Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Gewerkschafter in internationaler Mission - Claudia Meyer, die Entdeckerin
Claudia Meyer ist Sozialreferentin des deutschen Botschafters in Brasilien. Von Michaela Namuth
MICHAELA NAMUTH ist Journalistin in Rom/Foto: Pedro Stoeckli
Claudia Meyer schaut von ihrem Wohnzimmerfenster auf Königspalmen. Dahinter liegen schicke Villen, ein künstlicher See und der riesengroße Parque da Cidade, der Stadtpark. Eigentlich hatte sie sich Brasilien ganz anders vorgestellt. "Ich habe gedacht, ich kann mich ins Getümmel der Stadt stürzen und auf einem lärmigen Marktplatz einen Kaffee trinken", gesteht sie. Doch dazu ist die Hauptstadt Brasilia, wo sie seit zweieinhalb Jahren Sozialreferentin der Deutschen Botschaft ist, nicht der passende Ort. Die Stadt gilt als ein Meisterwerk der modernen Architektur. Sie wurde vor 50 Jahren von dem Star-Architekten Oscar Niemeyer in Form eines Flugzeuges mit breiten Autostraßen und komfortablen Wohnvierteln entworfen. Das Leben hier können sich nur Wohlhabende leisten. Wenn Claudia Meyer wissen will, wie Brasilien außerhalb der Retortenstadt aussieht, steigt sie ins Auto und fährt auf Entdeckungsreise: über holprige Straßen, über Stock und Stein, immer weiter durch die kleinen Dörfer des Hinterlands der Region Goiàs. In der Sprache, die sie ganz neu lernen musste, fühlt sie sich jetzt sicher. Und scheut sich nicht, aus dem Auto zu steigen und Fragen zu stellen.
NEUE ROLLE_ Das war nicht immer so. "Am Anfang muss man alles lernen, es ist einfach eine ganz neue Rolle", sagt sie. Als ihr der DGB-Vorstand den Posten vor drei Jahren anbot, hat sie nicht lange gezögert. "Als ich studierte, konnte ich von einem Auslandsjahr nur träumen", erzählt Claudia Meyer, die während ihres Volkswirtschaftsstudiums an der Uni Münster weiterhin in einem mittelständischen Betrieb Teilzeit arbeitete. Dort war sie Vize-Betriebsratsvorsitzende, später arbeitete sie freiberuflich in der Betriebsrätequalifizierung. Danach kam der Job beim DGB-Bundesvorstand, wo sie erst die Jugendabteilung, danach das Referat für europäische und internationale Wirtschaftspolitik leitete.
Die Wirtschaftspolitik ist bis heute eine Männerdomäne, und Claudia Meyer fand sich oft in reinen Männerrunden wieder. Das ist auch in der Botschaft so geblieben. Wenn die anderen Referenten zu Empfängen ihre Ehe-Partner mitbringen, ist unter den Partnern immer nur ein einziger Mann: ihrer. "Das ist für ihn nicht immer leicht", gibt sie lächelnd zu. Insgesamt arbeiten an der Botschaft in Brasilia etwa 25 aus Deutschland Entsandte und knapp 40 Ortskräfte. Referenten wie sie selbst sind die Kollegen aus den Abteilungen Politik, Wirtschaft, Presse und Kultur, Wissenschaft, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Militär, Landwirtschaft und Bundeskriminalamt. Sie versteht sich mit den meisten Kollegen gut. "Dennoch bin ich für sie eine Exotin", sagt sie und meint damit vor allem, dass sie nicht aus dem diplomatischen Dienst oder einer Bundesbehörde kommt, sondern aus der Gewerkschaft.
Dieses Vorschlagsrecht des DGB für die Sozialreferenten wurde in den 50er Jahren zwischen Konrad Adenauer und Hans Böckler vereinbart. Die Gewerkschaften benennen Kandidatinnen und Kandidaten, die ein Auswahlverfahren samt Sprachtest im Arbeitsministerium durchlaufen müssen. Zurzeit gibt es insgesamt 21 Sozialreferenten an deutschen Botschaften. Vom DGB besetzt werden zehn Posten: Brasilia, Brüssel, Moskau, Peking, Pretoria, Riga, Tel Aviv, Tokio, Washington, Neu Delhi. Die Aufteilung zwischen DGB und Arbeitsministerium soll zwischen Nord- und Südländern ausgewogen sein, "sie ist aber nicht in Stein gemeißelt. Es kann auch einmal eine DGB-Stelle ins Kontingent des BMAS und umgekehrt wechseln", erläutert Wolfgang Lutterbach, Leiter Internationales beim DGB-Bundesvorstand.
Was tun die Sozialreferenten? Sie sollen Berichte über die sozialen Sicherungssysteme, die Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik und auch über die Tarifauseinandersetzungen des Gastlandes abliefern. Im Rahmen der "Public Diplomacy" sollen sie mit den Behörden und Verbänden des Gastlandes Kontakt halten. Und wie die anderen Botschaftsbeschäftigten werden sie auch zum 24-Stunden-Bereitschaftsdienst für die deutschen Staatsangehörigen eingesetzt. Claudia Meyer hatte gleich bei ihrem ersten Einsatz ein schockierendes Erlebnis. Samstags nachts bekam sie einen Anruf, dass ein deutsches Ambulanzflugzeug mit einem leukämiekranken Deutschen an Bord nicht in Sao Paulo starten konnte, weil der Pilot seine Fluglizenz zu Hause vergessen hatte. Im Morgengrauen konnte der Kranke dann dank ihrer Hilfe starten.
OHNE SPRACHE KEIN ZUGANG_ Zuerst muss die Sprachbarriere überwunden werden. "Das hat mich fast das erste Jahr gekostet und oft deprimiert. Es ist nicht leicht, in einem Büro anzurufen, wenn man die Sprache nur radebrecht", gesteht Claudia Meyer, die heute fließend Portugiesisch spricht. Gott sei Dank kannte sie aber aus ihrer Tätigkeit beim DGB schon einige Kollegen der CUT, des größten Dachverbands der brasilianischen Gewerkschaften, zu dem die deutschen Gewerkschaften seit den Zeiten des Widerstands gegen die Militärdiktatur in den 80er Jahren enge Kontakte haben. Die Kollegen von der CUT waren - zusammen mit dem Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung - die erste Anlaufstelle, haben Claudia Meyer Ratschläge erteilt und Gesprächspartner vermittelt. "Hier in Brasilien habe ich gelernt, dass man nicht alles planen kann und dass Abwarten manchmal auch eine Strategie ist", sagt sie.
Für ihre Arbeit muss die Sozialreferentin enorme Distanzen zurücklegen. Die Industrieregion Sao Paulo - mit 800 deutsch-brasilianischen Unternehmen der größte Standort der deutschen Wirtschaft weltweit - liegt rund 1000 Kilometer entfernt. Fünf- bis sechsmal im Jahr fliegt sie dorthin. Zweimal im Jahr ist Claudia Meyer für rund zwei Wochen in Chile, wo sie an der Botschaft ebenfalls als Sozialreferentin akkreditiert ist. Derzeit besucht sie vom Erdbeben zerstörte chilenische Gewerkschaftseinrichtungen und organisiert finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau.
Brasilien ist Deutschlands wichtigster Handelspartner in Lateinamerika. 1200 deutsche Unternehmen sind hier niedergelassen und beschäftigen 250 000 Menschen - darunter Konzerne wie ThyssenKrupp, die BASF, VW, Daimler, Bosch, Siemens und die Deutsche Bank. Sie prägen seit vielen Jahren die Industrielandschaft und profitieren derzeit vom schnellen Wachstum der brasilianischen Wirtschaft. Auch die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften sind in den letzten zehn Jahren enger geworden. Die früher stark konfliktorientierten Verbände der CUT können heute - auch dank der Unterstützung der Regierung Präsident Lulas - zunehmend auf sozialen Dialog setzen. "Für die internationalen Arbeitnehmernetzwerke auf Unternehmensebene ist Brasilien ein wichtiger Brückenkopf", sagt Claudia Meyer.
Die Förderung des sozialen Dialogs und der Mitbestimmung soll künftig auch Teil eines "Memorandum of Understanding" zwischen den beiden Arbeitsministerien sein. Gemeinsam mit den deutschen Gewerkschaften werden derzeit Ideen entwickelt. "Auch Wilfried Grolig, unser neuer Botschafter, befürwortet, dass der soziale Dialog Bestandteil der Aktivitäten des vom Auswärtigen Amt für 2013 organisierten Deutschlandjahres in Brasilien wird", berichtet Claudia Meyer.
Noch ein Großprojekt ist für Claudia Meyer das deutsch-brasilianische Sozialversicherungsabkommen, das im Dezember 2009 unterzeichnet wurde. Ziel des Abkommens ist es, Rentenversicherungsansprüche für deutsche und brasilianische Staatsangehörige, die jeweils im anderen Vertragsstaat arbeiten, zu sichern. In und zwischen den Verhandlungsrunden galt es, Fragen zu stellen, Positionen zu klären, gemeinsame Lösungen zu finden und auch mal hart zu bleiben. "Auch deshalb sitze ich hier", sagt sie.
Viele Dinge laufen jetzt automatisch. Inzwischen rufen auch brasilianische Gewerkschaftskollegen und Regierungsvertreter bei ihr an. Doch wenn gerade alles so richtig im Gange ist, müssen die Sozialreferenten oft schon wieder ihre Koffer packen. Auch Claudia Meyers dreijähriger Vertrag läuft im Januar 2011 aus. Sie und ihr Mann wägen derzeit gemeinsam ab, ob sie eine Verlängerung beantragen soll. Nicht nur der Auslandseinsatz - auch die Heimkehr ist für viele ein Sprung ins Ungewisse. Oft ergibt sich ein anderer Job als der, den man in Deutschland aufgegeben hat. Wie die Entscheidung auch ausfällt, Claudia Meyer ist sich sicher, dass sie viel mit nach Deutschland zurückbringt: ein brasilianisches Netzwerk aus ihren beruflichen Kontakten, aber auch die Erfahrung, dass die deutsche Sicht der Dinge nicht die einzig mögliche ist. Aus Brasilien mitnehmen wird sie auch "die Aufbruchstimmung, die hier trotz der großen Armut herrscht. Und die Gewissheit vieler Menschen, dass das Wirtschaftswachstum auch die soziale Gerechtigkeit befördern muss".