Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Hochlohnstandorte werden aufgegeben
GLOBALE PRODUKTIONSSTRATEGIEN Mit dem Bochumer Nokia-Werk schließt die letzte Handyproduktion in Deutschland, weltweit verlagern Produzenten in Niedriglohnländer - eine Strategie mit Risiken.
Von ULRICH VOSKAMP und VOLKER WITTKE. Ulrich Voskamp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter, Volker Wittke Direktor am Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen (SOFI).
Nokia Bochum, Siemens Kamp-Lintfort, Motorola Flensburg: Noch vor einigen Jahren galten diese Werke als Beispiele für erfolgreichen Strukturwandel in altindustriellen Regionen. Heute stellt sich die Situation dramatisch anders dar. Die Erwartung, mit der Förderung der "Zukunftsbranche" Mobilfunk dauerhaft Arbeitsplätze im industriellen Sektor sichern zu können, erweist sich als nicht sehr nachhaltig.
2006 wickelte BenQ die Siemens-Handysparte ab, 2007 schloss Motorola die Fertigung in Flensburg, und Mitte 2008 will Nokia die Fertigung in Bochum beenden. Mit der Handyproduktion in Deutschland ist es dann vorbei. Und auch in anderen Hochlohnländern, von Skandinavien bis zu den USA, sind Fertigungskapazitäten drastisch reduziert worden. Hintergrund dieser Entwicklung sind radikal zugespitzte Veränderungen innerhalb der globalen Produktionsnetzwerke, in denen Handys entwickelt und hergestellt werden.
PROBLEME TROTZ WACHSTUM_ Mit dem Handy-Boom der 90er Jahre wurde die Herstellung von Mobiltelefonen zu einem neuen Feld industrieller Massenproduktion. Wurden 1995 weltweit knapp 50 Millionen Handys produziert, lag fünf Jahre später das Produktionsvolumen bei über 400 Millionen. Die führenden Hersteller Motorola, Nokia und Ericsson - und mit einigem Abstand auch Siemens - kamen aus Europa und den USA, und ihre Fertigungen befanden sich überwiegend an Hochlohnstandorten.
Bis heute hat sich die Zahl der weltweit produzierten Mobiltelefone noch einmal mehr als verdoppelt, auf rund 1,1 Milliarden Stück im Jahr 2007. Doch konnten die Hersteller die Ausweitung des Fertigungsvolumens nur sehr begrenzt zur Realisierung von "economies of scale", also Kostensenkungen durch größere Stückzahlen, nutzen - trotz eines hohen Konzentrationsgrads der Branche: So hatten die fünf größten Unternehmen 2007 einen Anteil am Weltmarkt von über 80 Prozent.
Die Ursache liegt in den Marktstrategien, die auf Modellvielfalt und technische Aufrüstung setzen. Für die Handy-Herstellung waren die Folgen fast schon paradox: Steigende Absatzzahlen gingen mit einer größeren Variantenvielfalt einher, die Produktlaufzeiten haben sich verkürzt, und die pro Gerät gefertigten Stückzahlen sind im Durchschnitt gesunken. Hinzu kam, dass die Kunden, vor allem die Netzbetreiber, in kleineren Mengen orderten und sehr viel kurzfristiger disponierten. In der Konsequenz entwickelten sich die kurzfristige Einführung ständig neuer Handymodelle und eine hohe Flexibilität zu zentralen Zielgrößen der Fertigung. Der Effekt: Die Expansion der Handy-Branche seit 2001/2002 war mit einem weitreichenden Wandel des Produktions- und Innovationsmodells verbunden.
GLOBALE PRODUKTIONSNETZWERKE_ Die Mehrzahl der großen Markenhersteller stellt Handys überwiegend "inhouse" her. Gleichwohl haben die Unternehmen in den letzten fünf Jahren ihre Fertigungs- und Entwicklungstiefe deutlich reduziert. Im Gegenzug haben Zulieferer wachsende Teile der Handy-Produktion übernommen. Insbesondere Systemzulieferer, die - ähnlich wie in der Automobilindustrie - über Kompetenzen in der Entwicklung, Fertigung und Montage komplexer produktspezifischer Komponenten verfügen. Innerhalb kurzer Zeit haben sie sich von Teilefertigern zu Integratoren entwickelt, bei denen sich ein Gutteil der Komplexität, Varianz und der Unsicherheiten der Handy-Produktion niederschlägt.
Die Folge: Die Produktionsnetzwerke der Handy-Branche sind deutlich komplexer geworden, wobei die Endhersteller nur noch einen kleiner werdenden Ausschnitt der Wertschöpfungskette abbilden. Die Produktionsstätten, die in der ersten Boomphase vorwiegend an Hochlohnstandorten errichtet worden waren, wurden seit dem Jahr 2000 ganz überwiegend in Niedriglohnländern aufgebaut - bevorzugt in China, Brasilien und in jüngster Zeit in Indien, von Nokia zudem in Ungarn. Die wichtigsten Zulieferer sind den Handyproduzenten in diese Länder gefolgt. Und auch die Kontraktfertiger expandierten in Mittelosteuropa, China und Lateinamerika.
Welche Motive gibt es für die Standortwahl? Eine zweifellos wichtige Rolle spielt die Markteroberung, vor allem in großen neuen Märkten wie China, Brasilien oder Indien. Daneben geht es um Kostensenkung. Flexibilitätsanforderungen, die sich aus einer größeren Anzahl von unterschiedlichen Modellen, sinkenden Auftragsgrößen und saisonalen Nachfrageschwankungen ergeben, werden in China und andernorts mit einem größeren Anteil an Handarbeit und unsteter Beschäftigung abgefedert. Die Logik der Standortwahl hat sich dabei deutlich verschoben.
Nachdem die Firmen zunächst in neuen Märkten zusätzliche Fertigungskapazitäten aufgebaut hatten, weiteten sie in den letzten fünf Jahren diese Kapazitäten über den regionalen Bedarf hinaus aus - dabei wurden Märkte und Produktionsstandorte global zunehmend entkoppelt. Am deutlichsten passierte das in China: Die Produktion, die dort ganz überwiegend in den Händen ausländischer Hersteller liegt, hat sich zwischen 2001 und 2006 mehr als verfünffacht und China zum weltweit bedeutendsten Produktionsstandort für Handys werden lassen. Dabei ist die Exportquote der dort gefertigten Geräte im selben Zeitraum kontinuierlich gestiegen - von unter 50 Prozent im Jahr 2001 auf 75 Prozent in 2006
Für die Beschäftigten an den Hochlohnstandorten der Handy-Branche sind die Effekte der Globalisierung der Produktion unübersehbar. In den letzten Jahren haben die großen Hersteller ihre Serienproduktionen in den USA und Europa geschlossen, nur wenige Standorte blieben zunächst erhalten. Anders bei der Produktentwicklung: Hier spielen die Hochlohnstandorte für Nokia, Ericsson und Motorola nach wie vor die zentrale Rolle. Entwicklungs- und Volumenproduktionsstandorte wurden somit in den letzten Jahren zunehmend räumlich voneinander getrennt.
PILOTFABRIKEN FÜR INNOVATIONEN_ Der Rückgang der Serienproduktion in Westeuropa konnte zunächst zu einem Teil kompensiert werden - durch ein verändertes Profil von Fertigungsstandorten. Die Werke wurden auf marktnahe Funktionen ausgerichtet. Zum einen betraf das die kundennahe Konfiguration der Geräte. Mobiltelefone unterscheiden sich je nach Land und Netzbetreiber in Software-Ausstattung, Begleitmaterial und Verpackung. Daher wollten die Hersteller diesen letzten Produktionsabschnitt (die Konfiguration) möglichst auch dann an marktnahen Standorten belassen, wenn die restliche Fertigung bereits an Niedriglohnstandorten stattfand.
Andererseits wurde an den Hochlohnstandorten die Entwicklung und Pilotfertigung neuer Produkte ausgebaut. Zwischen Idee und endgültigem Design werden von jedem Handy eine Reihe von Mustern und Prototypen gefertigt, die den Entwicklern wichtiges Feedback zur Produktgestaltung und zur fertigungstechnischen Machbarkeit geben. Entscheidend sind hierbei intensive Rückkopplungen zwischen Produkt- und Prozessentwicklung und Fertigung. Je besser diese Zusammenarbeit funktioniert, desto schneller können Schwachstellen in Produktdesign und Fertigungsprozess erkannt und beseitigt und kann der knappe Zeitplan bis zur Markteinführung eingehalten werden.
Räumliche Nähe zwischen Entwicklung und Fertigung fördert die Qualität dieser Rückkopplungen ebenso wie qualifizierte Beschäftigte in der Fertigung, die in der Lage sind, sich kompetent mit den Entwicklern auszutauschen und Fertigungswissen für den Entwicklungsprozess nutzbar zu machen. Die Hersteller haben daher einen Teil ihrer Hochlohnstandorte zu Pilot-Fabriken umgewandelt, in denen neben einer Serienfertigung vor allem die Entwicklungsaufgaben eine zentrale Rolle spielen.
Als unser Forschungsprojekt 2005 startete, hatten wir die Erwartung, dass diese Verbindung von Innovations- und Fertigungsfunktionen Chancen für Hochlohnstandorte eröffnen könnte. Und bis vor gut einem Jahr gab es in Westeuropa in der Tat noch eine Reihe von Standorten, in denen diese marktnahen Aufgaben und Serienfertigung in unterschiedlicher Weise gemischt waren: die Werke von Siemens/BenQ in Kamp-Lintfort, von Motorola in Flensburg sowie von Nokia in Bochum und im finnischen Salo. Bis vor einem Jahr verfügten auch die Systemzulieferer über Werke, die an Standorten in Deutschland, Schweden und Finnland in ähnlicher Weise Innovation und Produktion in Pilotfabriken bündelten.
RADIKALE VERLAGERUNG_ Seit 2006 beobachten wir eine Radikalisierung der Standortpolitik. Wo sie nicht - wie bei Siemens/BenQ - im Bankrott endet, läuft sie darauf hinaus, die Serienproduktion komplett an Niedriglohnstandorte zu verlagern. Sony Ericsson betreibt eine eigene Produktion nur noch in China. Motorola hat mit dem Standort Flensburg 2007 seine letzte Fabrik in Europa geschlossen und fertigt seitdem ausschließlich in Niedriglohnländern.
Und Nokia verfügt nach dem Anlauf seines neuen Handy-Werks in Rumänien über insgesamt acht global verteilte Niedriglohnstandorte. In Hochlohnländern bleibt nach der Schließung des Werks in Bochum, abgesehen von einer kleinen Manufaktur für Luxusgeräte in England, nur noch der Standort in Salo (Finnland) als Pilotfabrik und flexible Produktionsstätte von hochpreisigen Multimedia- und Businessgeräten. Allerdings herrscht unter den Beschäftigten dort - nicht erst seit dem rabiaten Vorgehen von Nokia in Bochum - Unsicherheit über die Zukunft des Standorts.
Auch die Systemzulieferer registrieren, dass ihre Kunden, die Handy-Firmen, nach und nach die gesamte Serienproduktion an Niedriglohnstandorte verlagern - und handeln genauso radikal. So verlegen Hersteller von Gehäusen oder Leiterplatten die bisher noch in Finnland, Schweden oder Deutschland verbliebene Produktion komplett in die Nähe der Werke ihrer Kunden in Mittelosteuropa oder China, oft in denselben "Industriepark".
BETRÄCHTLICHE RISIKEN_ Auf kurze Sicht mag eine radikale Verlagerungspolitik die Ertragslage der Unternehmen entlasten oder hohe Umsatzrenditen noch weiter steigern. Doch schon mittelfristig ist diese Strategie mit beträchtlichen Risiken verbunden. Denn die völlige Verlagerung der Serienfertigung zerstört die eingespielten Routinen der Verknüpfung von Innovation und Produktion, die Produkt- und Prozessentwicklungen sowie den Produktionsstart neuer Modelle nicht nur schneller, sondern auch sicherer machten. Die Möglichkeiten hiesiger Standorte, als Pilotfabrik zur Steuerung und Beherrschung globaler Netzwerke beizutragen, werden damit untergraben.
Sollten Hochlohnstandorte nur noch für Entwicklungsaufgaben zuständig sein, wird das nicht ohne Folgen bleiben. Denn auch die Produktentwicklung profitiert von der Nähe zur Serienfertigung und dem dort vorhandenen Wissen. Dieses Wissen ist mit der Verlagerung zwar nicht schlagartig dahin, aber es verliert sich mit der Zeit. Und vor allem: Es wird entwertet, weil es von den Fortschritten industrieller Fertigungspraktiken abgekoppelt ist und sich nicht erneuern kann.
Die Folgen werden dann in der Serienfertigung in den Fabriken an Niedriglohnstandorten spürbar: Prozesse werden instabiler, Produktqualitäten schwanken, Markteinführungen verzögern sich, die Lieferfähigkeit sinkt - was sich in erhöhten Kosten und Ertragsausfällen niederschlägt. Für die Ursachendiagnose und Mängelbeseitigung ist dann oft kurzfristig die Expertise von Produkt- und Prozessspezialisten aus den Entwicklungszentren und Labors an Hochlohnstandorten gefragt. Nicht selten werden solche Experten wider Erwarten zu Vielfliegern, was wiederum kostenträchtig ist. Zugleich werden sie für diese Feuerwehreinsätze von ihren eigentlichen Aufgaben und Projekten abgezogen.
Unternehmen könnten versucht sein, das zerrissene Band zwischen den Innovations- und den Produktionsaufgaben dadurch zu kitten, dass die Entwicklung der Fertigung an Niedriglohnstandorte folgt. Das wäre auch deshalb attraktiv, weil Handys entwicklungsintensiv sind und gerade dabei Personalkosten stark zu Buche schlagen. Allerdings birgt ein solcher Weg neue Risiken. Bei einer weitreichenden Verlagerung würde sich die Produktentwicklung von den Zielmärkten in Hochlohnregionen, ihren kulturellen Eigenheiten und Vorlieben entfremden, was bei solch stark modeabhängigen Konsumgütern fast unweigerlich fatale Effekte haben würde.
Zudem wird häufig nicht bedacht, dass firmeninterne Entwicklungsaktivitäten typischerweise in regionale Innovationsmilieus eingebunden sind, denen sie einen Teil ihrer Stärke verdanken. Eine Abkopplung von diesem Milieu wird dann prekär, wenn die technologische Entwicklung den gewohnten Pfad verlässt und Unternehmen - wollen sie den Anschluss nicht verpassen - schnell neues Wissen mobilisieren müssen. So könnte eine radikal zugespitzte Standortpolitik teuer erkauft sein, weil sie den Zugang zu langfristig wichtigen Entwicklungsressourcen gefährdet.
BÖCKLER-FORSCHUNG
DIE STUDIE
Volker Wittke und Ulrich Voskamp untersuchen in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt die "Chancen von Hochlohnstandorten in globalen Produktions- und Innovationsnetzwerken" am Beispiel der Handy-Branche. Das Projekt wird im Sommer 2008 abgeschlossen sein. Weitere Infos: uvoskam@gwdg.de