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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Das darf nicht aus dem Ruder laufen'

Ausgabe 05/2009

Karin Erhard, Leiterin der Abteilung Tarifrecht/Humanisierung in der Hauptverwaltung der IG BCE, über Öffnungsklauseln und ihre Grenzen

Die Fragen stellte STEFAN SCHEYTT, Journalist in Rottenburg am Neckar/Foto: IG BCE

Frau Erhard, etwa jeder zehnte Betrieb in der Chemie- und der Metallbranche ist in den vergangenen Jahren vom Tarifvertrag abgewichen. Ein Alarmzeichen für Sie?
Natürlich haben wir ein Interesse daran, dass dieser Wert nicht in die Höhe schnellt. Aber ein Alarmzeichen sind zehn Prozent nicht. Umgekehrt: Wenn die Quote sehr viel niedriger läge, müssten wir uns fragen, wozu man den Tarifvertrag überhaupt geöffnet hat. Außerdem sind die Abweichungen teilweise nur befristete Regelungen zur Überbrückung krisenhafter Situationen. Zudem ist das Ganze ein kontrolliertes Verfahren, weil wir bei den Verhandlungen dabei sind und unser Vorstandsbereich jederzeit die rote Flagge hissen und sagen kann: Das geht nicht mehr.

Wann hissen Sie die rote Flagge?
Gerade jetzt haben wir in einem Fall Nachverhandlungen eingefordert, wo ein Betriebsrat unterschrieben hat, dass die Arbeitszeit auf 35 Stunden reduziert wird - das hätte einem Minus beim Gehalt von rund 6,7 Prozent entsprochen; obendrauf wollte der Arbeitgeber aber noch eine Absenkung des Niveaus von zehn Prozent, also über den Daumen zusammen 17 Prozent. Das konnten wir natürlich nicht akzeptieren.

Tarifverträge seien "kein Wunschkonzert", sagten Sie unlängst vor Betriebsräten. War das an die Arbeitnehmer oder die Arbeitgeber gerichtet?
An beide, aber vor allem an die Arbeitgeber. Entscheidend ist immer der Einzelfall, aber selbstverständlich haben wir Grundsätze, auf denen wir bestehen müssen, gerade in der Krise. Es gibt Situationen, in denen ist absehbar, dass es zu keiner Erholung mehr kommen kann, da ist dann nichts mehr zu retten - auch nicht dadurch, dass man Löhne radikal nach unten fährt. Wir können zum Beispiel auch nicht die Kombination von Kurzarbeit und Öffnungsklauseln akzeptieren.

Warum nicht?
Das wäre ein doppelter Einschnitt, denn das reduzierte Entgelt ist Basis für die Berechnung des Kurzarbeitergelds. Die Öffnungsklausel erlaubt die Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden; wenn man damit eine schlechte Auftragslage nicht mehr überbrücken kann, hat sich das Instrument eben erschöpft, und man muss Kurzarbeit fahren.

Erwarten Sie durch die Krise noch mehr Abweichungen vom Tarifvertrag?
Bis Ende 2008 waren sie rückläufig, für dieses Jahr können wir das sicher nicht erwarten. Wir sind zurzeit mit Unternehmen in Verhandlungen über die 35-Stunden-Woche, bei denen man nie erwartet hätte, dass sie das einmal brauchen könnten.

Fürchten Sie Ausfransungen des Tarifteppichs?
Noch mal: Wir haben es im Prinzip mit einem kontrollierten Verfahren zu tun. Die "Ausfransungen" sind ja durch die Rahmenvorgaben exakt eingegrenzt: Wir haben den Entgeltkorridor mit zehn Prozent und den Arbeitszeitkorridor mit plus/minus 2,5 Stunden, außerdem können die Jahresleistung beziehungsweise Einmalzahlungen reduziert oder ausgesetzt werden. Das sind die eindeutigen Grenzen der Abweichungen, und insofern sind es keine "Ausfransungen."

Was ist Ihre größte Sorge?
Wir haben im aktuellen Tarifvertrag der chemischen Industrie einen Stufenplan, der in diesem Frühjahr und Sommer eine Erhöhung der Entgelte auf 3,3 Prozent vorsieht. Es wäre ganz schlecht, wenn die ganze Tarifrunde jetzt durch Entgeltreduzierungen sozusagen weggeschwemmt wird. Das darf nicht aus dem Ruder laufen, die Aussetzung der Tariferhöhung ist für uns kein Thema. Genauso wenig die Aufweichung der Aufstockung des Kurzarbeitergeldes in der chemischen Industrie auf 90 Prozent. Da müssen wir jetzt eine ganz harte Linie fahren, sonst gibt's kein Halten mehr. Wir haben schon mehrere unsittliche Anträge von Verbänden und Unternehmen abgelehnt. Und natürlich besorgt uns, dass Trittbrettfahrer die Situation ausnutzen könnten.

Gibt es Anzeichen dafür?
Problematisch sind vor allem Unternehmen mit vielen Standorten. Da ist es sehr wichtig, dass man ein strukturiertes Verfahren hinkriegt und nicht das schwächste Glied in der Kette zum Maßstab für alle anderen wird. Wenn es Vorgaben des Konzern- oder Gesamtbetriebsrats gibt, an die sich manch einer an einem anderen Standort nicht hält, dann wird's schwierig.

Müssen die Gewerkschaften Angst vor betrieblichen "Standortkoalitionen" haben?
Natürlich haben wir als Gewerkschaft mit unserer politisch-strategischen Ausrichtung eine andere Brille auf als Betriebsräte, die die Interessen ihrer Belegschaften vor Ort im Auge haben. Aber dieses Spannungsverhältnis wird ja genau durch die Öffnungsklauseln im Tarifvertrag aufgefangen. Ich kann nicht bestreiten, dass es Verabredungen gibt, die ohne uns zustande gekommen sind und dass dadurch Begehrlichkeiten geweckt werden, die wir dann nicht mehr einfangen können. Aber dieses Problem haben wir, seit wir uns mit Öffnungen im Tarifvertrag beschäftigen. Das ist eben die ambivalente Situation: Betriebsräte fragen uns einerseits, warum sie diesen Spielraum überhaupt haben und dadurch erst in die Zwickmühle gebracht werden, verhandeln zu müssen; andererseits sind sie oft sehr froh, diesen Spielraum zu haben. Den nutzen sie manchmal auch so aus, dass es uns nicht mehr gefällt. Aber das ist nicht die Regel.

Was raten Sie Betriebsräten in der Krise?
Wichtig ist, dass man sich jetzt nicht überfahren lässt. Klar, der Druck ist teilweise extrem hoch, die Situation in den Betrieben verlangt oft nach sehr schnellen Lösungen. Trotzdem sollte man sich als Betriebsrat Zeit nehmen; man sollte sich die wirtschaftlichen Daten geben lassen, um einschätzen zu können, ob es wirklich gerechtfertigt ist, was der Arbeitgeber fordert; und man sollte sich nicht scheuen, externe Berater hinzuzuziehen. Es gibt viel Kompetenz außerhalb, die gerade für kleine Betriebe wichtig ist, die keinen Wirtschaftsausschuss haben. Wichtig ist schließlich, dass sie jetzt unter dem Druck der Verhältnisse keine längerfristigen Betriebsvereinbarungen abschließen. Jetzt die 35-Stunden-Woche bis zum Jahr 2011 oder 2012 per Vereinbarung festzulegen ist nicht angesagt.

War es im Rückblick gesehen richtig, die Tarifverträge 1994 zu öffnen?
Ja, das war der richtige Weg. Zugegeben, es hat den einen oder anderen Austritt gegeben. Aber insgesamt ist zumindest die chemische Industrie durch eine hohe Tarifbindung der Unternehmen gekennzeichnet. Das ist sicher auch Auswirkung unserer Politik, auf betrieblicher Ebene Gestaltungsmöglichkeiten zuzulassen und gleichzeitig einen Rahmen vorzugeben.

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