Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungEhrenamt Betriebsrat: Helden des Alltags
Hundertausende Arbeitnehmer vertreten in Deutschland neben ihrer Berufstätigkeit die Interessen ihrer Kollegen. Von ihrer aufreibenden Job-Betriebsrats-Balance plus den Auseinandersetzungen mit den Chefs ist viel zu selten die Rede. Von Stefan Scheytt
Das Betriebsratszimmer im Hotel-Rasthaus Seligweiler an der A 8, Ausfahrt Ulm-Ost, ist ein Eckkämmerchen im zweiten Stock, es ist etwa neun Quadratmeter klein und hat eine Dachschräge, an der sich die Betriebsräte regelmäßig den Kopf stoßen, wenn sie sich alle zwei Wochen mittwochs um 14 Uhr zu siebt um den kleinen Tisch drängen. Zur Runde gehören vier Frauen und drei Männer, alle nicht freigestellt, die im Hotel-Rasthaus als Etagenkräfte arbeiten, an der Rezeption, an der Tankstelle oder, wie die Vorsitzende Nicole Schirmer, als Postenchefin in der Küche.
Nicole Schirmer, weißer Küchenkittel, karierte Köchinnen-Hose, eine resolute Mittdreißigerin mit lockigen Haaren und einem eruptiven Lachen, seit 2004 dreimal zur Betriebsratschefin gewählt, sitzt am kleinen Tisch im kleinen Betriebsratszimmer und erzählt eine Geschichte, wie sie sich in deutschen Betrieben tausendfach abspielt. Es gibt in dieser Geschichte nichts Spektakuläres, und doch ist es in gewisser Weise die Geschichte vieler kleiner Alltags-Heldentaten, vollbracht von nicht freigestellten Arbeitnehmervertretern, von denen viel zu selten die Rede ist, obwohl sie doch rund 95 Prozent aller Betriebsräte stellen.
Zu den unspektakulären Heldentaten der Nichtfreigestellten im 140-Mitarbeiter-Rasthaus Seligweiler gehört zum Beispiel, dass es das Gremium überhaupt gibt. Jahrzehntelang galt nämlich die Devise der Chefs: Wir brauchen keinen Betriebsrat. Bis dann vor acht Jahren die Sorge umging, es gebe bald kein Weihnachtsgeld mehr. „Es war ein Megakampf, bis der Betriebsrat durchgesetzt war“, berichtet NGG-Mitglied Nicole Schirmer. Es sei auch ein Kampf gewesen, das kleine Eckzimmer im zweiten Stock zu bekommen. „Davor hatten wir eine bessere Abstellkammer mit einem Uralt-PC.“ Aber Schritt für Schritt gewannen die Arbeitnehmervertreter Terrain: Inzwischen haben sie drei Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit, zum Urlaub und zu den Kameras im Betrieb erstritten. Vieles sei jetzt ganz gut geregelt, was die Chefs früher einfach nach ihrem Gusto bestimmten, meint Schirmer. „Wir hatten scharfe Konflikte, aber seit eineinhalb Jahren läuft es ganz gut. Die Chefs haben akzeptiert, dass es uns gibt, wir sprechen jetzt auf Augenhöhe mit ihnen“, sagt Nicole Schirmer selbstbewusst, und man hat den Eindruck, dass sie an der ehrenamtlichen Aufgabe auch selbst gewachsen ist.
Das ist auch wichtig, weil in dem tariflosen OT-Betrieb noch einiges zu erreichen ist: Derzeit verhandeln Schirmer, ihre Kollegen und eine NGG-Funktionärin über einen Haustarifvertrag, in dem es nicht nur um höhere Stundenlöhne geht, sondern auch um die Festschreibung von Sonn- und Feiertagszuschlägen. „Wenn es da nicht weitergeht“, sagt die gelernte Köchin Nicole Schirmer, „gibt’s im Extremfall einen Warnstreik.“
UNDANKBARE ROLLE
Wann immer Nicole Schirmer Zeit für ihre Betriebsratsarbeit braucht, nimmt sie sich die so, dass ihre Kollegen in der Küche möglichst nicht darunter leiden. „Am Anfang war es nicht immer leicht, aber wir reden viel mit den Kollegen, erklären. Sie sind sehr einsichtig und flexibel, wenn es sein muss.“ Diesen Ur-Konflikt der Nichtfreigestellten mit ihren Arbeitskollegen würden gerade Chefs von kleineren Betrieben, in denen das Personal sehr knapp kalkuliert ist, regelrecht als Druckmittel einsetzen, weiß Claus-Harald Güster, beim NGG-Hauptvorstand unter anderem für Betriebspolitik zuständig. Und schon sind die nicht freigestellten Betriebsräte, die sich eigentlich für die Beschäftigten einsetzen wollen, in einen Konflikt mit Teilen der Belegschaft hineingezogen. Claus-Harald Güster spricht von einem „Mehrfrontenkrieg“.
Tatsächlich haben die Nichtfreigestellten, die mit geschätzten 470 000 Köpfen zahlenmäßig den Normalfall eines Betriebsrats darstellen, oft eine sehr undankbare Rolle, und kaum einer weiß das besser als Erhard Tietel, Professor an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen. Seit Jahren forscht und lehrt Tietel über Betriebs- und Personalräte, er hat viele Hundert von ihnen kennengelernt in Seminaren und Coachings, eine Praktikantin von ihm schreibt gerade über die Rollenkonflikte nicht freigestellter Betriebsratsvorsitzender.
Erhard Tietel beschreibt den nicht freigestellten Betriebsrat als einen Menschen, der sich oft sehr zerrissen fühlt von den verschiedenen Ansprüchen aus allen Ecken des Betriebs, der unter großem Rechtfertigungsdruck steht, den Gefühle der Schuld und Beschämung plagen: gegenüber Arbeitskollegen, denen er durch seine Abwesenheit als Betriebsrat Mehrarbeit auflädt; gegenüber Freigestellten, deren Ansprüchen er nicht genügt; gegenüber Kunden und der Familie, die er vernachlässigt; gegenüber Beschäftigten, die fragen: Wir haben dich gewählt, was hast du für uns erreicht?
Damit nicht genug: Betriebs- und Personalräte bekümmert, wenn sie feststellen, dass sie als Nichtfreigestellte ihren hohen gewerkschaftlichen Idealen nicht gerecht werden. Oder wenn sie merken, dass sie in ihrer Abteilung den fachlichen Anschluss verlieren und interessante Projekte an andere vergeben werden. Sie erleben Statusunsichertheit, weil sie einem Gremium angehören, das einen Abteilungsleiter herzitieren kann, der dem nicht freigestellten Betriebsratsmitglied aber am nächsten Tag wieder als Vorgesetzter begegnet. Sie empfinden Neid auf die Möglichkeiten und die hierarchische Ungebundenheit der freigestellten Kollegen. „Die Zugehörigkeit zu den innerbetrieblichen Kulturen der eigenen Abteilung und der des Betriebsrats verlangt den Nichtfreigestellten eine enorme Balanceleistung ab“, meint Tietel. „Nichtfreigestellte wollen beides mit ganzem Herzen und bekommen oft den Vorwurf, sie seien nur mit halbem Herzen dabei.“
KAPAZITÄTEN NUTZEN
Doch Erhard Tietel ist weit davon entfernt, die Nichtfreigestellten zu beklagenswerten, überflüssigen Figuren zu erklären, im Gegenteil: „Sie sind die Einzigen, die sich in beiden Kulturen auskennen. Deshalb kommt ihnen die entscheidende Funktion zu, durch ‚Übersetzungsarbeit‘ in beide Richtungen die Heterogenität der betrieblichen Realität zu spiegeln und so ein Verständnis des ganzen Betriebs herzustellen.“ Tietel geht noch weiter: „Die Nicht-Kommunikation der verschiedenen Beschäftigtengruppen ist eine Bedrohung für die Mitbestimmung. Ihre Zukunft hängt stark davon ab, ob es gelingt, sich stärker der Beschäftigten zu besinnen – und das geht nur mit den Nichtfreigestellten.“ Moderne Betriebsratsgremien sorgten deshalb für einen institutionellen Rahmen, in dem Nichtfreigestellte ihren Rollenkonflikt eben nicht individuell lösen müssen. „Im Betriebsrat alter Prägung gibt es den freigestellten Vorsitzenden und einige wenige andere, die praktisch alles an sich ziehen. Der professionelle Betriebsrat ist einer, der als arbeitsteilige Gruppe funktioniert, in der Freigestellte und Nichtfreigestellte ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechend eine Aufgabe haben.“ Alles andere wäre Verschwendung von Kapazitäten.
Jochen Homburg, Ressortleiter Betriebspolitik bei der IG Metall, setzt noch einen drauf: „Ein Betriebsrat würde ohne die Nichtfreigestellten gar nicht funktionieren. Als Scharnier in der Mitte sorgen sie für den Informationsfluss – und das ist doch überhaupt der Witz jedes Betriebsratsgremiums. Ohne Infos von der Basis ginge es dem wie manchen Unternehmenschefs, die in ihrem Elfenbeinturm nicht mehr greifbar sind für die realen Probleme.“ Der Preis für diese Scharnierfunktion der Nichtfreigestellten, das weiß Jochen Homburg aus eigener Erfahrung, ist freilich ein fortwährendes, oft belastendes Abwägen-Müssen zwischen widerstreitenden Interessen. Selbst jahrelang nicht freigestellter Betriebsrat in Dauernachtschicht beim Logistikunternehmen FedEx, kennt Jochen Homburg den Vorwurf der Kollegen: „Du bist ja gar nicht mehr im Job.“ Homburg löste das Problem so, dass er sich freitags – dem Großkampftag im Unternehmen – grundsätzlich nicht für Betriebsratsarbeit freistellen ließ. „Wenn ich mich an dem Tag abgemeldet hätte, hätten sie mir das extrem übel genommen.“
WEG VOM ARBEITGEBER-BETRIEBSRAT
Wie fundamental wichtig die Arbeit von Nichtfreigestellten sein kann, erzählt die Geschichte von Jürgen Stolz, heute stellvertretender Betriebsratsvorsitzender beim Kupplungshersteller LuK, der zum großen Automobilzulieferer Schaeffler gehört (weltweit 74 000 Mitarbeiter, 10,7 Milliarden Euro Umsatz in 2011). Im badischen Bühl und Umgebung beschäftigt LuK rund 4500 Mitarbeiter, die jahrzehntelang von einem Betriebsrat aus „Freien und Unabhängigen“ vertreten wurden. „In Wahrheit handelte das Gremium vor allem im Sinne des Arbeitgebers“, erzählt Jürgen Stolz. So gibt es bis heute keinen Tarifvertrag, die Arbeitnehmer-Nicht-Vertreter verzichteten freiwillig auf zwei von sieben Freistellungen im Betriebsrat, wie sie ihnen entlang ihrer Betriebsgröße im Betriebsverfassungsgesetz zugesichert werden; es gilt die 40-Stunden-Woche, und Betriebsversammlungen finden grundsätzlich sonntags statt.
Acht Jahre lang agierte Jürgen Stolz als nicht freigestellter Betriebsrat in einer quasi gewerkschaftsfreien Zone, und als bekannt wurde, dass er IG-Metall-Mitglied ist, musste er sich vor den Betriebsratskollegen in einer eineinhalbstündigen Sitzung erklären. „Mir standen Tränen in den Augen, ich war fix und alle hinterher“, berichtet Stolz. „Sie nötigten mich, meine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft am Aushang zu nennen“ – es sollte wie ein Pranger wirken. „Aber je mehr Konfrontation und Widerstand ich erlebte, umso stärker fühlte ich mich, umso sicherer war ich, auf dem richtigen Weg zu sein.“
Knapp zehn Jahre später läuft der groß gewachsene, schlanke 47-Jährige selbstbewusst mit einer IG-Metall-Nadel am Revers übers Betriebsgelände und erzählt, dass es inzwischen einige Dutzend Kollegen gebe, die das „Respekt“-T-Shirt der IG Metall am Arbeitsplatz trügen. 2010 holte eine offene IG-Metall-Liste zehn von 25 Betriebsratssitzen, die „Freien und Unabhängigen“ bekamen nur noch zwölf. „Das war ein Riesenerfolg, mit dem wir nie gerechnet hatten“, sagt der gelernte Kfz-Mechaniker, der als Lagerarbeiter bei LuK anfing und zuletzt technischer Angestellter im Prototypenbau war.
Noch längst ist Jürgen Stolz nicht dort, wo er sein will. Der Betriebsrat sei noch immer stark mit inneren Kämpfen absorbiert und vernachlässige die echte Vertretung der Belegschaft. „Es liegt noch sehr vieles im Argen, aber wir kämpfen weiter, und immer mehr Leute im Betriebsrat und in der Belegschaft spüren, dass sich etwas ändern muss“, sagt Jürgen Stolz und blickt schon zuversichtlich auf die nächsten Wahlen. Seit der erfolgreichen Betriebsratswahl 2010 ist er freigestellt, er hat jetzt ein großes Büro, am Türschildchen steht sein Name und der Zusatz „IGM-Gewerkschaftsmitglied“ – sehr zum Ärger mancher Leitender bei LuK. Im Vergleich zu früher, wenn er mit den Arbeitskollegen nur direkt am Band oder im Vesperraum sprechen konnte, sei das eigene Büro jetzt ein großer Fortschritt. Aber als „Betriebsrat zweiter Klasse“ habe er sich auch als Nichtfreigesteller nie gesehen: „Ich hab mich immer als Betriebsrat erster Klasse gefühlt, weil ich wusste, dass wir die Probleme wirklich angehen.“
Text: Stefan Scheytt / Foto: Christoph Pueschner/Zeitenspiegel