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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Interessen gezielter platzieren“

Ausgabe 05/2014

IG-Metall-Vorstand Wolfgang Lemb über das neue IG-Metall-Büro in Brüssel und seine Verärgerung über die Europapolitik der Großen Koalition.

Herr Lemb, Ihr IG-Metall-Kollege Armin Schild hat gesagt, den Gewerkschaften sei es „nicht ausreichend gelungen, Europa als Projekt der sozialen Moderne zu verankern“. Sehen Sie das ähnlich selbstkritisch?

Durchaus, auch deshalb haben wir in der Geschäftsverteilung des neu gewählten Vorstands einen eigenen Bereich für dieses Thema geschaffen. Wir müssen und wollen uns stärker um Europa kümmern, einschließlich der europakritischen Stimmen, die es auch in der IG Metall gibt.

Was hören Sie denn?

Europa als friedensstiftendes Projekt ist für die jüngeren Generationen heute selbstverständlich, ebenso Reisefreiheit und gemeinsame Währung. Deshalb ist mehr Raum für kritische Fragen: Schränkt uns Europa ein? Regiert Brüssel zu stark hinein in unsere Angelegenheiten? Was ist überhaupt der Vorteil von Europa für uns Deutsche?

Was antworten Sie einem Mechatroniker-Azubi bei einem schwäbischen Automobilzulieferer, der Sie fragt, warum ihn Europa kümmern soll? 

Ich würde ihn fragen, ob er weiß, wohin die Produkte, die sein Betrieb herstellt, verkauft werden. Allein in der deutschen Elektroindustrie hängen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze am Export nach Europa. Ich würde ihm also klarzumachen versuchen, dass sein Ausbildungsplatz, sein Betrieb, seine Familie konkret von Europa profitieren. Und ich würde ihm sagen, dass seine Freunde in Paris oder Rom, die er vielleicht im letzten Urlaub kennengelernt hat, arbeitslos sind und dass es ein starkes Zeichen gelebter Solidarität in Europa wäre, diesen Freunden wieder zu einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu verhelfen.

Anfang Juli wird die IG Metall in Brüssel ein eigenes Büro mit drei Mitarbeitern eröffnen. Fassen die Kollegen von IndustriAll und vom Europäischen Gewerkschaftsbund das als Konkurrenz auf? 

Es gab und gibt einige, die befürchten, wir könnten uns aus den europäischen Föderationen langsam zurückziehen. Aber das ist nicht nur nicht unsere Absicht, es wäre auch politisch völlig unklug. Das Büro ist auch keine Konkurrenz, im Gegenteil: Wir wollen die europäischen Föderationsstrukturen durch unsere Präsenz stärken. Wir glauben allerdings, dass wir manche Interessenlagen unserer Branchen mit einem eigenen Büro noch gezielter platzieren können. Im Vorfeld haben wir schon einige Veranstaltungen in Brüssel mit Parlamentariern und Kommissionsvertretern gemacht, die sehr gut ankamen. Mit unserer betrieblichen Kompetenz können wir bei solchen Gelegenheiten sehr anschaulich vermitteln, wie sich Europapolitik in der Praxis auf Arbeitnehmer auswirkt.

Welche Themen werden Sie in Brüssel bearbeiten? 

Natürlich werden uns die europäische Energiepolitik im Allgemeinen und die deutsche Energiewende im Besonderen beschäftigen, da geht es um Themen wie Energieeffizienz oder europäische Netze. Ein wichtiges Thema sind nach wie vor die CO²-Grenzwerte für Neuwagen und die Frage, wie man die beiden Interessenfelder – Umwelt- und Klimapolitik hier, Industriepolitik dort – in Einklang bringen kann. Und dann natürlich das Thema Strukturpolitik: Die Förderung durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) ist bis 2020 geregelt, aber die Frage ist, wie es danach weitergeht, nicht zuletzt weil 2020 auch der deutsche Solidarpakt ausläuft und die gesamte europäische Förderstruktur neu ausgerichtet werden muss.

Es gibt viel Kritik an Europa. was stört Sie aktuell besonders? 

Mich ärgert die GroKo, weil sie ein Weiter-so in der Europapolitik betreibt. Man bringt die Reindustrialisierung Europas aber nicht voran, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern. Konkret heißt das: Die Austeritätspolitik muss beendet werden, man muss eine Bankenstruktur definieren, die auch KMU und Existenzgründern in den Krisenländern die Chance zur Finanzierung eröffnet. Und wir müssen die Arbeitnehmerrechte in Europa auf ein deutlich höheres Niveau bringen mit einem hohen Maß an Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechten. Das wären erlebbare Demokratie und erste Schritte zu einem sozialen Europa.

Die Fragen stellte Stefan Scheytt

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