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Magazin Mitbestimmung

: Gewinner und Verlierer

Ausgabe 12/2006

Noch ist es zu früh für eine endgültige Bilanz der Reformen, die die Arbeitsverwaltung und den Arbeitsmarkt verändern sollten. Doch die pauschale Behauptung, sie hätten die Armut vermehrt, führt in die Irre.



Von Erika Mezger
Dr. Mezger leitet die Abteilung Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung.


Gerade vier Jahre sind vergangen, seit im August 2002 die Reformkommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" unter Vorsitz von Peter Hartz ihre Ideen vorstellte, die die Verkrustungen in der Arbeitsmarktverwaltung und am Arbeitsmarkt aufbrechen sollten. Mit Kritik an den Gesetzen, mit denen die Vorschläge der Kommission, vielfach modifiziert, schließlich in Politik umgegossen wurden, wird seitdem nicht gespart. "Die total verrückte Reform" titelte der Spiegel und sprach von einem "Milliardengrab". Die Reformen, so hört man oft, seien nicht nur ineffizient, sondern auch ungerecht.

Der SPD-Politiker Ottmar Schreiner geißelte kürzlich die Arbeitsmarktpolitik der früheren rot-grünen Bundesregierung: "Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht über uns gekommen. Sie sind das Ergebnis der Politik von Gerhard Schröder." Die Reform, so Schreiner, hätte dazu geführt, dass "Millionen Menschen keine Chance mehr haben, aus dem Niedriglohnsektor mit seinen Hungerlöhnen herauszufinden". Schelte gibt es auch vom Präsidenten des Sozialverbands VdK, Walter Hirrlinger. Gerade Hartz IV, also die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Beginn des Jahres 2005, so seine Bewertung, habe viel zu den sozialen Problemen in Deutschland beigetragen: "Damit sind viele Menschen in die Unterschicht getrieben worden."

Aber gibt es möglicherweise auch Reform-Gewinner? Wie sind die Mehrausgaben seit den Reformen zu erklären? Und haben die Reformen nicht am Ende doch Fehlanreize beseitigt und eine umfassende Modernisierung der Verwaltung eingeleitet? Lange vor den Hartz-Reformen wurden in Deutschland die Weichen für einen zunehmend flexibilisierten Arbeitsmarkt gestellt. Mit den Reformen hat dieser Prozess allerdings erheblich an Tempo gewonnen. Denn mit ihnen wurden umfassende Veränderungen eingeleitet, die sich auf die Institutionen des Arbeitsmarkts, das Leistungsrecht und die Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik erstrecken.

Belastbare Ergebnisse sollten ursprünglich nach drei Jahren vorliegen. Der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Evaluierung zu Hartz I bis III war für Sommer dieses Jahres angekündigt. Bislang ist dieser aber noch nicht von der Bundesregierung freigegeben worden. Die Evaluation zu Hartz IV wurde in einer gesonderten Evaluation 2005 vergeben. Ergebnisse sind Mitte 2008 zu erwarten. Schon heute zeichnet sich aber ab, dass das Reform-Werk tatsächlich positive Impulse ausgelöst hat und dass mit ihm hartnäckige Strukturprobleme des Arbeitsmarktes in Angriff genommen wurden. Das Ziel, die Beschäftigung zu stimulieren, wird nachhaltig aber nur erreicht werden, wenn der zarte Aufschwung, den die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute und der Sachverständigenrat diagnostiziert haben, sich stabilisiert.

Die Arbeitsverwaltung als Dienstleister

Die frühere Bundesanstalt für Arbeit, jetzt Bundesagentur für Arbeit, soll zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen umgebaut werden. Noch im Jahr 2000 galt sie als ineffizienter, bürokratischer Moloch. Bis dahin hatte sie nur zaghafte Modernisierungsschritte eingeleitet. Das Reformprojekt "Arbeitsamt 2000", das bereits 1994 angelaufen war, steckte noch immer in seiner Anfangsphase. Erst nachdem im Jahr 2002 der Bundesrechnungshof gravierende Fehler in der Vermittlungsstatistik festgestellt hatte und in der Folge die Hartz-Kommission eingesetzt worden war, zog das Reformtempo an.

Aus verkrusteten Behörden sollen nach dem Willen der Reformer moderne "Kundenzentren" werden. Dieser Prozess ist längst nicht abgeschlossen. Das neue Organisationsmodell, das diesem Plan zu Grunde liegt, kann tatsächlich zu einer effektiveren Arbeitsweise beitragen und die Qualität der Dienstleistungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber erhöhen.

Kernstück der Reform ist das so genannte "Fallmanagement". Arbeitssuchende, zu denen jetzt auch die früheren Sozialhilfeempfänger gehören, sollen "aktivierende Hilfe" erfahren, indem ihnen individuell zugeschnittene Förderangebote zuteil werden, um sie schnellstmöglich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Beim ersten Kontakt mit einem Arbeitssuchenden muss ein Mitarbeiter der Arbeitsagentur, der so genannte "Fallmanager", diesen klassifizieren.

Die Bewerber werden dazu in vier Gruppen eingeteilt: die eher gut qualifizierten "Marktkunden", von denen man glaubt, dass viele sich selbst wieder einen Job verschaffen können, dann zwei Gruppen von "Beratungskunden", bei denen Hoffnung auf Vermittlung besteht, und schließlich die "Betreuungskunden", die am regulären Arbeitsmarkt oft kaum unterzubringen sind.

Dieses Verfahren ist sinnvoll, um jedem eine maßgeschneiderte Begleitung anbieten zu können - und doch wirft es in der Praxis immer wieder Fragen auf. Die Schnittstellen zwischen dem SGB II, das die Grundsicherung für Arbeitssuchende regelt, und dem SGB III, das Vorschriften zur Arbeitsförderung enthält, sind noch nicht hinreichend geklärt.

Erste Ergebnisse des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojektes "Erfolgsfaktoren für ein integriertes Fallmanagement" unter Federführung des Soziologen Claus Reis, Professor an der Fachhochschule Frankfurt, weisen darauf hin, dass es sinnvoll ist, die Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume der Mitarbeiter deutlich zu erweitern und diese entsprechend zu qualifizieren.

"Fordern und Fördern" als neues Paradigma

Zum Versuch, den Service zu verbessern, kommt ein neues Leistungsrecht hinzu, bei dem das Prinzip "Fordern und Fördern" im Mittelpunkt steht. Im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit erhält der Arbeitssuchende das Arbeitslosengeld (ALG) I, danach dann das ALG II, besser bekannt als Hartz IV. Mit dieser Grundsicherung verbindet der Gesetzgeber drei zentrale Ziele: die Sicherung des Lebensunterhalts, die Stärkung der Eigenverantwortung und die Unterstützung bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Im Klartext: Die Sicherung des Lebensunterhalts wird verknüpft mit aktiver Unterstützung bei der Aufnahme der Erwerbstätigkeit.

Die Orientierung am Arbeitsmarkt wird zur Leitlinie aller Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Dieses neue Paradigma verlangt eine Zusammenarbeit, die voraussetzungsvoll ist. Nach wie vor strittig sind die Mittel, mit denen die Effizienz der Vermittlung gesteigert werden soll und mit denen mehr Arbeitssuchende in Jobs vermittelt werden sollen. Die ursprünglich hohen Erwartungen etwa in PersonalService-Agenturen (PSA), in Vermittlungsgutscheine und verschärfte Sperrzeiten wurden nicht erreicht.

Schon jetzt wird erkennbar, dass die Balance von "Fordern und Fördern" ausgewogener sein müsste. Es hilft am Ende nicht, Leute zu aktivieren, die keine realistische Chance auf reguläre Beschäftigung haben. Im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass man den Hartz-Reformen nicht die immer noch vergleichsweise bescheidene wirtschaftliche Lage anlasten kann.

Die Umsetzung bereitet Probleme

Längst nicht absehbar ist, wie sich das Nebeneinander von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit bei der Betreuung der Arbeitslosen im Umgang mit Hartz-IV-Empfängern bewährt. Statt sich auf ein organisatorisches Modell zu einigen, hat sich die Politik für ein experimentelles Nebeneinander entschieden.

Im Kern sind es zwei verschiedene Konzepte, die bis zum Jahr 2008 nebeneinander erprobt werden sollen. Derzeit 354 Arbeitsgemeinschaften, in denen die Arbeitsagenturen und die Kommunen und damit die früheren Sozialämter in einer so genannten "Mischverwaltung" zusammenarbeiten, stehen 69 sogenannte Optionskommunen gegenüber, die sich in einem Modellversuch um die Grundsicherung kümmern.

Gerade die "Mischverwaltung", wie die Arbeitsgemeinschaften sie praktizieren, krankt deshalb an organisatorischen Mängeln. Kompetenzstreitigkeiten und Unklarheiten darüber, wer für das Personal, das Budget und das Sachvermögen zuständig ist, behindern die Erledigung wichtiger Aufgaben. Gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, untersuchen Wissenschaftler unter Führung von Günther Schmid, Arbeitsmarktforscher am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), in dem Projekt "Effizienzmobilisierung der Arbeitsmarktpolitik", warum einzelne Arbeitsagenturen effizienter arbeiten als andere.

Ihre Fallstudien haben gezeigt, dass die Effizienz vieler Arbeitsagenturen noch gesteigert werden kann - z.B. durch vereinfachte Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, durch eine Konzentration auf die Vermittlung statt ständigem Aktionismus, durch Arbeitsroutinen und den Einsatz moderner EDV. Diese Prozesse sind langfristig angelegt. Die Kurzzeit-Analysen erlauben daher noch keine detaillierten Aussagen.

Hartz IV hat kaum Folgen für die Armutsquote

Man kann nicht bestreiten, dass die Hartz-Reformen erhebliche Friktionen verursacht haben. Aber stimmt es auch, dass Hartz IV die Menschen massenweise in die Armut gestürzt hat? Die ersten Untersuchungen zu den Verteilungseffekten von Hartz IV zeigen ein differenzierteres Bild.

Die Frankfurter Verteilungsforscher Irene Becker und Richard Hauser haben auf der Basis von Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) das Ausmaß der Bedürftigkeit im Jahr 2004 - also kurz vor der Hartz-IV-Reform - geschätzt und mit aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) verglichen. Richtig ist, dass drei Fünftel der ehemaligen Arbeitslosenhilfe-Empfänger durch Hartz IV Einkommensverluste hinnehmen mussten, wogegen zwei Fünftel besser gestellt sind.

Überdurchschnittlich häufig von Verschlechterungen betroffen sind Ostdeutsche sowie Frauen und ältere Arbeitslosenhilfe-Bezieher. Das Haushaltseinkommen dieser Reform-Verlierer verminderte sich um durchschnittlich 20 Prozent. Mit weniger auskommen müssen vor allem die, deren Einkommen vor der Arbeitslosigkeit relativ hoch war, darunter viele Langzeitarbeitslose.

Denn Hartz IV koppelt die Leistungsbemessung vom früheren Erwerbseinkommen ab. Auch für 80 bis 90 Prozent der Personen, die Arbeitslosenhilfe bezogen, aber deren Lebenspartner Arbeit hat, sind die Einkommen gesunken. Ein großer Teil der Betroffenen rutschte dadurch unter die relative Armutsgrenze - das bedeutet, dass er von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens leben muss.

Die Hartz-IV-Gewinner sind kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Geringverdiener. Viele von ihnen hatten zuvor in verdeckter Armut gelebt. Dazu zählen vor allem Arbeitslosenhilfe-Bezieher, die keine aufstockende Sozialhilfe in Anspruch genommen haben. Positiv wirkt sich insbesondere aus, dass nach der Neuregelung nun auch der Bedarf der Kinder berücksichtigt wird und der Staat die Unterkunftskosten trägt. Durchschnittlich erhöhte sich das Haushaltseinkommen dieser Gruppen durch Hartz IV um 18 bis 30 Prozent.

Auf die Armutsquote selbst hat sich - nach Becker und Hauser - die Einführung von Hartz IV bisher nur wenig ausgewirkt, denn die Bezieher von ALG II machen nur rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Verteilungsforscher rechnen damit, dass sich die Armutsquote als Folge der zum Arbeitslosengeld II zusammengefügten Arbeitslosen- und Sozialhilfe um lediglich plus 0,5 bis 1 Prozent erhöht haben könnte.

Gleichzeitig aber können Arbeitslose, die früher den Gang zum Sozialamt scheuten, nun ihre Ansprüche direkt bei der Arbeitsagentur anmelden. Insgesamt gibt es im Moment zirka 900 000 Aufstocker, deren Bezüge jetzt höher sind als früher. Becker und Hauser gehen davon aus, dass die Zahl der Menschen, die das Recht auf solche Aufstockungen haben, sogar drei mal so hoch ist.

Doch dies kann nicht der Hartz-Gesetzgebung angelastet werden. Vielmehr muss man vermuten, dass vor allem die gering Qualifizierten, Teilzeitbeschäftigten, die keine Stelle finden, sowie Familien mit drei oder mehr Kindern ihren Anspruch auf staatliche Grundsicherungsleistungen vor allem deshalb nicht wahrnehmen, weil sie ein Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Anerkennung und einer längerfristigen Lebensperspektive haben und das kurzfristige wirtschaftliche Kalkül nicht im Vordergrund steht.

Ingesamt haben in Deutschland rund zehn Millionen Menschen einen gesetzlichen Anspruch auf ALG II oder auf Sozialgeld. Die Politik muss sich fragen, wie damit umzugehen ist. Es hat immer verdeckte Armut gegeben - aber sie wird durch die Hartz-Gesetze erstmals offengelegt.

Die Hartz-Reformen haben die prekären Lebenslagen in unserem Land sichtbarer gemacht und damit eine wichtige Voraussetzung geschaffen, Armut und ihre Ursachen zu bekämpfen. Für einen vorsorgenden Sozialstaat stellt dies eine Herausforderung dar, für die erste Lösungskonzepte, etwa Kombilöhne oder Mindestlöhne, derzeit diskutiert werden. Es ist aber unredlich, diesen gesellschaftspolitisch beunruhigenden Tatbestand der Hartz-Reform zur Last zu legen.


 


Internet
Das gemeinsam von der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall geförderte Projekt MonApoli (Monitor Arbeitsmarktpolitik) begleitet kritisch die Umsetzung der Arbeitsmarktreform:
www.monapoli.de


Die Hartz-Reform und ihre Folgen
Einen Überblick über wichtige Forschungsergebnisse zur Arbeitsmarktpolitik bietet eine Broschüre der Hans-Böckler-Stiftung mit zahlreichen weiterführenden Literaturangaben. Sie kann unter der Bestellnummer 30299 kostenlos angefordert werden bei: Der Setzkasten GmbH, Düsseldorf, Telefon 0211/40800900, Fax 0211/408009040 oder per E-Mail: mail@setzkasten.de

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