Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Gewerkschafts-Hausaufgaben
MOE-LÄNDER-TAGUNG Besorgt über den geringen Gewerkschaftseinfluss in den mittel- und osteuropäischen Ländern, will IG-Metall-Chef Berthold Huber die europäischen Branchen- und Gewerkschaftsdachverbände stärken.
Von HERIBERT KOHL, Publizist und Berater/Foto: Jürgen Seidel
Europa befindet sich an einer entscheidenden Wegmarke. Wird es künftig ein soziales Europa geben, das von seinen Bürgern und Arbeitnehmern bejaht wird? Oder bleibt es bei einem bloß geografischen Rahmen für grenzenlosen Wettbewerb? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der diesjährigen MOE-Konferenz im slowenischen Kranjska Gora, veranstaltet von der Otto-Brenner-Stiftung (OBS) in Kooperation mit Hans-Böckler- und Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Europäischen Gewerkschaftsinstitut (EGI). Über 200 Gewerkschafter aus 17 vor allem mittelosteuropäischen Ländern debattierten, wie die Position der Gewerkschaften im erweiterten Europa gestärkt werden kann. Die soziale Schieflage der EU zeige sich in zunehmender Beschäftigungsunsicherheit wie auch in der Rechtsprechung des EuGH (siehe Interview Seite 18).
MEHR BETEILIGUNG_ IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber sagte in seiner Rede, um die "wirtschaftsliberale Schlagseite" zu überwinden, sei eine entschiedene Stärkung der Gewerkschaften nötig. Der Schlüssel dafür sei mehr Beteiligung und gewerkschaftliche Verankerung auf betrieblicher Ebene. Insbesondere gerichtet an die Teilnehmer aus den neuen EU-Mitgliedsländern warb der IG-Metall-Chef für das duale System aus Gewerkschaften und Betriebsräten. Huber forderte daran anknüpfend die aktive Umsetzung der EU-Richtlinie zur Information und Konsultation. Ein "zentraler Baustein" gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit sind für Berthold Huber die Europäischen Betriebsräte als "einzig wirkliche europäische Institution der Interessenvertretung". Bei der jetzt anstehenden Richtlinien-Revision müsse die EU "Farbe bekennen" und die Rechte der EBR präzisieren.
Aber auch die Gewerkschaften müssen ihre Hausaufgaben machen. Angesichts der hohen politischen und rechtlichen Bedeutung der EU - insbesondere für die nationale Gesetzgebung - sei die gewerkschaftliche Präsenz in Brüssel "völlig unzureichend", so Huber. Daher müsse eine "durchsetzungsstarke Dachorganisation" geschaffen werden, die einen ähnlichen Druck entfalten kann wie andere in Brüssel tätige Lobbyorganisationen. Notwendig dafür sei eine gewisse "Umschichtung" der Finanzmittel der Gewerkschaften, sagte Huber in der Diskussion.
FEHLENDE ANREIZE_ Das Warschauer Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung hat Gewerkschafter in den zwölf osteuropäischen EU-Mitgliedsländern zu Gewerkschaftsrechten und Koalitionsfreiheit befragt. Ergebnis: Es gibt erhebliche strukturelle Hemmnisse, die einen Gewerkschaftsbeitritt erschweren. So sind in Polen und den baltischen Ländern die rechtlichen Mindestanforderungen für die Gründung einer betrieblichen Basisorganisation relativ hoch. Hinzu kommen rechtliche Restriktionen bei der Bildung von Betriebsräten, bei Tarifverhandlungen oder bei Arbeitskämpfen.
Außerdem entstand beim Übergang zu Marktwirtschaft und Privatisierung eine Vielzahl kleinerer Betriebe ohne gewerkschaftliche Tradition und Anbindung. Der Organisationsgrad brach beim Wechsel zur freiwilligen Mitgliedschaft um fast die Hälfte ein und sinkt mit wenigen Ausnahmen - Slowenien, Slowakei sowie neuerdings auch Ostdeutschland. Arbeitnehmervertretungen fehlen insbesondere in kleineren und mittleren Unternehmen. Gewerkschaftsvertretungen vor Ort sind aber vor allem deshalb erforderlich, weil in Osteuropa Firmentarifverträge dominieren. Flächenverträge bilden nach wie vor die Ausnahme, da Arbeitgeber sich solchen Abschlüssen verweigern. So ist die Tarifbindung vergleichsweise niedrig. Vielfach wird nur der gesetzliche Mindestlohn gezahlt, der oft auch Richtschnur für den Mitgliedsbeitrag ist. Der Mindestlohn liegt allerdings regelmäßig unter der Armutsgrenze. Einige Arbeitgeber stocken ihn unter der Hand durch Kuvertlöhne auf. Auch dort, wo Tarifverträge abgeschlossen werden, schöpft man den Verteilungsspielraum häufig nicht aus. Niedriglöhne werden als Garantie sicherer Arbeitsplätze propagiert. Das restriktive Streikrecht trägt zusätzlich zur Lohnzurückhaltung bei. So sind die Anreize für einen Gewerkschaftsbeitritt in den MOE-Ländern insgesamt gering. Und den existierenden Organisationen fehlen Finanzmittel, mit denen sie zum Beispiel Streikkassen bilden könnten, und Personal, das für die Arbeitnehmer Rechtsberatung anbieten könnte. Nicht selten werden gesetzliche Rechte von Gewerkschaftsmitgliedern und gewerkschaftlichen Mandatsträgern verletzt. Da Arbeitsgerichte in den meisten Ländern - bis auf Ungarn und Slowenien - fehlen, wird rechtswidriges Handeln von Arbeitgebern kaum sanktioniert.
Doch auch in Osteuropa ist es möglich, die gewerkschaftliche Präsenz zu verbessern. Das zeigt die erfolgreiche Einführung von Betriebsräten in Slowenien, Ungarn und Kroatien, wo es einen beachtlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad gibt (rund 40 Prozent). Die Tarifbindung liegt in Slowenien bei 90 Prozent. Auch wurden in Slowenien, Tschechien und der Slowakei bereits erste Flächentarifverträge abgeschlossen. Erfolgreiche Streiks wie etwa in Slowenien oder bei den Eisenbahnern in Ungarn sind ein Beleg dafür, dass die Mitglieder durchaus zu mobilisieren sind. Arbeitskämpfe finden aber vorwiegend im öffentlichen Sektor und in größeren Privatunternehmen statt.
Beeindruckend ist die Image-Kampagne der litauischen Gewerkschaft LPSK, die auf der OBS-Tagung von ihrer Generalsekretärin Janina Matuiziené vorgestellt wurde: Sie berichtete davon, wie sie überall im Land bei regionalen "Tagen der Gewerkschaften" aufgetreten war, um die Leute vom Nutzen von Gewerkschaften zu überzeugen. Begleitet war die öffentliche Mitglieder-Werbung von intensiver Pressearbeit und gemeinsamen Auftritten von Gewerkschaftern und Bürgermeistern. Janina Matuiziené gelang es auch, die drei litauischen Gewerkschaftsbünde in einem "Zentrum der Koordination" zusammenzuführen. Fazit: Die Kampagne bewirkte einen deutlichen Vertrauenszuwachs für die Gewerkschaften.
PRIORITÄTENWECHSEL_ Nicht nur in Vilnius, auch in Brüssel wird der Wirtschafts- und Sozialausschuss aktiv: Der Sprecher der Arbeitnehmerbank im WSA, Alexander Graf von Schwerin, kündigte auf der MOE-Konferenz drei Initiativen an: Schwerin will die Möglichkeiten von KMU verbessern, Kollektivverträge abzuschließen. Mit einer EU-weiten Einführung von Arbeitsgerichten will man die Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen gegen Arbeitnehmerrechte stärken. Und schließlich soll auch der Branchendialog von Eurobetriebsräten im Zuge der EBR-Richtlinien-Revision erleichtert werden.
Die 200 Gewerkschafter auf der MOE-Konferenz forderten eine prinzipielle Korrektur der EU-Gesetzgebung und der darauf basierenden Rechtsprechung des EuGH. So propagiert aktuell der Deutsche Gewerkschaftsbund gemeinsam mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund, eine "soziale Fortschrittsklausel" in das Gemeinschaftsrecht aufzunehmen. Begründung: Die Freiheiten des Binnenmarktes dürften nicht weiterhin höherwertig sein als die im nationalen Recht verankerte Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit. Mit dieser "Sozialklausel" setzt der EGB eindeutige Prioritäten: "Wirtschaftliche Freiheiten und Wettbewerbsregeln genießen keinen Vorrang vor sozialem Fortschritt. Im Konfliktfall gehen fundamentale Arbeitnehmerrechte vor", lautet die Antwort des EGB auf die jüngsten Urteile des EuGH.
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9. Internationale Konferenz der Otto Brenner Stiftung