Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: IG BCE beklagt Missbrauch
BETRIEBSPOLITIK Die Chemieindustrie ist zu einem Hauptnutzer der Leiharbeit geworden. Von Ingmar Höhmann
Ingmar Höhmann ist Journalist in Köln./Foto: Jürgen Seidel
Bei Wacker Chemie in Burghausen, dem größten Chemiestandort in Bayern, ging es im Sommer letzten Jahres heiß her. "Vorstand verklagt Betriebsrat wegen Leiharbeitern" stand auf einem Zettel am Aushang geschrieben, ein in der Firmengeschichte einmaliges Ereignis. Zur Konfrontation kam es, weil Betriebsratschef Anton Eisenacker dem Einsatz von 60 Leiharbeitern in der Polysilizium-Produktion nicht länger zustimmen wollte - und der Arbeitgeber sich die Genehmigung per Gerichtsbeschluss holen wollte.
Eisenacker denkt noch heute mit Wut im Bauch zurück: "Wir hatten als Betriebsrat bisher Leiharbeit nur dann genehmigt, damit das Unternehmen Auftragsspitzen abdecken kann. Doch der Vorstand wollte mehrere Hundert Tarifarbeitsplätze ersetzen", sagt er. Auch die geringe Bezahlung der Zeitarbeitnehmer erboste den Betriebsrat: Statt 13,50 Euro, wie im Chemietarifvertrag für Produktionshelfer vereinbart, gestand ihnen Wacker nicht einmal acht Euro Stundenlohn zu. Vor Gericht argumentierte der Vorstand mit "Dringlichkeit", was Eisenacker zufolge "völlig aus der Luft gegriffen" war. "Das einzige Ziel war, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Einstellung von Leiharbeitern auszuhebeln."
Es knirscht in der Chemieindustrie - einer Branche, die eigentlich für Kompromissbereitschaft bekannt ist. Die starke Zunahme der Leiharbeit spaltet die Belegschaft in zwei Klassen - und die Tarifpartner in zwei Lager. Das Spitzengremium der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, der IG-BCE-Beirat, hat Mitte Oktober einen dringlichen Beschluss gefasst: "Den Arbeitsmarkt in Ordnung bringen - Missbrauch der Leiharbeit beenden". Darin fordert das Gremium, dass die Betriebe die Zeitarbeit zurückfahren, faire Arbeitsbedingungen schaffen und gleiche Löhne zahlen sollen. Zudem dürfe Leiharbeit nicht zur Dauereinrichtung werden.
Die IG BCE will nun politisch Druck machen: Die Bundesregierung solle gesetzlich verankern, dass Zeitarbeiter die gleichen Löhne wie die Stammbelegschaft erhalten - im Sinne von "Equal Pay". Weiterhin will die Gewerkschaft betrieblich die Zeitarbeit begrenzen und für Leiharbeitnehmer Weiterbildung und zusätzliche Altersvorsorge regeln. Eigentlich schreibt auch die Leiharbeitsrichtlinie der Europäischen Union gleiche Löhne vor. Die deutsche Sonderregel beruht auf dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, das abweichende Tarifverträge zulässt - hier fordert die IG BCE eine Korrektur.
Zwar gibt es keine genauen Zahlen darüber, wie viele Leiharbeiter mittlerweile in deutschen Chemieunternehmen arbeiten. Doch Wissenschaftler gehen davon aus, dass sie vielerorts längst zur Regel geworden sind. "Manche Unternehmen fangen mit Leiharbeitern nur Produktionsspitzen ab", sagt Gerhard Bosch, Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Uni Duisburg-Essen. "Aber zunehmend gibt es schwarze Schafe, die Leiharbeiter langfristig einstellen, um Lohnkosten zu senken."
Einen Hinweis auf den zunehmenden Missbrauch gibt eine Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Demnach hat sich die Anzahl der wahlberechtigten Leiharbeiter, die mehr als sechs Monate bei einem Unternehmen beschäftigt sind, seit 2006 in der Chemieindustrie verdoppelt. Waren dort vor vier Jahren erst 6000 Leiharbeitnehmer wahlberechtigt, stieg deren Zahl dieses Jahr auf über 12 500. Gerade Kunststoffhersteller und Automobilzulieferer setzten im großen Stil auf Leiharbeit, berichtet Christian Jungvogel, Abteilungsleiter Tarifpolitik bei der IG BCE. "Die chemische Industrie ist zu einem Hauptnutzer der Zeitarbeit geworden." Sehr problematisch ist vor allem, wenn Personalabteilungen die Devise ausgeben: Künftig wollen wir in der Belegschaft ein Drittel Leiharbeitnehmer haben.
Was tun? Könnte der jüngste Tarifabschluss in der Stahlindustrie Schule machen, nach dem Zeitarbeiter das gleiche Entgelt wie die Stammarbeitnehmer erhalten? Zahlt es nicht die Zeitarbeitsfirma, muss der Entleihbetrieb aufstocken. Die Hoffnung auf eine solche Vereinbarung in der Chemiebranche sei aber gering, sagt Bosch: "Die Stahlindustrie ist eine Ausnahme: Die Gewerkschaften stützen sich dort auf einen hohen Organisationsgrad und große Konfliktbereitschaft, zudem ist der Leiharbeiteranteil gering." Für sinnvoller hält er eine gesetzliche Regelung: "Das ist eine politische Aufgabe. Die Tarifpolitik ist überfordert, alle Fehler der Politik zu korrigieren." Um dem Missbrauch Herr zu werden, versuchen es die Arbeitnehmervertreter mit betrieblichen Vereinbarungen und Haustarifverträgen. Eine Reihe von Zeitarbeitsfirmen, die ausschließlich in der Chemieindustrie tätig sind, zahlen bereits Löhne nach Chemietarifvertrag. Mit den großen Leiharbeitsfirmen jedoch, die in vielen Branchen tätig sind, ist das nicht zu machen: Große Verleihfirmen wie zum Beispiel Adecco und Randstad wollen einheitliche Löhne zahlen. Ansonsten würde beispielsweise ein Leiharbeiter in einem Chemiebetrieb mehr Geld verdienen als bei einer gleichen Tätigkeit in einer Branche, die geringere Tariflöhne zahlt.
Wenn die Arbeitnehmervertreter auf betriebliche Regelungen pochen, kommt es nicht immer zu einer einvernehmlichen Lösung - sondern wie bei Wacker Chemie zum offenen Konflikt. Dort ließ sich Betriebsrat Eisenacker die Klage der Unternehmensführung nicht gefallen - er sprach das Thema im Aufsichtsrat an. "Der Vorstand macht keinen guten Eindruck, wenn er gegen den eigenen Betriebsrat vor Gericht zieht", sagt er.
Auch auf der betrieblichen Ebene - bei Personalentscheidungen - machte Betriebsrat Eisenacker Druck: Wo die Zustimmung des Betriebsrats erforderlich war, blockierte er Entscheidungen. Selbst Versetzungen lehnte er ab - bei 7000 Chemie-Beschäftigten in Burghausen kein seltenes Ereignis. Schließlich lenkte der Wacker-Vorstand ein: Er erhöhte den Stundenlohn für Leiharbeiter um 50 Prozent und gewährte Erschwernis- und Schichtzulagen. Zudem erhielt die Hälfte von ihnen einen festen Arbeitsvertrag.
MIT OUTSOURCING DROHEN_ Eigentlich sind die Machtverhältnisse klar: Ohne Zustimmung des Betriebsrats kann ein Chemieunternehmen keine Leiharbeiter einstellen. Doch gerade bei einfachen Tätigkeiten sitzen die Arbeitgeber am längeren Hebel. Ihr Druckmittel: Sie können drohen, den Bereich an externe Dienstleister auszulagern. "Das ist wie ein Häuserkampf, in dem die Arbeitgeber mit dem Auslagerungsargument über eine mächtige Waffe verfügen", sagt Bosch. "So werden die Betriebsräte permanent erpresst."
Beim Konsumgüterhersteller Procter & Gamble in Euskirchen sorgte das Outsourcing vor zwei Jahren für Konflikte. Immerhin erreichte der Betriebsrat einen Kompromiss: Die technische Instandhaltung erledigt zwar seitdem ein Fremdanbieter, andere Bereiche wie die Cafeteria oder die Logistik blieben im Betrieb. Doch nun hat das Unternehmen einen anderen Weg entdeckt, um Kosten zu sparen: die Leiharbeit. In der Cafeteria sind heute kaum noch eigene Mitarbeiter beschäftigt - das erledigen die Arbeitnehmer auf Zeit.
Die Leiharbeitsquote ist sprunghaft angestiegen: In Euskirchen liegt sie bei fast 18 Prozent. "Wir haben noch nie so viele Leiharbeiter gehabt", sagt Betriebsratschef Ernst Muders. Er hat die Entwicklung bei der letzten Betriebsversammlung zum Hauptthema gemacht. Muders dringt darauf, dass der Arbeitgeber Procter & Gamble, immerhin ein Weltkonzern, einen Verleiher engagiert, der nach Chemietarif bezahlt. Bisher kann der Verleih-Branchenriese Randstad in Euskirchen nach Belieben zu Dumpinglöhnen einstellen. Randstad unterhält im Werk sogar ein eigenes Büro.
CONTITECH_ Beim Automobilzulieferer Conti hält sich das Ausmaß der Leiharbeit in Grenzen: Im Bereich ContiTech etwa sind von 13 000 Beschäftigten rund 300 Leiharbeiter. Eine Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2004 setzt die Maximalquote für Leiharbeit auf 20 Prozent fest, die acht ContiTech-Unternehmen schöpfen die ganz unterschiedlich aus. Die Gesamtbetriebsratsvorsitzende Bärbel Bruns will diesen Anteil nun auf zehn Prozent senken. Auch wenn Equal Pay zunächst noch nicht erreichbar sei, ist der Einstieg mit der unteren Entgeltgruppe Chemietarif gesetzt, sagt Bruns.
Die Betriebsrätin macht nicht nur die Leiharbeit zum Verhandlungsthema, sondern generell den Anstieg unsicherer Arbeitsverhältnisse. Sie setzt sich auch für die befristet Angestellten ein - die einen zunehmenden Anteil an den Beschäftigten ausmachen. ContiTech-Betriebsrätin Bruns will die Befristungszeit, die der Arbeitgeber auf bis zu vier Jahre ausdehnen kann, drastisch verkürzen.
Die Ausweitung der unsicheren Beschäftigung habe fatale Folgen, warnt sie: "Das Konkurrenzverhalten in der Belegschaft steigt, bei Produkten entstehen Qualitätsmängel. Es ist doch klar: Wenn jemand für die Hälfte des Lohns arbeitet, nimmt auch die Güte der Arbeit ab. Daher brauchen wir im Aufschwung stabile, gut bezahlte Arbeitsplätze", betont Bruns und hofft auf ein Einlenken des Managements. "Wir haben flexiblen Arbeitszeiten in der Krise zugestimmt", sagt sie, "genauso flexibel kann jetzt die Kernmannschaft die zusätzliche Nachfrage bewältigen."