Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Im Aufwind der Krise
GLOBALISIERUNG Die ILO stellt auf dem G-20-Treffen in Pittsburgh eine globale Beschäftigungsstrategie vor. Manche träumen schon von einem Platz am Verhandlungstisch.
Von KAY MEINERS, Redakteur des Magazins Mitbestimmung. Foto: ILO
Der Auftrag der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), der aus ihren Gründerjahren nach dem Ersten Weltkrieg stammt, ist unbescheiden. Durch faire Arbeits- und Lebensbedingungen soll sie helfen, den Weltfrieden zu sichern. Weltweit 183 Staaten sind Mitglied der ILO, und zu ihren Jahrestreffen, den drei Wochen dauernden Internationalen Arbeitskonferenzen, reisen regelmäßig mehr als 4000 Vertreter von Regierungen, Arbeitgebern und Gewerkschaften aus allen Erdteilen an. Da wundert es nicht, dass der Fortschritt zuweilen eine Schnecke ist.
Nicht zuletzt wegen ihrer fehlenden Sanktionsmacht galt die ILO lange als schwächstes Glied der Big Five auf dem internationalen wirtschaftspolitischen Parkett - ein sozialer Reparaturbetrieb neben der Weltbank, der Welthandelsorganisation, dem Weltwährungsfonds und der OECD. Die Schweizer "Wochenzeitung" sieht im Umzug der ILO aus dem Zentrum Genfs an die Peripherie noch immer ein Menetekel. Das war 1974. "Die früheren Räumlichkeiten der ILO", so heißt es mit bitterem Unterton, "wurden von der heutigen Welthandelsorganisation WTO übernommen - ein fast schon symbolischer Wechsel genau zu der Zeit, als in Chile der erste blutige Versuch neoliberalen Wirtschaftens begann."
GESTIEGENE WERTSCHÄTZUNG_ Doch jetzt, mitten in der Krise, verdichteten sich die Hinweise, dass die ILO in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen könnte. Wolfgang Heller, Leiter des deutschen ILO-Büros in Berlin, erklärt, sie sei lange nur "als eine Organisation wahrgenommen worden, die Arbeitsnormen schafft". Doch das hat sich inzwischen geändert. Heller zeichnet für die Zukunft das Bild einer Organisation, die "in einem kohärenten Politikansatz Wirtschaft, Arbeit und die Finanzmärkte zusammendenkt". Die ILO als Allround-Agentur der Globalisierung, das wäre ein Verständnis, das auch den Gewerkschaften entgegenkommen dürfte.
Manchem mag das zu weit gehen. Aber bereits der Londoner G-20-Gipfel im April war ein Signal steigender Wertschätzung für die ILO. Zwar war sie noch nicht offiziell eingeladen. Doch hier erhielt sie das Mandat, die Konsequenzen der Krisenpolitik auf den globalen Arbeitsmarkt einzuschätzen und Vorschläge für den nächsten G-20-Gipfel am 24. und 25. September im Pittsburgh zu erarbeiten. Das Weiße Haus hat die alte Stahlstadt im Bundesstaat Pennsylvania mit Bedacht ausgewählt, gilt sie doch als eine Art Ruhrgebiet Amerikas, als Symbol für das Überleben in der Krise und für den Strukturwandel hin zu grünen Technologien.
Auf der diesjährigen Arbeitskonferenz, die im Juni in Genf stattfand, hat die ILO unter dem Namen "Global Jobs Pact" bereits ein Bündel von Vorschlägen und Konzepten der Öffentlichkeit vorgestellt. Es sind Maßnahmen wie aus einem Baukastensystem, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Länder zugeschnitten werden können: Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, Beschäftigungsprogramme, die Stärkung der sozialen Sicherungssysteme und Mindestlöhne. Vor allem in Entwicklungsländern könnte so die Armut reduziert, die Nachfrage gestärkt und die Wirtschaft stabilisiert werden. Teil des Paktes ist der Aufruf an die Geberländer, ausreichend Geld für antizyklische Maßnahmen bereitzustellen.
DIE DEUTSCHE ROLLE_ Die diplomatischen Bemühungen im Hintergrund mit ihren Tagungen, Konferenzen und "Sherpa-Treffen", wie die Meetings der Kontaktleute aus den Ministerien genannt werden, reichen Monate zurück. Die Kanzlerin - unterstützt durch den Ex-Vizekanzler Müntefering - hat schon vor dem Höhepunkt der Krise auf die ILO gesetzt. Bereits vor dem Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 traf sie sich mit deren Generalsekretär Juan Somavia. Heller, dessen Abgesandter in Berlin, sieht die ILO aktuell von ihr "sehr unterstützt". Merkel, so scheint es, erachtet einen stärkeren institutionellen Rahmen für die Weltwirtschaft für notwendig und ist bereit, sich dafür auch einzusetzen.
Kurzzeitig orientierte sie sich an SPD-Plänen für einen UN-Weltwirtschaftsrat nach dem Vorbild des Weltsicherheitsrates - jetzt favorisiert sie eine Charta, die demnächst von den G-20-Staaten verabschiedet werden könnte. Wolfgang Lutterbach, Leiter des Bereichs Internationale Gewerkschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand, begrüßt das Projekt: "Die internationale Gewerkschaftsbewegung hat sich schon vor dem Londoner G-20-Gipfel für eine Charta starkgemacht. Wir brauchen einen neuen Ordnungsrahmen, der über die Regulierung der Finanzmärkte hinausreicht." Die Gewerkschaften, so erklärt er, würden "darauf bestehen, dass in der Charta die sozialen Aspekte nicht zu kurz kommen und die Rolle der ILO und ihrer weltweit gültigen Normen gestärkt wird."
Der Internationale Gewerkschaftsbund bastelt bereits an Textentwürfen und Ideen für eine solche "Charta des nachhaltigen Wirtschaftens". Tatsächlich geht die Charta-Initiative überwiegend vom alten Europa aus, mit maßgeblicher Beteiligung Deutschlands. Ebenfalls ein Interesse signalisieren Schwellenländer wie Brasilien. Daneben aber gibt es Skeptiker wie die Briten und eine Reihe von Staaten, die sich eher indifferent verhalten, wie Japan oder auch Australien. Falls die "Merkel-Charta", wie sie international heißt, beschlossen würde, dann wohl nur einstimmig. Denn Differenzen würden die Mitgliedsstaaten im Vorfeld ausräumen. Das verlangen die diplomatischen Gepflogenheiten. Völkerrechtlich verbindlich wäre die Charta jedoch nicht - eher eine Absichtserklärung, die sich auf vorhandene Reglementarien beziehen und diese stärken könnte.
EIN PLATZ AM VERHANDLUNGSTISCH_ Der brasilianische Staatschef Lula Da Silva erregte auf der ILO-Jahrestagung Aufsehen, als er nicht nur das Finanzsystem und die US-Rating-Agenturen, die die Welt maßregeln "und die Risiken im eigenen Land nicht in den Griff bekommen", kritisierte. Er verlangte, dass die ILO an den G-20-Treffen teilnehmen solle. Die gleiche Forderung erhob auch der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. "Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Steinmeier müssen diese Initiative unterstützen", erklärte der DGB-Vorsitzende, der Mitglied im ILO-Verwaltungsrat ist. Der Druck war erfolgreich. Für den DGB-Experten Lutterbach ist dies jedoch nur ein Teilerfolg: "Die Gewerkschaften sind keine Bittsteller im Vorfeld von Gipfel-Treffen, sie gehören im G-20-Prozess selbst an den Verhandlungstisch."
Ein verbindlicher Text für die Charta der G-20-Staaten wird ohnehin noch auf sich warten lassen. Pittsburgh wird zeigen, wie ernst es den Staaten überhaupt mit dem Projekt ist. Als wahrscheinliche Variante gilt, dass man sich dort darüber verständigt, einen endgültigen Text zu erarbeiten. Alles deutet aber darauf hin, dass Juan Somavia am Pittsburgher Gipfel im Herbst teilnehmen wird. Wolfgang Heller, der Direktor der ILO in Berlin, hält sich aber derzeit noch diplomatisch zurück und sagt, er sei "sehr optimistisch", dass Somavia eingeladen würde. Die Einladung, so erklärt er, käme dann wohl von Barack Obama persönlich. Ganz altmodisch, "mit der Post".
Mehr Informationen
Recovering from the crisis - das ILO-Papier. Download via http://www.ilo.org/
Die Abteilung Internationales beim DGB. www.dgb.de/uebersicht/Internationales
Die Webseite zum nächsten G-20-Treffen. http://www.pittsburghsummit.gov/