diese Zero-Accident-Strategie natürlich auch im US-amerikanischen Rechtssystem, in dem der Einzelne hohe Schadensersatzforderungen durchsetzen kann. Deswegen sieht man dort auf Baustellen auch keinen einzigen Arbeiter ohne Schutzbrille, bei uns schon.

In den USA wetteifert das Management in den großen Unternehmen sogar darum, wer den unfallfreiesten Standort hat.
Was auch daran liegt, dass in vielen Unternehmen die Entlohnung des Managements sicherheitsbezogen ist. Auch bei Hydro: Bei uns sind die Bezüge des Werksleiters bis zu 15 Prozent davon abhängig, wie die aufwändigen Sicherheitsaudits bestanden werden und ob die Sicherheitsempfehlungen umgesetzt wurden. Wenn da ein Werksleiter keine Fortschritte mit seinem Standort macht, reduzieren sich seine Bezüge, und irgendwann ist er dann ganz weg vom Fenster. Jeder kleinste Unfall, und sei es ein geklemmter Finger, muss an den Konzern gemeldet werden. Dieser Kontrollwahn ist mit europäischen Werten kaum kompatibel.

Und die findet man als Betriebsrat besser?
Auch wenn das Perfektionsstreben der US-Amerikaner faszinierend ist, halte ich wenig von der Zero-Accident-Philosophie. Menschen machen immer irgendwann Fehler. Also brauchen wir fehlertolerante Arbeitssysteme, in denen es auch bei Fehlern nicht gleich zum Schlimmsten kommt. Unser in Deutschland verbreitetes TOP-Prinzip - erst technischer, dann organisatorischer und erst zum Schluss personeller Arbeitsschutz - halte ich grundsätzlich für sinnvoller.

Wie hat man sich das vorzustellen?
Ist eine Maschine zu laut, suchen wir eine leisere. Gibt es die nicht, wird die Maschine eingekapselt. Funktioniert auch das nicht, läuft sie eben außerhalb der Arbeitszeiten. Und erst ganz am Ende aller Möglichkeiten muss der Arbeitnehmer Gehörschutz tragen. Das haben wir jetzt übrigens auf EU-Ebene durchsetzen können. In den USA ist es genau andersherum, da wird zuerst der Mensch eingekapselt. Der große Vorteil des europäischen Systems ist die Partizipation, die Beteiligung der Mitarbeiter oder ihrer Vertreter beim Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Das ist die betriebsinterne Strategie. Wie sieht denn die Zukunft der staatlichen Aufsicht in der Bundesrepublik aus?
Selbst die Bundesrepublik wird sich auf Dauer den internationalen Abkommen der EU und der ILO nicht entziehen können. Nachbarstaaten wie Frankreich und Italien verstärken wieder ihre Gewerbeaufsichten. Auch bei uns wird der Staat wieder seine Verantwortung im Arbeitsschutz wahrnehmen müssen.

Gibt es da auch realen Druck?
In 2007 haben wir erstmals nach 15 Jahren wieder ansteigende Unfallzahlen, leider braucht man immer erst traurige Anlässe, bevor was passiert. Vielleicht müssen auch wir in den Gewerkschaften unsere vornehme Zurückhaltung nach spektakulären Unfällen überdenken. In den meisten Nachbarländern tragen die Kollegen, wie jüngst in Italien, ihre Betroffenheit auf die Strasse.


ZUR PERSON

PETER CAMIN ist Konzernbetriebsratsvorsitzender des norwegischen Aluminiumkonzerns am Standort Hamburg und vertritt damit die 12 000 deutschen Hydro-Mitarbeiter. Der 55-Jährige ist ein international erfahrener Arbeits- und Gesundheitsschutz-Experte. Der gelernte Mess- und Regeltechniker und studierte Sicherheitstechniker beschäftigt sich innerhalb des Hydro-Konzerns weltweit mit Sicherheitsfragen und vertritt die IG Metall in Selbstverwaltungsgremien der Metall-Berufsgenossenschaft. Er ist auch für den DGB öfters in nationalen und internationalen Arbeitsschutzgremien tätig. Seine Leidenschaft gilt dem Reisen; Patagonien und der Amazonas sind die Regionen, die er auch mit seiner Frau immer wieder besucht hat.

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