: Im Alter besser abgesichert
DEMOGRAFIE Im neuen Chemie-Tarifvertrag gehen die Sozialpartner erstmals die Folgen des demografischen Wandels an. Ein Fonds, den die Arbeitgeber finanzieren, soll Mittel für den flexiblen Renteneinstieg bereitstellen.
Von INGMAR HÖHMANN, freier Journalist in Köln / Foto: argus
Wenn es um sein Lieblingsthema geht, spart Frank Schirrmacher nicht mit Worten. "Es gibt keine Umkehr mehr", sagt der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Die Bevölkerung wird schrumpfen und altern - mit drastischen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt." Schirrmacher redet gerne über den Bevölkerungswandel, so auch auf der Fachtagung von Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) Anfang Oktober in Berlin. "Ein heute 70-Jähriger ist auf dem geistigen und medizinischen Stand eines 49-Jährigen des Jahres 1965. Unsere Gehirne verstehen das noch nicht", sagt Schirrmacher. "Aber sie müssen es, damit wir den Wandel bewältigen können."
Entsprechend positiv ist seine Einstellung zum neuen Chemie-Tarifvertrag "Lebensarbeitszeit und Demografie", der Anfang Mai in Kraft getreten ist. Damit wollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf die Herausforderungen des Bevölkerungswandels reagieren. Für Schirrmacher allerdings ist das nur "ein erster Versuch, auf Veränderungen der Gesellschaft zu antworten, die sich viele noch gar nicht vorstellen können." Doch immerhin, sagt er, "endlich kommt das Thema auch in den Köpfen an."
Auch die Chemie-Tarifparteien sparten in Berlin nicht mit gegenseitigem Lob: "Die Chemie-Formel kann zu einer Erfolgsformel für unsere Wirtschaft und Gesellschaft werden", sagte Eggert Voscherau, Präsident der Chemie-Arbeitgeber. Ulrich Freese, stellvertretender Vorsitzender der IG BCE, nennt den Tarifabschluss gar "historisch". Mit dem ersten großen Flächentarifvertrag zum Thema Demografie gelinge es, eine "Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt zu bauen".
Aber was genau steht drin in dem Vertrag, dem ab 2010 rund 550 000 Beschäftigte in 1900 deutschen Chemieunternehmen unterliegen? Erstmals gibt es ein Gesamtwerk, das die Möglichkeiten zur Bewältigung des demografischen Wandel zusammenführt - das ist das, was die Tarifparteien die Chemie-Formel nennen. Sie besteht aus mehreren Elementen: einer Altersstruktur-Analyse in den Betrieben, der stetigen Qualifizierung der Angestellten, flexibleren Arbeitszeiten und besserer Gesundheitsvorsorge. Die Arbeitgeber stehen nun stärker in der Pflicht, Arbeit altersgerecht zu gestalten.
PRO JAHR UND PERSON 300 EURO_ Damit genügend Geld vorhanden ist, richten die Sozialpartner einen so genannten Demografie-Fonds ein. Er ist der Kern des neuen Vertrags - denn das Kapital dient ausschließlich zur Finanzierung von fünf festgelegten Instrumenten. Für jeden Tarifbeschäftigten zahlen die Arbeitgeber ab dem Jahr 2010 jährlich 300 Euro ein. Damit die Inflation diesen Betrag nicht entwertet, erhöht er sich in den Folgejahren entsprechend den jeweiligen Tarifabschlüssen.
Die Betriebsparteien können per Betriebsvereinbarung entscheiden, welche Instrumente der Chemie-Formel sie mit dem Geld aus dem Fonds bezahlen wollen. Dabei können sie zwischen Langzeitkonten, Altersteilzeit, Teilrente, Berufsunfähigkeitsschutz und tariflicher Altersvorsorge wählen. Möglich ist auch, das Geld aufzuteilen. Für die Betriebsräte heißt das, dass sie nun in der Verantwortung stehen - nach dem Motto: "Macht selbst etwas daraus."
Falls der Arbeitgeber keine Betriebsvereinbarung abschließen will, greift eine Auffangregelung - die nicht unbedingt den Vorstellungen der Arbeitnehmer entsprechen muss. In Unternehmen mit weniger als 200 Beschäftigten fließt der Demografie-Betrag dann automatisch in die tarifliche Altersvorsorge, bei Firmen mit mehr Beschäftigten auf ein Langzeitkonto, von dem die Mitarbeiter Ansprüche auf bezahlte Freistellung erhalten. Einigen sich die Betriebsparteien später doch, wird diese Regelung hinfällig. Nicht alle Instrumente werden den Beschäftigten und den Betriebsräten freilich epochal vorkommen. Denn die Tarifvertragsparteien greifen auf bekannte Mittel zurück - einige davon sind in großen Unternehmen längst Standard. Langzeitkonten beispielsweise haben die meisten deutschen Chemiekonzerne in den vergangenen Jahren bereits etabliert.
Neu ist, dass sich künftig aber auch kleinere Unternehmen stärker mit dem demografischen Wandel beschäftigen müssen. Dafür sorgt nicht zuletzt die Verpflichtung zur Demografie-Analyse, die sie mit den Betriebsräten bis Ende des nächsten Jahres erstellen müssen. Wie diese aussehen soll, bleibt jedoch weitgehend offen. Der Tarifvertrag sieht nur vor, die Belegschaft nach Alter, Qualifikationen und Funktionen zu analysieren - und die Werte alle drei bis fünf Jahre auf den neuesten Stand zu bringen.
Dabei können die Betriebe auf vorhandene Daten zurückgreifen, beispielsweise aus Gesundheitsberichten. Je nach Unternehmensgröße und -struktur wird diese Analyse mehr oder weniger detailliert ausfallen: Krankenstand, Ausbildungsquote, Teilzeitquote, die Aufsplittung auf Abteilungen oder Standorte, Prognosen über die zukünftige Entwicklung - die Betriebsparteien müssen sich darüber einigen, was für ihr Unternehmen sinnvoll ist. Stellt sich heraus, dass in den nächsten Jahren viele Mitarbeiter aus einer Abteilung in den Ruhestand gehen, könnten die Betriebe gemischte Teams von Älteren und Jüngeren bilden, damit das Wissen in der Abteilung weitergereicht wird. Haben besonders viele Ältere körperlich anspruchsvolle Jobs, kann das Unternehmen dafür rechtzeitig Jüngere ausbilden lassen - und verhindern, dass es eines Tages für die ausscheidenden Arbeitnehmer keinen Ersatz findet.
CHANCEN FÜR DIE ALTERSVORSORGE_ Die Chemie-Beschäftigten werden zunächst aber vor allem von den Mitteln aus dem Demografie-Fonds profitieren - je nachdem, welche Verwendung Betriebsrat und Unternehmen dazu vorsehen. Eine Möglichkeit ist die Altersvorsorge. Bereits seit 1998 haben Arbeitnehmer Anspruch darauf, einen Teil ihres Gehalts in die betriebliche Altersversorgung fließen zu lassen. Der Vorteil: Der Arbeitgeber stockt diese Summe auf. Bei einem Grundbetrag von knapp 469 Euro pro Jahr liegt der Zuschuss bei etwa 134 Euro. Pro weitere 100 Euro gibt es 13 Euro dazu.
Für Bernd Vogler, Geschäftsführer Sozialpolitik, Altersvorsorge und Arbeitsschutz beim BAVC, ist die tarifliche Altersvorsorge eine Erfolgsstory: "Der Verbreitungsgrad steigt steil nach oben." Nach einer Umfrage des Arbeitgeberverbandes macht fast jeder dritte Tarifarbeitnehmer schon davon Gebrauch. Mit dem Demografie-Beitrag steigt der Grundbetrag auf 952 Euro - das sei eine im Vergleich zu anderen Branchen "komfortable Absicherung im Alter", sagt Vogler. Das umgewandelte Entgelt bleibt bis zu einem Betrag von vier Prozent der Beitragsbemessungsgrenze steuer- und sozialversicherungsfrei. Im Jahr 2008 waren dies 2544 Euro.
Alternativ lässt sich mit den Mitteln des Demografie-Fonds die Teilrente aufstocken. Dabei bekommt ein Beschäftigter nur einen Teil der Rente - den Rest lässt er sich zu einem späteren Zeitpunkt auszahlen. Dafür kann er mit Nebenjobs sein monatliches Einkommen erhöhen. Diese Form hätten bislang allerdings nur wenige Arbeitnehmer gewählt, sagt Experte Vogler. Der Grund: Kaum jemand wolle die ohnehin schon geringe Rente zusätzlich schmälern. Zudem sind die Hinzuverdienstmöglichkeiten gesetzlich begrenzt.
DIE NEUE ALTERSTEILZEIT_ Größere Bedeutung messen die Tarifparteien der Altersteilzeit zu. Weil die Förderung durch den Staat Ende 2009 ausläuft, musste hier eine Anschlussregelung gefunden werden, um das Instrument zu erhalten. Denn einerseits erlaubt die Altersteilzeit den Unternehmen eine flexiblere Personalpolitik. Andererseits können Arbeitnehmer, die der Job stark belastet, früher in Rente gehen. Stellenstreichungen durch die Altersteilzeit soll es - so steht es im Tarifvertrag - nicht geben. Damit will die Gewerkschaft dem Missbrauch des Instruments als Mittel zum Personalabbau einen Riegel vorschieben.
Die künftige Altersteilzeit in der Chemieindustrie wird jedoch anders aussehen als bisher: Statt mit 55 Jahren wird ein Arbeitnehmer sie in der Regel erst mit 59 Jahren in Anspruch nehmen können. Für sechs Jahre wird der verbliebene Lohn um 40 Prozent aufgestockt. Unverändert bleibt die Steuer- und Beitragsfreiheit dieser Zahlungen. Die Betriebsparteien müssen künftig selbst entscheiden, welche Arbeitnehmer sie berücksichtigen - und Auswahlkriterien für den Fall aufstellen, dass es mehr Bewerber als freie Plätze gibt. Die Altersteilzeit ist für maximal fünf Prozent der Belegschaft möglich.
Die Mittel aus dem Demografie-Fonds können die Betriebsparteien über eine freiwillige Betriebsvereinbarung zur Förderung der Altersteilzeit nutzen. So können sie vereinbaren, das Zugangsalter von 59 auf 57 Jahre herabzusetzen. Möglich ist es auch, die Aufstockung zu erhöhen, oder zusätzlich Geld in die Rentenversicherung einzuzahlen. Der neue Tarifvertrag entwickelt auch das Instrument der Langzeitkonten weiter, das die Chemiebranche bereits 2003 eingerichtet hat. Auf diesem Konto kann jeder Arbeitnehmer ein Guthaben ansparen, mit dem er sich für bestimmte Zwecke freistellen lassen kann. Wie bisher sind dies in erster Linie Qualifizierung und die Freistellung vor der Rente. Neu ist, dass die Betriebsparteien die Pflege von Angehörigen, Elternzeit und Teilzeit mit aufnehmen können.
In Betrieben mit mehr als 200 Beschäftigten, die das Langzeitkonto als Auffanglösung für den Einsatz des Demografie-Beitrags anbieten müssen, können die Arbeitnehmer das Konto nur für die Freistellung vor der Rente einsetzen. Mark-Dominik Schneider, Jurist beim BAVC, kritisiert das als ein "Schmalspurmodell." So würden Langzeitkonten nur zum Ersatz für Altersteilzeit werden - obwohl der Tarifvertrag auch weitere Nutzungsmöglichkeiten vorsehe.
Damit auch kleinere Unternehmen die Konten ohne großen Aufwand einrichten können, haben die Tarifvertragsparteien ein Standardmodell mit einer Musterbetriebsvereinbarung entwickelt. Darin ist auch festgelegt, wie Arbeitnehmer Guthaben ansparen können. Der Vertrag nennt Altersfreizeiten, Mehrarbeit, Urlaubstage, die über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehen, Mehrarbeitszuschläge, Zulagen bis zu zehn Prozent des jährlichen Tariflohns sowie den Demografie-Beitrag.
Das Guthaben auf den Langzeitkonten ist immer ein Geldbetrag - Freizeit wird in Geld umgewandelt. Die Betriebe müssen die Arbeitnehmer regelmäßig über den Kontostand informieren. Der Vorteil besteht darin, dass die Lohnsteuer und die Sozialversicherungsbeiträge erst bei der Auszahlung fällig werden. Vorher verzinst sich so der Brutto- statt der Nettobetrag. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, das eingezahlte Guthaben anzulegen. Bei der Auszahlung für Weiterbildung greifen die Tarifvertragsparteien auf Bekanntes zurück: Sie haben dazu den Qualifizierungs-Tarifvertrag aus dem Jahr 2003 im Wortlaut als Paragraf 6 in den neuen Tarifvertrag übernommen. Auch zur Beratung nutzen sie ein bewährtes Instrument: Die 1993 eingerichtete Weiterbildungsstiftung von IG BCE und BAVC soll Unternehmen und Betriebsräte bei der Qualifizierung der Arbeitnehmer unterstützen.
NEUE REGELN ZUR BERUFSUNFÄHIGKEIT_ Eine weitere Neuerung des Tarifvertrags ist die sogenannte "Berufsunfähigkeitszusatzversicherung Chemie" (BUC). Damit reagieren Gewerkschaft und Arbeitgeber auf die Forderung nach einer stärkeren Absicherung des Berufsunfähigkeits-Risikos. Jeder vierte Arbeitnehmer müsse heute vor dem Rentenalter seinen Job aufgeben, sagt Gottlieb Förster, Abteilungsleiter für Tarifpolitik der IG BCE. Doch nur die wenigsten hätten für diesen Fall privat vorgesorgt - weil sie auf den Staat vertrauten. Ein Fehler: "Die heutige Erwerbsminderungsrente kann den Lebensstandard in den meisten Fällen nicht sicherstellen", sagt Förster.
Die BUC soll diesen Missstand beheben - und gleichzeitig günstige Konditionen anbieten. Den Versicherten bietet sie eine Einheitsprämie ohne Einteilung nach Berufsklassen, Geschlecht oder eine Gesundheitsprüfung. Bei privaten Versicherungen ist das unüblich: Sie unterscheiden nach Berufsgruppen und verlangen meistens Gesundheitsprüfungen. Ältere müssen daher in der Regel hohe Beiträge zahlen. Für die Versicherung der Chemie-Arbeitnehmer bedeutet diese Ausgestaltung der BUC allerdings ein höheres Risiko. Daher gibt es eine Einschränkung: Ein Unternehmen kann die BUC nur nutzen, wenn es alle Tarif-Arbeitnehmer gleichzeitig versichert. Die Prämien sind allerdings steuer- und beitragsfrei.
Setzen die Betriebsparteien den Demografie-Beitrag für die BUC ein, können die Arbeitnehmer diesen Betrag selbst aufstocken. Die Berufsunfähigkeitsrente bei einem Jahresbeitrag von 300 Euro liegt bei 555 Euro im Monat. Im Todesfall zahlt die Versicherung knapp 6600 Euro. Wird ein Versicherter berufsunfähig, steigt die Rente jährlich um ein Prozent. Wer sich neu versichert, sollte nach Möglichkeit noch zwei Jahre gesund bleiben. Denn erst nach dieser Frist erhält er die volle Summe. Vorher ist die Auszahlung gestaffelt.