Quelle: Jürgen Seidel
Magazin MitbestimmungDie Fragen stellte JOACHIM F. TORNAU.: IG-BAU-Vize Schaum: „Wir mussten klare Zeichen setzen“
Interview Rückblick auf den DGB-Bundeskongress: IG-BAU-Vize Harald Schaum spricht über Digitalisierung auf dem Acker, den Kampf gegen Rechts – und darüber, was die Beschlüsse des „Parlaments der Arbeit“ für die Hans-Böckler-Stiftung bedeuten.
Die Fragen stellte JOACHIM F. TORNAU.
Auf dem DGB-Bundeskongress in Berlin sind fast 70 Beschlüsse gefasst worden. Es ging um die ganz großen Themen: „gute Arbeit“, Digitalisierung, soziales Europa. Aber auch um Einzelforderungen wie die, den Tag der Befreiung am 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu machen. Welcher Beschluss war aus Ihrer Sicht der wichtigste?
Für mich stand nicht ein einzelner Beschluss im Vordergrund, sondern die Grundausrichtung. Der Bundeskongress war von einer sehr hohen Geschlossenheit der Gewerkschaften gekennzeichnet. Angesichts der großen Herausforderungen – Sie haben einige davon genannt – war eine eindeutige Positionierung des DGB nötig, mussten Zeichen gesetzt werden. Und dass das so klar und einhellig geschehen ist, bewerte ich besonders positiv.
An welche Zeichen denken Sie?
Nehmen wir das Beispiel Digitalisierung. Das ist eine Entwicklung, die auf uns alle zurollt, uns aber auf ganz unterschiedliche Art und Weise betreffen wird. Wer in einem Industriebetrieb arbeitet, wird davon anders berührt sein als jemand, der in der Verwaltung arbeitet oder in der freien Natur. Doch ungeachtet dessen waren wir uns einig: Wir wollen uns nicht gegen diese Entwicklung stellen, wollen uns nicht verweigern, sondern wollen die Digitalisierung im Sinne der Beschäftigten gestalten – damit unser Sozialwesen, unsere Gesellschaft weiter funktionieren.
Sie sind im Vorstand der IG BAU für die „grünen Branchen“ zuständig, für Land- und Forstwirtschaft und Gartenbau. Inwiefern haben Sie mit Digitalisierung zu tun? Spontan denkt man da ja eher an Mindestlohnverstöße oder die Ausbeutung von osteuropäischen Erntehelfern.
Diese Kluft in der Wahrnehmung ist tatsächlich ein Problem. Saisonarbeit ist sichtbar, da lassen sich schlechte Arbeitsbedingungen recht gut skandalisieren. Auf der anderen Seite aber gibt es mittlerweile GPS-gesteuerte Traktoren, die allein aufs Feld fahren, Bodenproben nehmen und die Spritzdosis bestimmen – ohne einen Menschen. Oder es gibt Cyberbrillen, über die Land- und Forstarbeiter bei Schneidarbeiten die Schnitte vorgegeben bekommen. Mit all den Problemen, die daran hängen: Persönliche Daten werden erfasst, der Puls oder auch wann jemand zur Toilette geht. Das heißt: Die Digitalisierung ist auch bei uns angekommen, und sie ist schon ziemlich weit. Das wird nur weniger gesehen.
Was ist zu tun, damit diese Entwicklung den Beschäftigten nutzt – und nicht, wie so oft befürchtet, schadet?
Erst einmal müssen wir genau hinschauen: Was passiert da, und was heißt das für unsere Kolleginnen und Kollegen? Wie empfinden sie die Entwicklung? Sie können ja einerseits eine Erleichterung erwarten, weil die extrem harte körperliche Arbeit weniger wird, müssen andererseits aber vielleicht auch Angst haben um ihren Arbeitsplatz. Unser Grundgedanke ist: Es darf niemand abgehängt werden. Weil sich durch die massiven Veränderungen der Arbeitsabläufe auch die Qualifikationsanforderungen verändern, muss fortlaufende Weiterbildung im Betrieb sichergestellt werden. Aber wir brauchen auch eine Modernisierung und Anpassung der betrieblichen Mitbestimmung.
Warum?
Die derzeitigen Bestimmungen im Betriebsverfassungsgesetz reichen vorne und hinten nicht aus, um die Arbeit der Zukunft regeln zu können. Ein Beispiel: Auch in unseren Branchen haben wir bereits Betriebe, die nicht mehr nur ihre Belegschaft am Standort haben, sondern die über das Internet verbunden sind mit sogenannten Cloudworkern, die ihnen von irgendwoher zuarbeiten. Damit diese Menschen nicht länger als vermeintliche Solo-Selbstständige auf sich allein gestellt sind, sondern vom Betriebsrat vertreten werden können, braucht es einen neuen Arbeitnehmerbegriff und einen neuen Betriebsbegriff.
Ein ganz anderes Thema, das sich durch viele Diskussionen auf dem Bundeskongress zog, war das Erstarken von Rechtspopulismus und Rassismus. Auch hier haben die Gewerkschaften sehr deutlich Stellung bezogen. Was aber kann – jenseits des Bekenntnisses gegen rechts – konkret gegen den Rechtsruck in Deutschland und Europa getan werden?
Zunächst einmal: Beschlüsse wie den, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, halte ich für absolut wichtig und notwendig. Das sind Richtungen, von denen wir uns einfach abgrenzen müssen. Aber die entscheidende Frage ist in der Tat: Was muss passieren? Die Leute sind dann empfänglich für einfache, provokative und damit meist auch rechte Parolen, wenn sie das Gefühl haben, hintergangen zu werden. Und man muss ja zugeben: Viele haben dieses Gefühl zu Recht. Aber nicht wegen der Flüchtlinge, auch wenn die Rechten das behaupten, sondern weil in den letzten Jahrzehnten ein Riesengraben aufgerissen worden ist in der Gesellschaft. Es ist nichts mehr investiert worden, weder in Schulen noch in Kitas noch in sozialen Wohnungsbau. Wir erleben Armutsrenten, Zweiklassenmedizin, Langzeitarbeitslosigkeit und immer ungleicher werdende Bildungschancen.
Der Kampf gegen rechts ist für Sie also vor allem ein Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit?
Genau. Solange Beschäftigte, die in Berlin, Frankfurt, München, Stuttgart oder Hamburg arbeiten, keine bezahlbare Wohnung mehr finden, solange sie Arbeit und Familie nicht in Einklang bringen können, weil es an Kita-Plätzen und Kita-Personal mangelt, solange wegen des Dogmas der schwarzen Null die Infrastruktur weiter kaputtgespart wird, solange all das nicht funktioniert, was den Menschen ganz nah an der Haut ist – so lange werden wir den Rechtsruck nicht stoppen können.
Das klingt, als bräuchte es nichts weniger als eine politische Kehrtwende.
Auf dem Bundeskongress haben wir als Sofortmaßnahmen ein Ende der Sparpolitik und massive staatliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und sozialen Mietwohnungsbau gefordert. Und in dieser Hinsicht sind im Vertrag der Großen Koalition zumindest erste Schritte in die richtige Richtung gemacht worden. Auch die Rückkehr zur Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein solcher Schritt. All das reicht natürlich nicht. Aber es ist immerhin ein Anfang. Jetzt gilt es, dranzubleiben.
Sie sind auch Mitglied im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung. Ergeben sich aus dem Bundeskongress neue Aufgaben für die Stiftung? Viele der Themen, die in Berlin eine zentrale Rolle gespielt haben, beschäftigen die Stiftung ja schon länger.
Durch den Kongress zogen sich drei Kernfragen für die Gewerkschaften: Wie kommen wir wieder zu mehr tarifvertraglichen Regelungen? Wie kriegen wir diese Regelungen in den Betrieben umgesetzt? Und schließlich: Welche Rolle soll die Politik dabei spielen? Diese Konzentration auf das Kerngeschäft der Gewerkschaften spiegelt sich auch in der Ausrichtung der Stiftung, wie wir sie in Vorstand und Kuratorium diskutiert haben. Das halte ich für sehr positiv. Bei der Suche nach Antworten auf die wichtige Frage, wie die Tarifbindung gestärkt werden kann, wird zudem helfen, dass mit dem Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht jetzt auch sehr viel rechtswissenschaftliche Expertise zur Hans-Böckler-Stiftung gekommen ist. Das konnte früher nicht in diesem Maße abgedeckt werden.
Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Ich denke, grundsätzlich haben wir die Stiftung gut aufgestellt. Zur Grundidee der Konzentration auf das gewerkschaftliche Kerngeschäft gehört auch, dass die konkrete Unterstützung für Kolleginnen und Kollegen in Betriebsräten und Gewerkschaften stärker in den Vordergrund rückt. Und das heißt, dass die Themen nicht nur allgemein, sondern zugeschnitten auf die jeweiligen Branchen und Betriebe betrachtet werden. Das ist etwas, das mehr werden muss angesichts der eingangs beschriebenen Transformationsprozesse. Wobei diese Ausrichtung natürlich nicht dazu führen darf, dass die wichtige wissenschaftliche Forschungsarbeit der Stiftung unter den Tisch fällt.
Die DGB-Gewerkschaften wollen, so wurde beschlossen, in den nächsten vier Jahren einen „Zukunftsdialog“ mit fortschrittlichen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft führen. Welche Rolle kann die Hans-Böckler-Stiftung dabei spielen?
Solche Zukunftsdiskussionen nicht nur innerhalb der Gewerkschaften zu führen, finde ich eminent wichtig. Das hat auch die von der Stiftung eingesetzte Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ gezeigt, die sich in den vergangenen zwei Jahren intensiv mit dem Wandel der Arbeitswelt auseinandergesetzt hat. Deren Abschlussbericht enthält viele richtig gute Ideen und Denkanstöße. Auf diese Grundlage wird man beim Zukunftsdialog wunderbar zurückgreifen können. Aber auch darüber hinaus wird die Stiftung gefragt sein, um den Dialog wissenschaftlich und fundiert zu unterfüttern.
Dass es für die Gewerkschaften wichtig ist, alle vier Jahre auf einem großen Kongress zusammenzukommen und sich auf eine gemeinsame Linie zu verständigen, wird niemand bezweifeln. Welche Bedeutung kommt dem „Parlament der Arbeit“ nach außen zu?
Der einzige echte Machtfaktor, den eine Gewerkschaft hat, ist ihre Mitgliederstärke. Bei den gewerblichen Beschäftigten sind wir da üblicherweise ganz gut, Angestellte oder Ingenieure dagegen gelten als schwer zu erreichen. Während des Bundeskongresses, über den natürlich breiter berichtet wird als über unser Tagesgeschäft, nehmen uns aber auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahr, die das sonst nicht so ohne Weiteres tun. Und immer wieder zeigt sich: Sie sind durchaus aufgeschlossen den Gewerkschaften gegenüber. Das habe ich in vielen Diskussionen erlebt. Unser Renommee in der Öffentlichkeit ist besser, als wir glauben. Und dazu trägt auch eine Veranstaltung wie der Bundeskongress bei.
ZUR PERSON
Harald Schaum (58) ist Stellvertretender Bundesvorsitzender der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU). Er gehört dem Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung an und ist Mitglied mehrerer Aufsichtsräte, unter anderem bei der HOCHTIEF Infrastructure GmbH. Der gelernte Forstwirt stammt aus Oberrombach im Landkreis Fulda und hat zwei Kinder.
Fotos: Jürgen Seidel