Quelle: ddp
Magazin MitbestimmungGrossbritannien: In der Abwärtsspirale
Beschleunigter Niedergang der Industrie, Personalmangel und Angriffe aufs Streikrecht – Rosa Crawford vom Gewerkschaftsdachverband TUC zieht eine Bilanz des Brexits. Das Gespräch führte Andreas Molitor
Boris Johnson versprach den Briten bei seiner Brexitkampagne wirtschaftlich rosige Zeiten. Wie beurteilen die Gewerkschaften die Situation gut drei Jahre nach dem Austritt des Landes aus der EU?
Die Regierung ist bisher absolut nicht in der Lage, die Auswirkungen des von ihr verantworteten Brexits auch nur annäherungsweise in positivem Licht darzustellen. Das würde ihr auch niemand abnehmen. Jeder, der hier lebt, bekommt die negativen Folgen des Austritts zu spüren, ganz konkret im täglichen Leben. Man wartet noch länger als früher auf eine Behandlung im Krankenhaus, es kommt zu Versorgungsengpässen und Lieferverzögerungen, bei Reisen ins Ausland steht man in langen Schlangen an, und der Niedergang der Industrie hat sich beschleunigt. Der Personalmangel vor allem in der Pflege und in der Landwirtschaft hat sich weiter verschärft, weil kaum noch Beschäftigte aus EU-Ländern nach Großbritannien kommen können.
Ist die Haltung zum Brexit unter den Beschäftigten dadurch gekippt?
Die Situation ist sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite sehen und spüren die Leute ganz klar, dass der Brexit bisher nur Nachteile gebracht hat. Trotzdem habe ich große Zweifel, ob ein neues Referendum jetzt eine andere Mehrheit ergeben würde. Viele sind desillusioniert, aber aus dieser Enttäuschung erwächst keine Bewegung für einen Wiedereintritt in die EU.
Wie ist das zu erklären?
Widersprüchliche Erfahrungen, Einstellungen und Handlungen befinden sich bei den Menschen sozusagen im inneren Widerstreit. Sie sehen zwar den Schaden, den der Brexit anrichtet, aber es fällt ihnen trotzdem schwer, eine Position zu verlassen, in die sie so viele Emotionen investiert haben. Die Brexitdebatte war ja nie eine über Fakten, sondern primär über Gefühle. Man hat den Menschen mit Erfolg eingeredet, dass nicht die neoliberale Politik der letzten vier Jahrzehnte an ihrer misslichen Lage Schuld ist, sondern die Mitgliedschaft in der EU.
Warum schenken denn viele Menschen dem Narrativ der Brexit-Befürworter immer noch Glauben?
Die Regierung versucht, sich nach Kräften herauszureden. In der Coronazeit hat sie die Verantwortung auf die Pandemie geschoben, das hat eine Zeit lang funktioniert. Das Problem ist, dass die Beschäftigten vor allem im öffentlichen Sektor und in den privaten Dienstleistungen schon vor dem Brexit zu immer schlechteren Bedingungen und niedrigeren Löhnen arbeiten mussten. Ausbeutung von Pflegekräften, von Arbeitern in der Landwirtschaft und Reinigungskräften war schon an der Tagesordnung, als das Land noch in der EU war. Der Brexit hat die Missstände weiter verschärft. Das verzerrt aber die Wahrnehmung vieler Menschen. Es ist sehr schwer, den Leuten zu vermitteln, dass ihre Lage sich durch den Brexit noch einmal verschlechtert hat. Sie hatten sich bereits an die Abwärtsspirale gewöhnt.
Hat der Brexit das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite verändert?
Auf jeden Fall. Die Regierung hat keinen Zweifel gelassen, auf wessen Seite sie definitiv nicht steht: auf der Seite der Beschäftigten. Die Streiks im Gesundheits- und Bildungswesen gegen schlechte Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne hat sie umgehend zu einem fundamentalen Angriff per Gesetz auf das Streikrecht im öffentlichen Sektor genutzt. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz bestimmt, dass auch während eines Arbeitskampfes eine Grundversorgung an Dienstleistungen gewährleistet sein muss, etwa im Gesundheitswesen, bei der Feuerwehr oder bei der Bahn. Streikwillige
können unter Androhung von Kündigung zur Arbeit gezwungen werden.
Was hat das mit dem Brexit zu tun?
Der Zusammenhang ist doch klar: Nach dem Brexit braucht sich unsere Regierung keine Sorgen mehr zu machen, wegen eines solch klaren Verstoßes gegen geltendes EU-Recht vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt zu werden.
Erschwert der Brexit die Kooperation zwischen den britischen Gewerkschaften und den Gewerkschaften in den EU-Ländern?
Im Gegenteil, die Kooperation ist wichtiger als je zuvor. Sie ist für uns sozusagen die Nabelschnur zur EU. Wir stehen nach wie vor in gutem und regelmäßigem Austausch, auch zum DGB. Außerdem entsendet die TUC Vertreter in ein Kontrollgremium, das die Einhaltung der zwischen der EU und Großbritannien getroffenen Handelsvereinbarungen überwacht – dazu gehören auch die Rechte von Beschäftigten. Wir pochen mit Nachdruck darauf, dass unsere Regierung sich an das Vertragswerk hält. Über den Angriff unserer Regierung auf das Streikrecht hat sich dieses Kontrollgremium bereits sehr besorgt gezeigt.
Hat sich die Perspektive auf Europa verengt?
Das ist leider so. In der Politik und auch in den Medien haben viele dieses unsägliche Narrativ der britischen Hybris übernommen, dass unser Land im Alleingang alles besser schafft. Das hat die politische Kultur vergiftet. Und selbst jetzt, wo jeder die Misere sieht, ist es unglaublich schwer, dieser Propagandaflut etwas entgegenzusetzen.
Wenn der Weg zurück in die EU unrealistisch ist, welchen Ausweg sehen Sie?
Wir sehen – bei einem Regierungswechsel in Großbritannien – große Chancen für eine engere wirtschaftliche und soziale Verbindung unseres Landes mit der EU. Labour hat angekündigt, dass sie eine solche Strategie verfolgen würde, mit starkem Fokus auf dem Schutz der Rechte von Beschäftigten. Vielleicht könnte eine neue britische Regierung in einer solchen Partnerschaft auch ihr Gewicht geltend machen, damit die Arbeitnehmerrechte in Europa wieder stärker hochgehalten werden – gegen die starken neoliberalen Kräfte in der Union. Aber denken wir doch mal über Europa hinaus an das alptraumhafte Szenario mit Donald Trump, der wieder ins Weiße Haus einzieht: Da wird Großbritannien starke Verbündete brauchen – und die EU genauso.
Die Kooperation zwischen den Gewerkschaften ist für uns die Nabelschnur zur EU.“