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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Ich bin den Weg allein gegangen'

Ausgabe 10/2009

Hermann Rappe, damaliger Vorsitzender der IG Chemie-Papier-Keramik, über die Rettung ostdeutscher Chemiestandorte, seine Rolle bei der Treuhand und den guten Draht zu Helmut Kohl

Mit Hermann Rappe sprachen MARGARETE HASEL und KAY MEINERS, Redakteure des Magazins Mitbestimmung./Foto: Karsten Schöne

Kollege Rappe, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Besuch im Chemie-Dreieck um Bitterfeld?
Vor dem Mauerfall war ich zwei oder drei Mal mit offiziellen Delegationen in Mitteldeutschland. Diese Besuche waren organisiert, wir sahen die Ausbildung und den Werkskindergarten, aber nie die Produktionsstätten.

Wie muss man sich diese Reisen vorstellen?
Bei einem Besuch Mitte der 80er Jahre baute sich die Vorsitzende der Ost-Gewerkschaft Chemie, Glas und Keramik, Edith Weber, mit ihren 1,90 Meter hinter dem Schreibtisch auf und verlas eine Erklärung über Frieden und Abrüstung in der Sowjetunion. Edith, hab ich gesagt, entweder du lässt diesen Affenzirkus, oder ich halte dir einen Vortrag über die Komintern, als ihr 1925 Ernst Thälmann aufgestellt habt, damit Hindenburg gewählt wurde.

Wann sahen Sie, was wirklich los war?
In der ersten Januarhälfte 1990 haben wir das Leuna- und das Buna-Werk besucht. Ich war entsetzt. Diese Arbeitsplätze hätten wir in der Bundesrepublik binnen einer Stunde verboten. Die Umweltschäden und Arbeitsbedingungen waren unbeschreiblich.

An welche Bilder erinnern Sie sich?
Die Gesichter der Arbeiter waren schwarz. Ich war in einem Hotel in Halle-Neustadt untergebracht. Da wurden nachmittags um vier Uhr Fackeln an der Straße aufgestellt, weil der Kohlestaub und der Nebel so dicht waren, dass man nichts mehr erkennen konnte.

Trotzdem wollten Sie diese Standorte erhalten?
Meine Auffassung war vom ersten Tag an: Wir verteidigen den Chemie-Standort Ostdeutschland mit Zähnen und Klauen. Wir brauchen diesen Standort, sonst gibt es keine Arbeit.

Waren Sie sich bewusst, wie gigantisch diese Aufgabe ist?
Unmittelbar nach dem Mauerfall hat der Hauptvorstand der IG Chemie der Bundesregierung die Zusammenarbeit angeboten. Wir haben klar Position bezogen für die Privatisierung und gegen die Zwei-Staaten-Theorie, die im DGB-Bundesvorstand und in der Lafontaine-SPD viele Unterstützer hatte.

Auch Sie persönlich ließen sich in die Pflicht nehmen.
Ich war als einziger Sozialdemokrat im Wirtschaftsbeirat, den die letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière berufen hat. So war das Engagement im Verwaltungsrat der Treuhand naheliegend.

Sollten Gewerkschafter von Anfang an im Verwaltungsrat sitzen?
Der DGB-Vorsitzende und der IG-Metall-Vorsitzende hatten dies abgelehnt. Politisch bin ich den Weg allein gegangen, ich war zunächst der einzige Gewerkschafter. Später waren wir zu viert.

Sie hatten einen guten Draht zu Bundeskanzler Kohl. Richtig?
Der Bundeskanzler kam aus Ludwigshafen. Er war Werkstudent in der BASF und Assistent beim Arbeitgeberverband Chemie. So hatten wir gemeinsame Antennen. Er hat mein Angebot zur Zusammenarbeit sofort angenommen. Ohne ihn wäre vieles nicht möglich gewesen.

Und wie patriotisch waren die West-Unternehmen gesinnt?
Ich habe umgehend die Vorstandsvorsitzenden von Bayer, BASF, Hoechst und Veba aufgesucht, die ich alle persönlich kannte. Alle vier haben mir gesagt: Schließen, dichtmachen. Das bisschen Chemie können wir im Westen mitmachen.

Das haben vermutlich auch die West-Betriebsräte gesagt.
Die haben mir vorgeworfen, dass ich mich zu intensiv um die Standorte in der ehemaligen DDR kümmere. Ich habe immer geantwortet: Ich bin jetzt Vorsitzender von Aachen bis Zittau, nicht mehr nur bis Helmstedt.

Hat Sie die ablehnende Haltung der westdeutschen Chemieunternehmen enttäuscht?
Ja. In dieser Zeit war ich fast jede Woche im Kanzleramt. Auch Kohl hat die vier Bosse auf sein Sofa geholt. Alle vier haben ihm dasselbe erklärt. Daraufhin drehte ich noch eine zweite Runde. Diese Diskussionen zogen sich bis Ende 1990 hin. Doch sie blieben bei ihrem Nein zu den Kernbereichen. Wenn die Deutschen nicht wollen, holen wir ausländische Investoren, war dann unsere Devise.

Auch die Ausländer standen nicht gerade Schlange.
Unsere erste Hoffnung war Eni, der italienische Chemie-Konzern. Da platzte uns eine Schmiergeldgeschichte dazwischen. Ich hatte die Fahrkarte nach Mailand schon in der Tasche, da wurde über Nacht der halbe Eni-Vorstand verhaftet. Danach war ich in Wien bei der OMV. Die waren sehr interessiert, hatten aber kein Geld. So kam der französische Elf-Aquitaine-Konzern für die Raffinerie in Leuna ins Spiel. Zweimal habe ich die damalige sozialistische Ministerpräsidentin Édith Cresson besucht und auch den Vorstandsvorsitzenden, der ebenfalls Sozialist war. In Absprache mit dem Kanzleramt war es meine Aufgabe, die beiden über die politische Schiene, als Sozialdemokrat, anzusprechen.

Mit Erfolg, wie wir wissen. Heute steht in Leuna eine neue Raffinerie. Und den Standort Buna soll sogar Ihr persönliches Machtwort gerettet haben. Wie hat man sich das vorzustellen?
Auf einer Betriebsversammlung, die ich mit dem Kanzler in Buna gemacht habe, hatte er versprochen, dass der Standort mit 3000 Arbeitsplätzen erhalten bleibt. Doch dem Treuhand-Chemie-Ausschuss lag ein Gutachten vor, das die Schließung vorsah. Ich habe gedroht, noch in der Nacht nach Bonn zu fahren, wenn der Beschluss gefasst würde, Buna plattzumachen. Natürlich wusste jeder am Tisch, mit wem ich mich beraten wollte. Horst Köhler, damals Staatssekretär im Finanzministerium, hat dann eine Sitzungspause beantragt. Danach wurde der Beschluss für Dow Chemical als Investor gefasst - und Buna war abgesichert.

Woran denken Sie, wenn Sie heute durch dieses Gebiet fahren?
Ich habe viele Dinge in meinem Leben gemacht, ich habe mich mit den Kommunisten in meiner Gewerkschaft und auf DGB-Kongressen gefetzt, die Fusionen mit der Ost-Chemie und der IG Bergbau durchgezogen und das 76er-Mitbestimmungsgesetz wesentlich beeinflusst. Aber die Sache im Osten war mein Haupterfolg.

Für die Sanierung der ostdeutschen Chemieindustrie wurden vergleichsweise wenig privates Geld und viele öffentliche Mittel aufgewendet. Zu viele?
Horst Köhler hat mir mal gesagt: Herr Rappe, Ihre Politik hat uns 49 Milliarden Mark gekostet. Meine Antwort war: Dafür haben wir Tagebau und Umwelt saniert und die Chemie erhalten.

Angesichts von über 8000 Unternehmen und vier Millionen Arbeitsplätzen im Osten - war die Treuhand für diese Transformation einer Staatswirtschaft gerüstet?
Das war ein historisch beispielloser Prozess. Im Vorstand der Treuhand saßen im ersten Jahr Fachleute aus den DDR-Industrieministerien, die bei Günther Mittag, dem SED-Oberwirtschaftsmanager, gelernt hatten. Beschäftigt waren in der Treuhand zu diesem Zeitpunkt 3000 Personen - 2700 kamen aus den DDR-Industrieministerien. Das waren vermutlich alles SED-Leute, aber es gab keine anderen. Aus Westdeutschland kamen ungefähr 300 Mitarbeiter. Das waren entweder junge Kräfte, die was werden wollten, oder ältere, die nichts mehr werden konnten. Der aktive Mittelbau, den wir gebraucht hätten, kam nur ganz selten, die hatten zu viel zu verlieren.

Die Treuhand hatte sich schnell den bösen Ruf als Jobkiller eingehandelt. Gab es im Verwaltungsrat Strategiediskussionen?
Alles musste sehr schnell gehen. Es lagen aber immer Listen mit Betrieben vor, die saniert werden konnten oder wo es interessierte Investoren gab. Daneben gab es Unternehmen, die auf Märkten in Osteuropa aktiv waren, die zeitgleich zusammengebrochen waren. Schon nach acht Wochen wollte kein Mensch mehr einen Film aus Wolfen kaufen, auch nicht die Bulgaren. Und die Russen wollten die Produkte aus Bitterfeld nicht mehr.

Gleichzeitig stieg die Zahl der Arbeitslosen. Hat die Treuhand wirklich genug getan, um ihre Politik sozialverträglich abzufedern?
Wir haben jedenfalls alles versucht. Als von unserer Seite der Vorschlag kam, Transfergesellschaften zu bilden, waren die Arbeitgeber dagegen. Sie wollten eine Bereinigung des Marktes - von der beschäftigungspolitischen Flankierung hielten sie nichts.

 

ZUR PERSON

Hermann Rappe, 80, war von 1982 bis 1995 Vorsitzender der IG Chemie-Papier-Keramik. Viele Jahre lang war er zugleich Vorsitzender der europäischen und der internationalen Chemie-Gewerkschaften. Für die SPD saß er von 1972 bis 1998 im Bundestag. Er war unter anderem stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat des Veba-Konzerns sowie bei Bayer. In den Wendejahren war er Mitglied im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt. "Um etwas voranzubringen, macht es Sinn, auf vielen Feldern aktiv zu sein", kommentiert er heute seine Rolle.

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