Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungCorporate Governance: Im Kern unangetastet
Die Shareholder-Value-Ökonomie konnte in Deutschland nicht bruchlos durchgesetzt werden. Das haben die Krise und ihre Bewältigung gezeigt. Zu Besuch bei fünf Wissenschaftlern. Von Stefan Scheytt
Der gerahmte Witz in Reinhard Bahnmüllers Büro ist uralt – aber brandaktuell. Er zeigt einen klobigen Apple-Computer aus den 1980er Jahren, an den eine Reihe Bücher gelehnt sind, unter anderem „Das Kapital“ von Karl Marx. Darunter steht: „Es wird Zeit, dass mal ein Kapitalist die Welt verändert.“
Hat also die angelsächsische Shareholder-Value-Ökonomie der vergangenen Jahre die Wirtschaftswelt verändert, gar umgepflügt? Und hat sie speziell die deutsche Mitbestimmung grundlegend infrage gestellt und beschädigt? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Michael Faust vom Soziologischen Forschungsinstitut SOFI an der Universität Göttingen sowie Reinhard Bahnmüller und Christiane Fisecker vom Tübinger Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur (F.A.T.K.). Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung haben sie Betriebs- und Aufsichtsräte, Fondsmanager, Analysten, Personaler und Vorstände deutscher Großunternehmen interviewt und die Ergebnisse in dem kürzlich erschienenen Buch „Das kapitalmarktorientierte Unternehmen“ niedergeschrieben. Darin wenden sich die drei Wissenschaftler entschieden gegen die pauschale, in der Gesellschaft, in den Medien und in der Wissenschaft jedoch weit verbreitete These, der Finanzmarktkapitalismus habe den Stakeholder-Ansatz weitgehend geschliffen: Es seien „allzu steile, dramatisierende Wirkungshypothesen“ im Raum, denen es mitunter schlicht an der empirischen Überprüfung fehle. „Thesen über den kausalen Zusammenhang zwischen Kapitalmarktorientierung und der konkreten Unternehmensführung sind vielleicht politisch korrekt und geeignet, die eigenen Truppen hinter sich zu scharen. Aber wissenschaftlich erhärtet sind sie nicht“, sagt Bahnmüller.
VORSTÄNDE ALS MARIONETTEN?
Es ist nicht so, dass Reinhard Bahnmüller die aufreibenden, mitunter auch erfolglosen Kämpfe von Betriebs- und Aufsichtsräten leugnet, wenn börsennotierte Unternehmen einzelne Firmenteile radikal umstrukturieren und auf Rendite trimmen und ertragsschwächere Teile verkaufen oder schließen. „Selbstverständlich haben solche ‚Umbaumaßnahmen‘ ihre Spuren bei den Belegschaften und ihren Vertretern hinterlassen“, konzediert der Wissenschaftler. Aber er mahnt: „Man muss schon sehr genau hinschauen.“ Dann sehe man zum Beispiel, dass der Kapitalmarkt kein homogenes Gebilde sei: Da gibt es die eher langfristig orientierten Pensionsfonds und die auf schnelle, hohe Rendite fixierten Hedgefonds, da gibt es die Ankeraktionäre, die jahrzehntelang starken Einfluss aufs Management ausüben, und jene Teilhaber, die still und schnell den Exit wählen, wenn das Management nicht die erwarteten Ergebnisse liefert. „Vorstände sind nicht automatisch die Marionetten des Kapitalmarkts, die verfolgen durchaus ihre eigene Logik“, meint Bahnmüller. Außerdem sei der Sektor der börsennotierten Unternehmen in Deutschland relativ klein geblieben, und selbst innerhalb dieses Sektors gebe es immer noch eine relevante Zahl von Unternehmen mit stabilen Ankerinvestoren, die oftmals Familieneigentümer sind; nicht zu reden von den vielen nicht börsennotierten, aber großen Firmen in Familienbesitz oder Stiftungsunternehmen. „All diese Unternehmen weisen nicht die Eigentümerstruktur auf, die man als typisch für den Finanzmarktkapitalismus bezeichnen würde.“
Auch müsse man zur Kenntnis nehmen, argumentiert SOFI-Wissenschaftler Michael Faust, dass viele der einschneidenden Veränderungen wie Lean Production, Outsourcing oder die Bildung unternehmensinterner Profitcenter bereits Anfang der 90er Jahre einsetzten – im Gefolge von Liberalisierung, Europäisierung und Globalisierung. „Das waren Strategien zur Kostensenkung in einem zunehmenden Wettbewerb, die oft vom Management und von Unternehmensberatern ausgingen und eben nicht von externen Kapitalmarktakteuren.“
DAS UMFRAGE-EIGENTOR
In der komplizierten und oft widersprüchlichen Welt, wie Bahnmüller und Faust sie auch in Bezug auf die Mitbestimmung beschreiben, gab und gibt es Figuren wie den ehemaligen DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp, die Galionsfigur des Shareholder-Value in Deutschland, der gleichwohl äußerte, er sei stets „gut gefahren“ mit der Mitbestimmung; oder Peter Löscher, Chef des langjährigen DAX-Spitzenreiters Siemens, der in der Mitbestimmung einen „Standortvorteil“ sieht und der sich dem Wunsch von Investoren widersetzte, den Mischkonzern Siemens durch den Verkauf der Medizintechnik-Sparte kapitalmarkttauglicher aufzustellen. Ebenso der börsennotierte Chemiegigant BASF, der, so Jürgen Kädtler, Direktor am SOFI in Göttingen, gegen die Ansprüche des Kapitalmarkts am Konzept der hochintegrierten Verbundchemie festhielt und heute als „Leuchtturm“ der Branche gilt. Interessant wäre auch, einmal zu untersuchen, wie sich kapitalmarktnahe und -ferne Firmen beim Einsatz von Leiharbeitern, bei Niedriglöhnen und Arbeitsbedingungen unterscheiden, regt Michael Faust an und meint: „Es würde mich wenig überraschen, wenn das Ergebnis wäre, dass kapitalmarktferne Firmen, also die Lidls und Schleckers dieser Welt, etablierte Beschäftigungsstandards stärker unterminieren als kapitalmarktnahe Unternehmen.“ BMW zum Beispiel, das wegen der steinreichen Familie Quandt als Ankeraktionär nicht als ausgeprägt kapitalmarktgetrieben gilt, setzte bis vor Kurzem so stark auf Leiharbeiter wie kein anderer deutscher Autobauer.
Ein weiteres Beispiel gegen die These vom umfassenden Einzug angelsächsischen Kapitalmarktdenkens nennt Martin Höpner vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in seinem aktuellen Aufsatz „Opportunismus oder Ungewissheit? Die Arbeitgeberhaltungen zum mitbestimmten Aufsichtsrat“. Darin untersucht der Politologe eine Unternehmensbefragung u.a. des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vom Sommer 2006 – in einer Zeit also, als die Orientierung am Shareholder-Value noch weithin ungetrübt war und die Arbeitgeberverbände noch guter Hoffnung waren, in der von Kanzler Schröder eingesetzten Biedenkopf-Kommission die Mitbestimmung zu ihren Gunsten zurückfahren zu können – was letztlich am Widerstand der beteiligten Gewerkschafter, aber auch der wissenschaftlichen Experten scheiterte.
Die damalige Umfrage, so Höpner, erwies sich als „klassisches Eigentor“, nicht nur, weil nur acht Prozent der angeschriebenen Firmen überhaupt antworteten: Die Chance, hier anonym ihre Abneigung gegen die Mitbestimmung zu artikulieren, nutzten nur 38 Prozent, während 34 Prozent der Unternehmensmitbestimmung ein positives Urteil ausstellten und sich 28 Prozent der Antwort enthielten, obwohl der Fragebogen diese Antwortmöglichkeit gar nicht vorsah. Und 17 Antworten von Firmen, die der Montanmitbestimmung unterliegen, sortierten die Initiatoren kurzerhand aus, wohl um das Gesamturteil nicht noch schlimmer aussehen zu lassen. Zwar unterschied die Studie nicht zwischen kapitalmarktnahen und -fernen Unternehmen, doch MPI-Politikwissenschaftler Höpner bilanziert mit gutem Grund: „Ein klassisches Eigentor. Die erwartete fundamentale Gegnerschaft zur Unternehmensmitbestimmung konnte nicht nachgewiesen werden – weil sie nicht existierte. Viele Manager wissen – und äußern das auch mehr oder weniger offen –, was sie an der Mitbestimmung haben. Die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten sitzen keineswegs geächtet am Katzentisch.“ Empirisch sei überhaupt nicht belegt, dass kapitalmarktorientierte Unternehmen häufiger oder vehementer gegen die Mitbestimmung zu Felde zögen als kapitalmarktferne Firmen. Ergänzt Michael Faust: „Der Angriff 2006 auf die Institution der Mitbestimmung kam aus dem Herzen des deutschen Unternehmertums und vor allem seiner Verbände – und nicht in erster Linie von US-Investmentfonds.“
KÖNIG OHNE LAND
All das bedeutet jedoch nicht, den teilweise enormen Druck durch den Shareholder-Value auf Belegschaften und ihre Vertreter zu leugnen. „Es kam eine Serie sehr konfliktträchtiger Themen auf, wie der Kostendruck oder die Fokussierung aufs Kerngeschäft, die die Arbeitnehmervertreter zunehmend in eine Erpressungskonstellation brachten“, sagt Reinhard Bahnmüller. „Für Konzessionen wurde immer weniger bezahlt, oft auch gar nichts.“ Bahnmüller spricht von einem „Kulturbruch“ in vielen Unternehmen: Wo früher oft eine Mitbestimmungspraxis gepflegt wurde, die auch über das gesetzlich Vorgegebene hinausging und durch kurze Drähte und informelle Regelungen geprägt war, herrsche heute vielmals wieder ein äußerst nüchterner, ja ernüchternder Umgang.
Als einen dieser Kulturbrüche haben die SOFI-Wissenschaftler Michael Faust und Jürgen Kädtler den schwerwiegenden Bedeutungsverlust des Personalvorstands zugunsten der Bereichsvorstände ausgemacht. In vielen Unternehmen sei der Personalchef heute ein „König ohne Land“, der nur noch die Fachaufsicht ausübe, aber kein Durchgriffsrecht mehr besitze. Jürgen Kädtler kennt „verzweifelte Versuche“ von Personalern, sich durch die Verwendung von Begriffen aus der Welt des Shareholder-Value wenigstens noch ein wenig Gehör zu verschaffen – etwa wenn sie den Wert von Weiterbildungsmaßnahmen mit Wertschöpfungsbäumen und anderen „akrobatischen Übungen“ vor den anderen Vorständen zu rechtfertigen versuchen.
„Noch Anfang der 90er Jahre schien es nahezu unmöglich, dass ein großes Chemieunternehmen nicht von einem Naturwissenschaftler oder Ingenieur geführt wird, sondern von einem Finanzexperten. Heute ist das fast selbstverständlich“, weiß Kädtler. Doch auch diese Entwicklung sei nicht allein dem Druck der Finanzmarktakteure geschuldet, sondern sei Folge einer allgemeinen „Finanzialisierung“, die das Denken in weiten Teilen der Wirtschaft und Gesellschaft seit Anfang der 90er Jahre immer stärker geprägt habe. „Die Schleusen zu all dem, was heute zu Recht beklagt wird, wie Niedriglöhne oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse, hat die Politik geöffnet“, meint Michael Faust, „und diese Bedingungen finden sowohl kapitalmarktexponierte als auch nicht exponierte Unternehmen vor und nutzen sie mehr oder weniger.“ Vorschnelle Zurechnungen von Ursachen seien gefährlich, „weil man zur Korrektur von Fehlentwicklungen dann womöglich an den falschen Hebeln ansetzt.“
Wie dieses Denken selbst in sozialpartnerschaftlich strukturierten Ländern wie Schweden die Landschaft verändert hat, erfuhr Inge Lippert, langjährige Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und heute Abteilungsleiterin für Industrie- und Strukturpolitik beim DGB-Bundesvorstand. Gemeinsam mit dem Industriesoziologen Ulrich Jürgens hat sie für die von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie „Corporate Governance und Arbeitnehmerbeteiligung in den Spielarten des Kapitalismus“ Pfade der Unternehmensentwicklung in der Automobilzulieferindustrie in Deutschland, Schweden und den USA verglichen. Dafür hat sie unter anderem einen großen schwedischen Automobilzulieferer untersucht, in dem nach dem Einstieg eines US-Investors – trotz eines hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades – Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer immer weiter ausgehöhlt wurden und das US-amerikanische Modell der Corporate Governance etabliert wurde. Allerdings fand die Industriesoziologin auch gegenläufige Beispiele – und das ausgerechnet im Mutterland der Kapitalmarktorientierung: In den USA ist die Zahl der Unternehmen mit materieller Beteiligung der Mitarbeiter über sogenannte ESOPs, Employee Stock Ownership Plans, in den vergangenen Jahren stark angestiegen.
Außerdem gab es in der Automobilindustrie im Zuge der Krise zuletzt „neue, überraschende Kooperationsbündnisse zwischen Gewerkschaften und Unternehmensführungen mit Formen von Co-Management, wie man sie eher aus Deutschland kennt“, bilanziert Lippert ihre Fallstudien. Die Veränderungen gehen also nicht nur in die Richtung, dass Arbeitnehmerbeteiligung unter den Bedingungen von Globalisierung und Shareholder-Value grundsätzlich geschwächt wird. „Unsere Untersuchung hat bestätigt, dass institutioneller Wandel auch im System der Arbeitnehmerbeteiligung entstehen kann und dies wiederum Veränderungen im Corporate-Governance-System bewirkt“, so Lippert. „Die Verhältnisse bleiben durch eine aktive Interessenvertretung gestalt- und damit veränderbar.“
BEEINDRUCKENDE KRISENBEWÄLTIGUNG
„In ihrem institutionellen Kern“, bilanzieren auch Bahnmüller und Faust, „ist die Mitbestimmung unangetastet geblieben“ – trotz aktionärsorientierter Reformen der Corporate Governance und der Finanzmärkte, trotz neoliberal geprägter Reforminitiativen auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik. „Es gibt ein Arrangement mit der deutschen Mitbestimmung, das unter dem Eindruck der erstaunlichen Krisenbewältigung in 2009 mit den Gewerkschaften und den Arbeitnehmervertretern stellenweise sogar in eine gewisse Wertschätzung umgeschlagen ist“, meint Reinhard Bahnmüller. Freilich sei abzuwarten, wie dauerhaft derartige Eindrücke seien. Mit der gebotenen Vorsicht als Wissenschaftler sagt Bahnmüller: „Die Rahmung für die Institution der Mitbestimmung ist heute vielleicht etwas günstiger als noch vor zehn Jahren.“
Eine der Fragen, der die Göttinger SOFI-Wissenschaftler in einem ebenfalls von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten laufenden Projekt nachgehen, gilt deshalb den Perspektiven der Unternehmensmitbestimmung unter den Vorzeichen der Kapitalmarktorientierung. In Fallstudien untersuchen sie, wie die von den Shareholder-Value-Befürwortern angestrengten Corporate-Governance-Reformen gerade auch von den Arbeitnehmervertretern genutzt werden können. „Erweiterte Informationsmöglichkeiten, auch die Ausweitung zustimmungspflichtiger Geschäfte stärken den Aufsichtsrat – und damit tendenziell auch die Arbeitnehmerbank“, erklärt Michael Faust „eine List der Geschichte“.
Mehr Informationen
Michael Faust/Reinhard Bahnmüller/Christiane Fisecker: DAS KAPITALMARKTORIENTIERTE UNTERNEHMEN. Externe Erwartungen, Unternehmenspolitik, Personalwesen und Mitbestimmung. Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Berlin, edition sigma 2011
Martin Höpner/Maximilian Waclawczyk: OPPORTUNISMUS ODER UNGEWISSHEIT? Die Arbeitgeberhaltungen zum mitbestimmten Aufsichtsrat. Zum Download (pdf).
Inge Lippert/Ulrich Jürgens: CORPORATE GOVERNANCE UND ARBEITNEHMERBETEILIGUNG IN DEN SPIELARTEN DES KAPITALISMUS. Pfade der Unternehmensentwicklung in der Automobilzulieferindustrie in Deutschland, Schweden und den USA. Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Berlin, edition sigma 2012