Aufsichtsratsporträt: Immer im Gespräch bleiben
Als Aufsichtsrat der Deutschen Telekom setzt Odysseus Chatzidis auf den Dialog. Von Fabienne Melzer
In dem Heimatörtchen von Odysseus Chatzidis nahe Stuttgart gab es in seiner Kindheit vor dem Haus zwei Telefonzellen. Abends standen die Gastarbeiter – wie die Generation seiner Eltern hierzulande genannt wurde – Schlange vor den Häuschen. Jeder wollte mit den Verwandten in der alten Heimat telefonieren: „Wie geht es der Oma? Sind alle gesund?“ Während Fragen und Antworten durch den Hörer rauschten, klackerten die Münzen im Apparat. In seiner Erinnerung wirkt die Szene bis heute nach. Sie zeige ihm, dass Kommunikation ein urmenschliches Bedürfnis ist. „Daher will ich Menschen möglichst einfach miteinander ins Gespräch bringen", sagt der Aufsichtsrat der Deutschen Telekom.
Auch deshalb studierte er nach dem Abitur in Stuttgart Elektrotechnik mit zwei Schwerpunkten: Telekommunikation und IT. Nach kurzen Stationen bei kleineren IT-Unternehmen kam er 1996 zur Deutschen Telekom in der Nähe von Stuttgart. Vier Jahre später wurde er zum ersten Mal in den örtlichen Betriebsrat und gleich zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. „Der Vorsitzende verabschiedete sich kurz darauf in den Urlaub, und ich musste sofort Probleme lösen, ohne die geringste Ahnung von Betriebsverfassung oder anderen rechtlichen Fragen“, erinnert sich Chatzidis.
Seit 2018 sitzt er für Verdi auch im Aufsichtsrat der Deutschen Telekom. Er schätzt das Netzwerk seiner Gewerkschaft und besucht die Aufsichtsratsseminare der Hans-Böckler-Stiftung. Doch der Betriebsrat Chatzidis war zunächst kein Verdi-Mitglied. Anders als seine Eltern, die in den 1960er Jahren aus Thessaloniki nach Stuttgart gekommen waren. „Für sie war einfach klar: Bist du Arbeiter, bist du in der Gewerkschaft“, erzählt Chatzidis. Erst bei seiner Arbeit als Betriebsrat merkte der gebürtige Stuttgarter, dass er ohne Gewerkschaft nicht weit kommt. „Für mich war die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft keine Selbstverständlichkeit, aber eine bewusste Entscheidung“, sagt Chatzidis. Er nennt sich selbst einen schwäbischen Griechen, eine Anspielung auf Cem Özdemir, der sich lange einen anatolischen Schwaben genannt hat. Dessen Werdegang findet Odysseus Chatzidis bewundernswert. „Aber meine Partei ist das nicht“, sagt der Schwabe in nur leicht eingefärbtem Hochdeutsch. „Ich bin im Herzen Sozialdemokrat.“
Noch mehr schlägt sein Herz für die Europäische Union. Den EU-Binnenmarkt hält er für eine der größten Errungenschaften. Die EU hat die Grenzen in Europa eingerissen und die Arbeitnehmervertretung auf europäischer Ebene geschaffen. „Wenn wir als Europäischer Betriebsrat mit einem abgestimmten Papier an das Management herantreten können, gibt uns das eine enorme Stärke“, sagt Chatzidis. Seit 2008 gehört er dem europäischen Gremium an und ist seit 2012 Vorsitzender. Fast noch mehr schätzt er die Gespräche am Rande – auch oder gerade weil sie schwierig sein können. „Wir sprechen mit den polnischen Kollegen über den Green Deal der EU und mit den Ungarn über Migration.“ Zuhören und verstehen, ohne unkritisch zu sein, im Gespräch bleiben, gerade wenn man Meinungen nicht teilt, hält der Europäer in der heutigen Zeit für besonders wichtig.
Als Aufsichtsrat beschäftigt ihn unter anderem Künstliche Intelligenz und ihre Auswirkung auf die Arbeit bei der Telekom. Als Gewerkschafter geht es für ihn darum, wie die Beschäftigten auf dem neuesten Stand bleiben und wie sie vor Überwachung geschützt werden können. Genauso wichtig ist ihm, dass sein Unternehmen technologisch vorne dabei ist. Schließlich schätzt er den Fortschritt in seiner Branche. Seine Mutter muss heute nicht mehr vor einer Telefonzelle Schlange stehen. Mit ihrer Enkelin telefoniert sie per Video auf dem Tablet.