Quelle: Karsten Schöne
Magazin MitbestimmungEinzelhandel: Innenstadt oder Internet
Die Pandemie hat die Digitalisierung auch in den Läden der Innenstädte beschleunigt. Der Verband fürchtet eine Schließungswelle. Als Opfer des Internets sieht Verdi den Einzelhandel allerdings nicht. Von Fabienne Melzer
Die Öffnungszeiten? Ja, die Öffnungszeiten fallen Thomas Vieweg, dem Betriebsratsvorsitzenden bei Karstadt in Nürnberg, zuerst ein, wenn er daran denkt, was sich in den vergangenen 30 Jahren im Einzelhandel am meisten verändert hat. 1991 begann er seine Ausbildung in dem Kaufhaus an der Lorenzkirche. Damals schlossen die Läden an Samstagen um 14 Uhr, Verkäuferinnen und Verkäufer gingen unter der Woche um 18.30 Uhr nach Hause. Nur donnerstags hatten die Läden länger auf. Seither haben sich die Öffnungszeiten immer wieder zum Nachteil der Beschäftigten geändert.
Eines von vielen Problemen, das Orhan Akman von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beim Einzelhandel sieht. Statt auf Innovationen habe die Branche jahrzehntelang auf alte Rezepte gesetzt: längere Öffnungszeiten, Tarifflucht, Preiskrieg und Ausweitung der Verkaufsfläche. Während die Umsätze zwischen 2000 und 2015 um zehn Prozent wuchsen (inklusive Onlinegeschäft), nahm die Verkaufsfläche um 13,5 Prozent zu. In keinem anderen Land schielten Kundinnen und Kunden so sehr auf den Preis wie in Deutschland. „Das ist gewollt, der Handel hat sie mit einem Preiskrieg dazu erzogen“, sagt Akman. „Wenn dann ein Anbieter wie Amazon auf den Markt tritt, der keine Ladenmieten zahlen muss, drückt das natürlich die Preise.“
Ein Anbieter, der eindeutig zu den Gewinnern der Pandemie zählt. Während die Innenstädte im März und April im Dornröschenschlaf lagen, steigerte Amazon seinen Umsatz um 40 Prozent. Dennoch sieht Akman den stationären Handel nicht als Opfer des Internetriesen: „Wenn die Pandemie für etwas gut war, dann dafür, dass sie offengelegt hat, wie schlecht vor allem der stationäre Einzelhandel aufgestellt ist und welche Fehler Manager seit Jahren gemacht haben.“ Jetzt einfach Geld reinstecken sei keine Lösung. Solange die Branche an der alten Politik festhalte, werde sich der ruinöse Wettbewerb nur täglich beschleunigen.
Mit Krise lebt Betriebsrat Vieweg seit 16 Jahren. Noch vor ein paar Wochen stand Karstadt in Nürnberg auf der Liste der Häuser, die der Konzern schließen wollte. 25 000 Kunden unterschrieben für den Erhalt. Gemeinsam kämpften Betriebsrat, Stadt und Verdi für den Standort. Von der Liste ist er inzwischen runter. Nun braucht er auch eine Zukunft. Der Konzern habe die Verzahnung von Stationär und Online zu lange verschlafen, kritisiert Betriebsrat Vieweg: „Sie wollen zum Marktplatz der Innenstadt werden. Das wird ohne ein gutes Onlineangebot nicht funktionieren.“
Auch Martina Fuchs, Professorin am Wirtschafts- und Sozialgeographischen Institut der Universität zu Köln, sieht weniger im Onlinegeschäft an sich eine Bedrohung für den Einzelhandel. Problematisch sei vielmehr die Wirtschafts- und damit verbundene Marktmacht einzelner Konzerne. „Amazon kann Märkte erobern, bevor sie lukrativ sind“, sagt Fuchs.
Gemeinsam mit Peter Dannenberg, Professor am Geographischen Institut, und den wissenschaftlichen Mitarbeitern Cathrin Wiedemann und Tim Riedler untersucht sie, wie sich der Onlinehandel auf die Beschäftigung auswirkt. Denn während einige Läden in den Innenstädten um ihre Existenz ringen, schaffen Amazon und andere Onlinehändler Arbeitsplätze, vorwiegend in der Logistik und in abgelegenen Regionen. Damit verändert sich auch die Arbeit im Handel.
Wo die Algorithmen übernehmen
Wie, das hat sich Michael Paaries, Betriebsrat bei Ikea in Burgwedel, vor zwei Jahren bei Amazon in der Nähe von Hamburg angeschaut. „Dort geht der Kommissionierer nicht mehr zum Regal, das Regal kommt zu ihm.“ Algorithmen übernehmen die Bestellungen, ordnen, sortieren, verteilen. „Der Kommissionierer steht die ganze Schicht nur noch an seinem abgegrenzten Arbeitsplatz, nimmt Pakete entgegen und legt sie ab“, sagt Paaries.
Mitbestimmung greife bei der Einführung neuer Technik noch immer zu kurz, findet der Betriebsrat. Viele Kollegen glaubten, wenn sie den Datenschutz gesichert und die Beschäftigten vor Leistungs- und Verhaltenskontrollen geschützt hätten, sei alles geregelt. Doch es geht auch um die Qualität von Arbeit. Paaries würde gerne wissen, wie sich Arbeitsbedingungen durch neue Technik verändern – und zwar bevor sie bestellt und eingesetzt wird. Technik entwickelt sich weiter. Damit müsse eine Betriebsvereinbarung Schritt halten und angepasst werden, ebenso Schulungen und das Zusammenspiel der Systeme. Der Ikea-Betriebsrat will daher gemeinsam mit Verdi einen Zukunftstarifvertrag aushandeln. Er soll ihnen ermöglichen, Risiken und Folgen neuer Technik frühzeitig abzuschätzen und Beschäftigung zu sichern. Denn die Pandemie beschleunige die Digitalisierung.
Kaum waren im März alle Läden zu, schnellten bei Ikea die Onlinebestellungen in die Höhe. „Wir hatten gar nicht genug Lagerfläche und stapelten die Bestellungen zeitweise zwischen den Kassen“, erzählt Paaries. Zwar haben die Möbelhäuser längst wieder geöffnet, aber das Virus schwirrt noch immer herum, und viele Menschen trauen sich nicht wieder in den Laden.
Das spüren auch andere Einzelhändler. „Viele sprechen von Corona als digitalem Brandbeschleuniger, vor allem im Textilgeschäft“, sagt Peter Dannenberg vom Kölner Geographischen Institut. Die Krise habe den teilweisen Rückzug des Textilhandels aus den Innenstädten nur beschleunigt, begonnen habe er schon vorher. Auch unterscheide sich das Internetgeschäft von Branche zu Branche. Zwar habe sich der Onlineeinkauf von Lebensmitteln beinahe verdoppelt, allerdings liegt der Anteil am gesamten Lebensmitteleinkauf immer noch unter drei Prozent. „Es stimmt nicht, dass Online der Tod des kleinen Supermarkts ist“, sagt Dannenberg. Da die steigende Nachfrage nach Onlinebestellungen überraschend kam, zögerten einige Supermärkte zunächst, zu investieren, besonders in ländlichen Regionen. Gerade Lebensmittel wollen die meisten Menschen sehen, bevor sie sie einkaufen.
Online verändert Geschäftsmodelle
Bei Kleidung beträgt der Anteil des Onlinehandels bereits mehr als 15 Prozent und verändert Geschäftsmodelle. „Manche Läden nutzen Multi- oder Omnichannel, Kunden können online bestellen und die Ware im Laden abholen“, sagt Tim Riedler vom Kölner Forschungsteam. Das ist erst der Anfang, wie seine Kollegin Cathrin Wiedemann beobachtet: „Per App können Kunden inzwischen einen Avatar von sich hochladen, Kleidung digital anprobieren und sich gleichzeitig von einem Verkäufer beraten lassen.“
75 Prozent gehen noch ins Geschäft
Keine Frage, das Onlinegeschäft wächst. Zurzeit liegt sein Anteil am Umsatz des Einzelhandels bei 13 Prozent. Ohne Lebensmittelhandel sind es 25 Prozent. Man kann diese Zahlen aber auch anders lesen, wie Frank Rehme, einer der Initiatoren der Future City Langenfeld: „75 Prozent kaufen noch immer im Laden.“ Langenfeld hat 60 000 Einwohner, liegt 20 S-Bahn-Minuten zwischen Köln und Düsseldorf. Konkurrenz machte der Innenstadt nicht erst das Internet. Um den Einkauf in Langenfeld attraktiver zu machen, bauten die Initiatoren unter anderem Zutrittshürden ab. Dazu gehörte beispielsweise ein besserer Internetauftritt der Läden. Viele Menschen schauen heute online nach, bevor sie in die Stadt gehen. Doch die Läden setzen nicht nur auf Digitalisierung. Das Angebot spiele ebenso eine wichtige Rolle und der Service, sagt Rehme: „Ware verkauft man immer noch über Personal, nicht über Quadratmeter.“
Doch statt auf Beratung im Laden zu setzen, bauten die Unternehmen Personal ab. Als Thomas Vieweg bei Karstadt in Nürnberg anfing, arbeiteten 1200 Menschen in dem Haus. Heute sind es noch etwas mehr als 200. Sie arbeiten in spezialisierten Teams mit dünner Besetzung, da bleibe der Service irgendwann auf der Strecke. Ein großes Problem sei auch, die richtige Ware zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Menge im Laden zu haben. „Fußballtrikots bekamen wir oft erst, wenn die Hinrunde schon halb gelaufen war“, sagt Vieweg. Er würde sich auch mehr regionale Angebote wie Trachten wünschen.
Vielleicht sind Internet und Innenstadt aber auch keine Konkurrenten. Das Möbelhaus Ikea will den Onlinehandel ausbauen und hat deshalb in Berlin im Sommer Filialen in der Stadt eröffnet. Kleinere Läden, schmaleres Angebot, dafür Beratung nach Termin. Vielleicht gehen die Kunden dort in Zukunft ja tatsächlich mit dem gesuchten Sofa und nicht mit 500 Teelichtern, einem halben Dutzend Bilderrahmen, Topfuntersetzern und neuen Sektgläsern nach Hause.