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Magazin Mitbestimmung: Haben die Verbraucher Milliarden zu viel gezahlt?
Die Öffnung des Energiemarktes sollte den Verbrauchern dienen. Doch die Konzerne sind mächtiger als je zuvor. Ein Streitgesräch zwischen Holger Krawinkel, Verbraucherschützer, und Erhard Ott, Gewerkschafter.
Das Gespräch moderierten Kay Meiners und Christoph Mulitze.
Herr Krawinkel, Herr Ott, seit der Marktöffnung kann jeder Haushalt in Deutschland seinen Stromlieferanten frei wählen. Tatsächlich haben nur fünf Prozent der Haushalte gewechselt. In Großbritannien sind es 50 Prozent. Woher kommen solche Unterschiede?
Krawinkel: Es gibt bei uns nur wenige breit aufgestellte Stromanbieter, die die Kunden als echte Alternative wahrnehmen. Als neues Unternehmen müssen Sie am Markt präsent sein, Durststrecken überstehen können. Man braucht Ressourcen. Außerdem behindern die etablierten Anbieter den Wettbewerb. Ihre Übertragungsnetze stellen natürliche Monopole da. Zwar müssen sie die Netze auch Konkurrenten zur Verfügung stellen, aber die Entgelte, die sie dafür verlangen, sind hoch. Viele Neue sind schon wieder vom Markt verschwunden.
Die Bundesnetzagentur, die die Entgelte genehmigen muss, hat am 8. Juni entschieden, dass Vattenfall die Preise für das Hochspannungsnetz um zwölf Prozent senken muss. Weitere Bescheide werden für die anderen Unternehmen erwartet. Ein Glückstag?
Krawinkel: Ja - und das ist erst der Anfang. Die Durchleitungsentgelte machen rund ein Drittel des Strompreises nach Steuern aus. Ich erwarte, dass sie auch für den weiteren Transportweg, das Mittel- und Niederspannungsnetz, um jeweils mindestens 15 Prozent abgesenkt werden. Richtig spannend wird es 2008, wenn die Kostenregulierung von heute durch eine Anreizregulierung abgelöst wird. Die Netzagentur wird dann nicht mehr die realen Kosten für die Netze prüfen wie heute, sondern Höchstpreise festlegen, die sich an den jeweils effizientesten Unternehmen orientieren.
Ott: Wir sehen das naturgemäß etwas anders. Es ist unstrittig, dass allen ein diskriminierungsfreier Zugang zu den Netzen ermöglicht werden muss. Allerdings haben wir erhebliche Bedenken gegenüber dem Vorgehen der Bundesnetzagentur. Die Bescheide wird man sich sehr genau ansehen müssen. Nur ein Bespiel: Es ist beabsichtigt, die Personalnebenkosten, die freiwillige Leistungen ebenso umfassen wie Leistungen auf Grund gesetzlicher und tariflicher Bestimmungen, generell bei 25 Prozent der Personalkosten zu deckeln.
Wenn das Grundlage für die Bemessung der Netzentgelte wird, kriegen wir ein Riesenproblem. Das habe ich Matthias Kurth, dem Präsidenten der Bundesnetzagentur, auch so gesagt. Er greift damit mittelbar in die autonome Gestaltung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge ein.
Kann man ausschließen, dass hier und da besonders gute Sozialleistungen durch überhöhte Preise finanziert worden sind?
Ott: Es gibt unterschiedliche Verträge mit unterschiedlichen Niveaus. Das muss bei der Genehmigung der Netzentgelte mit berücksichtigt werden. Wir haben im Laufe der Jahrzehnte ein akzeptables Tarifniveau durchgesetzt, und das ist angesichts der guten Ertragslage auch gerechtfertigt. Die Hoffnung auf billige Energie, die von der Politik geschürt wird, wird sich nicht auf dem Weg der Netzregulierung erfüllen lassen. Deren Wirkung auf die Strompreise ist doch ganz gering. Die Senkungen der Entgelte für die Hochspannungsnetze machen für einen Normalhaushalt etwa 2,50 Euro im Jahr aus.
Krawinkel: Wenn man davon ausgeht, dass die Netzentgelte auf allen Spannungsebenen um rund 15 Prozent gesenkt werden, so kann der Strom, der heute knapp 20 Cent pro Kilowattstunde kostet, einen Cent billiger angeboten werden. Für einen normalen Haushalt, der im Schnitt 3500 Kilowattstunden im Jahr verbraucht, macht das etwa 35 Euro aus. Das ist schon etwas mehr als in Ihrer Rechnung, Herr Ott. Die Beträge erscheinen klein - aber über die Jahre haben die Verbraucher Milliarden zu viel bezahlt.
Ott: Meine Rechnung war nur auf das Hochspannungsnetz bezogen. Bei der Betrachtung aller Verteilnetze können wir vielleicht auf 20 oder 30 Euro im Jahr kommen. Aber auch das ist marginal.
Krawinkel: Zusätzlich erwirtschaften die großen Konzerne aber Oligopolrenten. Sie erzeugen den Strom billig, für rund 20 oder 25 Euro die Megawattstunde, können ihn aber an der Leipziger Strombörse für das Doppelte verkaufen - zum Teil an ihre eigenen Handelsgesellschaften.
Herr Ott, Sie sitzen seit einem Jahr im Aufsichtsrat der E.on AG - einem Unternehmen, das den Anspruch hat, der weltgrößte Energiekonzern zu werden. Fällt der Mitbestimmung hier - über die Vertretung der Arbeitnehmer hinaus - eine besondere gesellschaftliche Verantwortung zu?
Ott: Eine gesellschaftliche Verantwortung haben alle Energieunternehmen. Es geht dabei um Fragen der nationalen Energieversorgung und der sicheren Energieversorgung. Dass wir vier große Konzerne in Deutschland haben, ist eine Folge der Liberalisierung. Das wird heute oft von denen beklagt, die die Marktöffnung einst propagierten. Insofern sind das Krokodilstränen. Die Entscheidung, dass Strom gehandelt wird und sich an der Börse ein Marktpreis bildet, ist eine Folge dieser Politik.
Sie bedauern die Liberalisierung?
Ott: Das zu diskutieren ist müßig. Die Entscheidungen sind gefallen. Eine Vorgängerorganisation von ver.di, die ÖTV, hat diesen Weg bekämpft, weil die Folgen, die wir jetzt erleben, absehbar waren. Dass damals zehntausende Arbeitnehmer auf der Straße waren, hat nichts genützt. Es gab - nicht parlamentarisch, aber faktisch - eine große Koalition, die die Liberalisierung durchgesetzt hat.
Krawinkel: Dass es zu der starken Konzentration kam, lag meines Erachtens daran, dass Deutschland als einziger aller EU-Staaten zunächst auf eine Regulierungsbehörde verzichtete. Die Bundesnetzagentur, die wir jetzt haben, wurde von der EU quasi erzwungen. Die EU konnte Gebietsmonopole aufbrechen, es gelang aber nicht, ein ausgewogenes Spielfeld für alle Akteure zu schaffen. Hinzu kommt, dass die alte Bundesregierung unter Gerhard Schröder die Strategie verfolgte, nationale Champions zu schaffen.
Ott: In der EU-Politik gibt es massive Widersprüche. Man will den Wettbewerb einerseits und Versorgungs- und Beschäftigungssicherheit sowie den Klimaschutz andererseits unter einen Hut bringen. Das funktioniert nur mit klaren Spielregeln. Mit Beginn der Liberalisierung sind die Energieversorger aufgefordert worden, Überkapazitäten abzubauen, um den Strompreis senken zu können. Nach den Blackouts in den USA oder Großbritannien hat man das Thema Versorgungssicherheit wiederentdeckt. Brüssel wollte die Unternehmen zwingen, Geld in die Netze zu stecken - das ist genau das Gegenteil von Liberalisierung.
Krawinkel: Solche Widersprüche hängen mit den unterschiedlichen nationalen Traditionen zusammen. Wir beobachten einerseits das britische Modell, das stark auf Liberalisierung in allen Bereichen setzt ...
Ott: ... mit negativen Folgen für die Qualität der Netze.
Krawinkel: Darauf komme ich gleich. Das andere Modell ist das französische, das stark auf Abschottung vom Marktgeschehen setzt. Wir befinden uns in der Mitte. Es gibt ja dieses Sprichwort: "In Gefahr und größter Not, bringt der Mittelweg den Tod." Der Mittelweg war in diesem Fall tatsächlich das schlechteste Konzept. Die einzigen, die für mich vernünftige Antworten gefunden haben, sind die kleineren EU-Staaten wie die Niederlande, Dänemark und Schweden.
Was haben diese Länder denn besser gemacht?
Krawinkel: Dort hat man gleich gesehen, wo Liberalisierung stattfinden kann, nämlich in der Erzeugung, möglicherweise im Vertrieb, aber nicht im Netz. Die dänische Regierung hat dafür gesorgt, dass das Netz wieder verstaatlicht wird. In Schweden ist das Netz auch staatlich. In Großbritannien ist es privatisiert, aber getrennt von den Erzeuger- und Handelsstrukturen. Wir stehen da erst am Anfang einer Diskussion.
Ott: ver.di ist gegen das eigentumsrechtliche Unbundling, also die strikte Trennung zwischen Energielieferanten und Netzbetreibern, die in Brüssel diskutiert wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sinnvoll ist, eine intakte Wertschöpfungskette von der Erzeugung bis zum Endverbraucher zu zerschlagen, mit der Kundennähe, die das zum Beispiel bei den Stadtwerken bedeutet.
Krawinkel: Das Wort "Zerschlagung" klingt immer so dramatisch. Gesellschaftsrechtlich sind - auch das eine Vorgabe aus Brüssel - Erzeugung und Transport ja schon heute getrennt. Was wir fordern, ist eine Änderung in der Eigentümerstruktur. Ich bin sicher, dass Netz und Erzeugung früher oder später strikt getrennt werden. Was ich allerdings schlecht fände: wenn wir wieder so unvorbereitet in die Diskussion gehen und das rein privatrechtlich lösen würden. Es muss auch über eine öffentlich-rechtliche Lösung nachgedacht werden.
Ott: Die Verteilnetze, etwa bei den Stadtwerken, sind doch vielerorts in öffentlicher Hand.
Krawinkel: Sofern die Kommunen noch Anteilseigner sind. Das ist ja längst nicht mehr überall der Fall.
In den Kommunen geht es nicht nur um Kundennähe. Es geht auch um Arbeitsplätze und um Quersubventionierungen, aus denen öffentliche Dienstleistungen finanziert werden. Kommunale Versorger können eine fiktive Gewerbesteuer geltend machen, die mit Überschüssen anderswo verrechnet wird. Wenn ich Strom kaufe, will ich aber nicht unbedingt ein Schwimmbad mitfinanzieren.
Ott: Das Energiewirtschaftsgesetz sieht vor, dass der steuerliche Querverbund Finanzierungsbestandteil der Kommunen bleibt. Die Bundesnetzagentur stellt diesen Querverbund jedoch in Frage. Wer das tut, der muss realistische Alternativen aufzeigen, was die Gemeindefinanzen angeht. Der Querverbund ist für uns eine zwingende Voraussetzung, um andere öffentliche Leistungen aufrechterhalten zu können. Wir werden im Herbst auf erhebliche Konflikte zulaufen, wenn daran gerüttelt wird. Die kommunale Selbstverwaltung würde so ausgehöhlt.
Krawinkel: Ich will nicht in die neoliberale Ecke gestellt werden, aber eine solche Finanzierung ist natürlich völlig intransparent. Wo eine nicht bezahlte Gewerbesteuer als Kostenstelle akzeptiert wird, sind Bedenken angebracht. Allerdings müsste man sich bei der Abschmelzung der Monopolrenditen aus den kommunalen Netzen Gedanken über die gesamte kommunale Finanzierung machen. Das Problem ist, dass im Großen wie im Kleinen über Jahrzehnte diese Intransparenzen aufgebaut worden sind, die man längst hätte anpacken müssen.
Ott: Muss man deshalb das Netz zu einer Handelsware machen? Die Frage ist doch, wer überhaupt genug Geld hat, um die Netze zu übernehmen. Vielleicht kommen dann Finanzinvestoren, die ganz andere Interessen haben als die Energieunternehmen heute?
Krawinkel: Die Sorge teilen wir. Aus solchen Überlegungen heraus sind wir auch bei der Bahnreform dagegen, die Bahn samt Bahnnetz an die Börse zu geben. Da haben Ihre Kollegen von Transnet, Herr Ott, bisher andere Positionen vertreten. Das Netz ist Teil der öffentlichen Infrastruktur. In Dänemark sind Strom- und Gasnetze entschädigungsfrei an die öffentliche Hand zurückgegangen - mit der Begründung, dass das Netz von den Verbrauchern bezahlt ist.
Das bedeutet eine Enteignung?
Krawinkel: Ja.
Ott: Da gibt es nachhaltige Bedenken, auch verfassungsrechtlicher Art.
Krawinkel: Ich sehe hier eine andere Entwicklung. Mit den fallenden Renditen durch die Netzregulierung wird das Interesse der Aktionäre am Netzeigentum ebenfalls deutlich sinken.
Lassen Sie uns auch über Beschäftigung reden. England hat heute einen funktionierenden Energiemarkt, hat aber zwei Drittel der Arbeitsplätze verloren. In Frankreich gab es bisher kaum Verluste. Ist das der wahre Grund für die Skepsis der Gewerkschaften gegenüber der Liberalisierung?
Ott: Ich weine nicht vergangenen Zeiten hinterher. Frankreich hat seinen Markt für Haushaltskunden bisher nicht geöffnet, wird es aber nach EU-Recht bis Mitte 2007 tun müssen. Aber auch wir haben beschäftigungspolitische Baustellen, mit denen wir uns in nächster Zeit massiv befassen werden. Das sind zum einen die Neuinvestitionen: Ein Kraftwerk, das neu gebaut wird, kommt mit deutlich weniger Personal aus als die Anlagen, die wir heute haben. Der sensibelste Bereich bleiben die Netze. Uns geht es darum, wie hier Beschäftigung garantiert und sichergestellt werden kann.
Sind die Gewerkschaften mit ihren Sitzen in den Aufsichtsräten aus der Sicht der Verbraucherschützer Verbündete im Kampf für eine nachhaltige, fair bezahlte Energieversorgung, oder sind sie als Teil eines Kartells gegen mehr Wettbewerb?
Krawinkel: Ich nehme die Gewerkschaften differenziert wahr. Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass es bei der Diskussion um die Liberalisierung ähnliche Positionen gab. Die Skepsis war bei Verbraucherschützern und Gewerkschaften da. Mit Recht. Aber den Wettbewerb können wir nicht aufhalten. Jetzt müssen die Regeln so ausgestaltet werden, dass sie den Verbrauchern zugute kommen. Da sehen wir noch etliche Mängel.
Und die Frage nach der Beschäftigungsentwicklung?
Krawinkel: Ich würde die Befürchtung vieler Gewerkschafter nicht teilen, dass das Beschäftigungssaldo am Ende negativ ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir im Bereich der erneuerbaren Energien verlorene Arbeitsplätze ausgleichen können. Es gibt so viel zu tun: bei der Gebäudesanierung, bei der Erneuerung von Heizungsanlagen, bei dezentraler Energieversorgung. Wir müssen die ganze Branche betrachten, nicht nur Teilbereiche.
Ott: Je mehr liberalisiert sind, desto mehr Druck gibt es auf die Preise und auf Sozialstandards. Ungeregelter Wettbewerb belastet unmittelbar die Beschäftigten. Er wirkt sich auch auf die Zahl der Beschäftigten insgesamt aus. Das können sie nicht bestreiten. Ganz massiv erleben wir das derzeit bei der Abfallwirtschaft.
Herr Krawinkel, finden Sie es ungerecht, dass Herr Ott als Gewerkschaftsvertreter in einem Aufsichtsrat sitzt, Sie als Verbraucherschützer aber nicht?
Krawinkel: Ich bin entschieden der Ansicht, dass die Verbraucherverbände in die Aufsichtsräte der Netzgesellschaften gehören. Denn dort geht es um die Verbraucherinteressen. In die betriebliche Mitbestimmung wollen wir aber nicht eingreifen, das ist nicht unsere Baustelle.