Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungGewerkschaften: In der Mitte der tunesischen Gesellschaft
Da funktioniert ein demokratischer Regierungswechsel ebenso wie der Widerstand gegen islamistische Zumutungen: Es ist die tunesische Zivilgesellschaft und die starke Gewerkschaft UGTT, die Tunesien so anders macht als Ägypten, Syrien. Von Reiner Wandler
„Tunesien, die erste Demokratie der arabischen Welt!“ hat jemand an der Avenue Bourguiba auf einen Bauzaun gesprüht – dort, wo am 14. Januar 2011 der Arabische Frühling mit dem Sturz des Diktators Zine el Abidine Ben Ali den ersten Erfolg feierte. Jetzt, knapp vier Jahre nach Ende der Diktatur, befindet sich das nordafrikanische Land im Dauerwahlkampf. Mit einer neuen Verfassung in der Hand wählten die Tunesier Ende Oktober ihr Parlament und wenige Wochen später in zwei Wahlgängen den Präsidenten. Die in der Übergangszeit regierenden Islamisten von Ennahda (Erneuerung) wurden von der säkularen Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) abgelöst. Ruhig und ohne Proteste, als wäre Tunesien schon immer eine Demokratie. Dabei war der Übergang von der Diktatur zur Demokratie kein einfacher Weg. Dass er glückte, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Zivilgesellschaft und deren wichtigster Kraft, dem tunesischen Gewerkschaftsdachverband Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT).
Ursprünglich sollte die neue Verfassung von der am 23. Oktober 2011 gewählten verfassungsgebenden Versammlung in nur einem Jahr ausgearbeitet werden. Doch die Debatten zogen sich in die Länge. Zwei Morde an linken Oppositionspolitikern 2013, von denen einer auch der UGTT angehörte, brachten das Land an den Rand des Abgrundes. Hunderttausende gingen gegen die Regierung der islamistischen Ennahda auf die Straße. Das Innenministerium würde zu wenig gegen radikale, gewalttätige Salafisten unternehmen, erklärten die Protestierenden. Die Presse deckte gar Verbindungen von Ennahda-Abgeordneten zu salafistischen Gruppen auf. Die Proteste drohten, den Übergang zur Demokratie vollständig zu blockieren.
Es war die Gewerkschaft UGTT, die ihren Einfluss in die Waagschale warf. Zusammen mit dem Anwaltsverein, der Menschenrechtsvereinigung sowie dem Unternehmerverband UTICA erreichte die Gewerkschaft, dass sich alle wichtigen Parteien zu einem nationalen Dialog zusammensetzten. Die Islamisten zogen sich aus der Regierung zurück. Ein Technokratenkabinett wurde im Dezember 2013 vereidigt. Nur wenige Wochen später konnte die Verfassung verabschiedet, der Wahlprozess in Angriff genommen werden.
POLITISCHE KONTROLLINSTANZ
„Die UGTT war und ist so etwas wie eine sozioökonomische, aber auch eine politische Kontrollinstanz“, erklärt Mustapha Ben Ahmed, bis vor Kurzem für internationale Kontakte im Gewerkschaftsvorstand zuständig. „Unsere Gewerkschaft ist einer der beiden Pfeiler des unabhängigen Tunesiens“, fügt der 60-Jährige hinzu. Der ehemalige Arbeiter einer staatlichen Tabakfabrik widmet sich seit wenigen Monaten der Parteipolitik. Auf der Liste der im Oktober siegreichen, säkularen Nidaa Tounes wurde er als Abgeordneter für die Hauptstadt Tunis ins Parlament gewählt. Doch die Gewerkschaft hat er nicht ganz verlassen. Er leitet bis heute verschiedene Bildungsprojekte der UGTT. Wenn Ben Ahmed von den „beiden Pfeilern“ redet, meint er neben der Gewerkschaft die politische Unabhängigkeitsbewegung rund um den ersten Präsidenten des freien Tunesiens, Habib Bourguiba, die schließlich zur Einheitspartei RCD wurde. Ein Blick ins Stadtbild von Tunis reicht, um die Unterschiede der beiden Organisationen zu verstehen: Während der Parteizentrale der RCD ein massiges Hochhaus im Stadtzentrum gehörte, befindet sich die Zentrale der UGTT bis heute in einem kolonialen Gebäude unweit der arabischen Altstadt, der Medina. Die RCD wurde nach dem Sturz des Diktators und Parteiführers Zine el Abidine Ben Ali aufgelöst.
„Die staatliche Macht versuchte, die Gewerkschaft immer wieder zu kontrollieren“, berichtet Ben Ahmed, der seit 1976 Mitglied der UGTT ist und sich immer als oppositionell zum Regime verstanden hat. Oben an der Spitze gelang dies der Regierung teilweise, doch im Mittelbau und an der Basis bot die UGTT die ganzen Jahre über der Opposition jedweder Couleur Zuflucht. „Es ist eine ganz besondere Organisation“, sagt Ben Ahmed über die UGTT.
Die UGTT war 1946 – zehn Jahre vor der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich – von einer Gruppe rund um den 1952 vermutlich von Geheimdiensten ermordeten Farhat Hached gegründet worden. Heute gehören ihr eine Dreiviertelmillion Mitglieder an – bei elf Millionen Einwohnern. Die UGTT genießt einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt, auf dem Land ebenso wie in den Städten, unter Industriearbeitern ebenso wie bei Angestellten in der Verwaltung oder im Bildungs- und Gesundheitswesen.
MACHTPROBEN
Nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 stellte die Gewerkschaft zwei Minister. Doch mit dem harmonischen Zusammenleben von Gewerkschaft und Politik war es bald vorbei. Immer wieder kam es mit dem neuen Regime zu regelrechten Machtproben. Die heftigste im Jahre 1978. Mit einem Generalstreik verteidigte die UGTT erfolgreich ihre Unabhängigkeit von Staat und Partei. In den 1980ern, bei den Aufständen gegen die Brotpreiserhöhung, war die UGTT wieder vorn mit dabei, ebenso bei den Protesten in der Bergbauregion Gafsa im Jahr 2008.
„Während der Diktatur von Ben Ali gab es außer der Gewerkschaft so gut wie nichts, um gegen die Unterdrückung zu kämpfen“, sagt Nejiba Bakhtri. Die 65-jährige Lehrerin, die jahrelang der Bildungsgewerkschaft innerhalb der UGTT in Tunis vorstand, ist mittlerweile pensioniert. Den Kontakt zur Gewerkschaft hält sie dennoch weiterhin. „Für uns Frauen war und ist es ein Freiraum gegen die religiösen Kräfte, die unsere Rechte einschränken wollen“, sagt Bakhtri, die zur ersten Generation gehört, die im unabhängigen Tunesien aufwuchs. „Das Gewerkschaftshaus war ständig von der Polizei umstellt, aber wir waren dennoch immer dort“, erinnert sie sich an die dunklen Jahre der Diktatur.
Auch Mitte Dezember 2010, als nach der Selbstverbrennung eines fliegenden Händlers in Sidi Bouzid in Zentraltunesien die Proteste gegen den Diktator Ben Ali begannen, war die UGTT wieder mit dabei. Zuerst stellten sich örtliche, später dann auch regionale Gewerkschaftsführungen hinter die von Jugendlichen getragene Bewegung. Zum Schluss verweigerte selbst der nationale UGTT-Vorstand in Tunis Ben Ali die Gefolgschaft. Das Konzept des rotierenden Generalstreiks – im Wechsel von Region zu Region – wurde ins Leben gerufen. Ein Ausstand am 12. Januar in der Industriemetropole Sfax und dann zwei Tage später in der Hauptstadt Tunis versetzten der Diktatur den letzten Stoß. Ben Ali floh am Abend des 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien.
Dass es ausgerechnet in Zentraltunesien zu einer sozialen Explosion gekommen war, überraschte in der UGTT-Führung nur wenige. Es bestätigte vielmehr eine Untersuchung, die der Leiter der Studienabteilung der UGTT, Mongi Amami, selbst in Sidi Bouzid aufgewachsen, im Sommer vor dem Aufstand vorgelegt hatte. „Es ist die ärmste Region des Landes. Die Lebensbedingungen waren einfach unerträglich“, erklärte der heute 63-jährige ehemalige Chemiearbeiter wenige Tage nach dem Sturz Ben Alis.
„Die UGTT war immer hin- und hergerissen zwischen Macht und Gegenmacht“, analysierte Amami, was für ihn das Besondere an der UGTT ausmacht. Innerhalb des Gewerkschaftsverbandes habe es immer zwei Strömungen gegeben – „diejenigen, die in Opposition zum Regime stehen, und diejenigen, die Staat und Politik unterstützen. Doch in den wichtigen Momenten der Geschichte hat sich die Gewerkschaft immer für die Opposition, für den Wandel entschieden.“
Amami sprach in einem Interview 2011 viel von Verantwortung, aber auch von den „Menschen auf der Straße, mit denen wir im engen Kontakt bleiben werden“. Die UGTT schlug das Angebot, drei Minister in der Übergangsregierung zu stellen, aus und versuchte sich stattdessen erfolgreich an der von Amami beschriebenen Doppelrolle. Zum einen führte die UGTT Tausende von Protestaktionen und Arbeitskämpfen an, zum andern nahm sie während des Übergangs hin zur Demokratie so etwas wie eine Wächterrolle ein. Und stellte sich damit einmal mehr ins Zentrum der Zivilgesellschaft.
Nach dem Sturz Ben Alis 2011 beteiligte sich die Gewerkschaft an der Bewegung, die gegen Minister aus den Reihen der diskreditierten Staatspartei RCD in der Übergangsregierung mobilisierten. Und den Platz vor dem Regierungspalast besetzten. Unliebsame Gouverneure wurden mit regionalen Generalstreiks zum Rücktritt gezwungen, Grundrechte wie zum Beispiel die der Frau, die die Islamisten gerne aus der Verfassung gestrichen hätten, wurden mit Demonstrationen verteidigt.
Gewalttätige Gruppierungen aus dem islamistischen Lager, die sich die Verteidigung der Revolution auf die Fahne geschrieben hatten und unter diesem Vorwand alles „Alte“ – darunter auch UGTT-Lokale und Funktionäre – angriffen, wurden auf Druck der Gewerkschaft verboten und aufgelöst. Anders als in Ägypten, Syrien oder Libyen konnte die Gewalt weitgehend eingedämmt werden. Es ist die gut artikulierte tunesische Zivilgesellschaft und vor allem die starke Gewerkschaft UGTT, die Tunesien so anders macht als Ägypten oder Syrien.
DGB-CHEF ZU BESUCH IN TUNIS
Für den DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann ist die UGTT „ein Star unter den arabischen Gewerkschaften“. Deshalb nahm er die Einladung seines tunesischen Amtskollegen Houcine Abassi gerne an, im vergangenen August für drei Tage nach Tunis zu kommen. „In Tunesien begann im Jahre 2011 mit dem Sturz des Regimes von Ben Ali ein Prozess, mit dem sich die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel und auf Demokratisierung in der arabischen Welt, vor allem in Ägypten, verband. Nach der Rückkehr des repressiven und von den Militärs kontrollierten alten Regimes in Ägypten und nach dem Fiasko in Libyen gibt es derzeit nur noch in Tunesien eine Chance auf Demokratisierung und Wandel“, erklärt Hoffmann. Er hebt die Rolle der UGTT beim Übergang zur Demokratie besonders hervor. Die tunesische Gewerkschaft habe sich „jeder Parteinahme“ enthalten und dadurch „erfolgreich zwischen der islamischen Ennahda und den laizistischen Parteien vermittelt“, lobt der DGB-Chef die Arbeit der UGTT in den vergangenen drei Jahren.
Diese herausragende Rolle der tunesischen Kollegen bereite allerdings auch Kopfzerbrechen, so Hoffmann. „Sie erschwert die Kooperation zwischen den Gewerkschaften Nordafrikas. Die algerische UGTA, deren Führung vom System des Präsidenten Bouteflika kontrolliert wird, fürchtet die ‚Ansteckung mit dem tunesischen Virus‘. Und die marokkanischen Gewerkschaften fürchten eine Hegemonie der UGTT, auch aufgrund des erheblichen internationalen Ansehens“, erklärt Hoffmann und hofft auf „viel diplomatisches Geschick auf allen Seiten“.
Der DGB-Vorsitzende will die Kontakte nach Tunesien auf jeden Fall weiter pflegen und hat deshalb die UGTT-Vertreter nach Deutschland eingeladen. „Der DGB kann helfen und seine eigenen Erfahrungen zur Verfügung stellen, ohne dabei den Ehrgeiz zu haben, den tunesischen Weg durch einen ‚deutschen Weg für Tunesien‘ zu ersetzen“, erklärt Hoffmann. Wichtige Baustellen seien „der Reformprozess, berufliche Bildung, industrielle Beziehungen und Sozialdialog“.