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Magazin Mitbestimmung

Studierendenarbeit: Gewerkschaften werden akademischer

Ausgabe 04/2014

Je stärker die Akademisierung vieler Belegschaften, umso wichtiger werden die Hochschulen auch für die Industriegewerkschaften. Duale Studiengänge und der Zugang über den Betrieb spielen strategisch die Schlüsselrolle. Von Stefan Scheytt.

Es ist 5.30 Uhr, die ersten Vögel zwitschern, als an einem Donnerstag im März vor dem Mannheimer Gewerkschaftshaus 15 Studenten mit kleinen Augen in einen Bus der IG Metall steigen; darin dösen bereits ein gutes Dutzend Kommilitonen, die um 3 Uhr in Stuttgart und um 4.30 Uhr in Karlsruhe eingestiegen sind. Ganz vorne sitzt IG-Metall-Sekretär Simon Goldenstein und sagt: „Wir wollen zeigen, dass die IG Metall ein hilfreiches Netzwerk ist.“ Deshalb ist die Reisegruppe, allesamt Studierende technisch-naturwissenschaftlicher Fächer aus Baden-Württemberg, an diesem frühen Morgen auf dem Weg zu einem erlebnisreichen Tag auf der CeBIT in Hannover, inklusive des Vortrags eines IG-Metallers über die Verdienstmöglichkeiten für Berufseinsteiger.

In der Reihe hinter Simon Goldenstein sitzt Manuel Graff, 21. Er studiert im dritten Semester an der Dualen Hochschule Mannheim Elektrotechnik und hatte bei seinem Ausbildungsunternehmen, dem Anlagenbauer Alstom, schon Kontakt zum Betriebsrat; aber erst nach einem Gespräch mit IG-Metall-Sekretär Goldenstein ist er vor Kurzem Gewerkschaftsmitglied geworden. Als solches fährt Manuel Graff jetzt nicht nur kostenlos zur weltgrößten Computermesse; er ist überzeugt, dass sein Beitritt auch deshalb richtig war, weil die Gewerkschaft für höhere Löhne kämpfe – „und das wird mir später im Beruf einmal zugutekommen.“

AUSBILDUNGSBETRIEB HOCHSCHULE 49 000 Studierende sind derzeit in den Mitgliedsgewerkschaften des DGB organisiert, seit 2010 steigt ihre Zahl zuletzt um 14,5 Prozent. „Ein beträchtlicher Erfolg, wenn man bedenkt, dass Studierende noch nicht so lange auf dem Gewerkschaftsradar und für viele Gewerkschaften noch eher ein Nischenthema sind“, sagt Susanne Braun, politische Referentin für Studierendenarbeit beim DGB. Derzeit sind weniger als ein Prozent der in DGB-Gewerkschaften Organisierten aktive Studenten. Trotzdem oder gerade deshalb, erklärt Braun, sei die Studierendenarbeit „eine Kernaufgabe für die Zukunftssicherung der Gewerkschaften“. Denn: „Heute geht die Hälfte eines Altersjahrgangs studieren, Hochschulen sind der größte nicht organisierte Ausbildungsbetrieb Deutschlands mit etwa 2,5 Millionen jungen Menschen.“

Und die meisten von ihnen sind gleichzeitig auch Arbeitnehmer – als studentische Hilfskraft an der Uni, als (Ferien)-Jobber, Werkstudent oder Praktikant. „Wenn wir Studierende gut beraten und unterstützen bei arbeitsrechtlichen Problemen, beim Berufseinstieg und bei branchenspezifischen Fragen und wenn wir uns gleichzeitig als hochschulpolitische Akteure aufstellen, die sich für eine gesicherte studentische Mitbestimmung und gute Studienbedingungen einsetzen, dann können wir als Gewerkschaft punkten“, ist Susanne Braun überzeugt. Aktuelle politische Themen rund ums Studium sind für die DGB-Jugend neben anderem die Verbesserung des BAföG und – angesichts steigender Studierendenzahlen – die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums.

Sehr erfolgreich macht das die IG Metall, die seit zehn Jahren aktiv Studierendenarbeit betreibt und seit zwei Jahren eigens dafür zwölf Projektsekretäre in den Bezirken abstellt: Innerhalb der vergangenen fünf Jahre hat sich die Zahl der studentischen Mitglieder auf rund 22 000 mehr als verdoppelt, mit 3000 Neuaufnahmen allein im vergangenen Jahr. Dabei sprechen die Gewerkschafter die Studierenden nicht nur an der Hochschule an, sondern auch in den Betrieben, wo sie als Praktikanten, Werkstudenten und dual Studierende arbeiten, berichtet Stefanie Geyer, Projektkoordinatorin beim Vorstand der IG Metall. Angesichts der zunehmenden Akademisierung der Belegschaften – in der Metall- und Elektroindustrie sind bereits 15 Prozent der Azubis dual Studierende – ist der Schritt auf die Campusse und in die Betriebe zwingend, wo die IG Metall betriebliche Regelungen und Tarifverträge für dual Studierende mitgestaltet. Oder diese zur Qualität ihrer betrieblichen Praxisphasen befragt.

„Wer sich den Studierenden dort als kompetenter Partner zeigt, wird auch später im Betrieb als ein Akteur ernst genommen, der die Arbeitswelt mitgestalten kann“, sagt Stefanie Geyer. Das Angebot der IG Metall – oft in Verbindung mit dem DGB – reicht inzwischen von den Beratungsklassikern (BAföG, Nebenjob, Praktikum) und Betriebsexkursionen bis zu Ausstellungen, Filmvorführungen und Ringvorlesungen mit Referenten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerkschaften (Themen u.a. Innovationstechnologie, „Der Ingenieur zwischen Vernunft und Renditewahn“). „Wir haben über die Jahre Strukturen aufgebaut, die uns jetzt als lebendige und attraktive Gewerkschaft zeigen; wir sind präsent“, sagt Stefanie Geyer. Ausweis dafür sind aktive Hochschulgruppen von Aachen bis Berlin und Magdeburg, die sich auch (hochschul)-politisch engagieren, etwa gegen „Mietenwahnsinn“ oder Studiengebühren.

ZIEL KARRIERENETZWERKE Auch bei der IG BCE ist die Zahl der studentischen Mitglieder seit dem Jahr 2000 von 2300 auf fast 4000 gestiegen – und das, obwohl die Studierendenarbeit ohne eigene Projektstelle und ohne Hauptamtliche in den Bezirken geleistet wird. „In einem ersten Schritt wollen wir mit kleiner Flamme möglichst viel Hitze erzeugen“, sagt Oliver Hecker, der beim Vorstand für diese Zielgruppe verantwortlich ist. Die gezielte Ansprache einschlägiger Fachschaften an ausgewählten Hochschulen sei für die IG BCE der „Schlüssel“ zum Campus. Dort bietet die Gewerkschaft Veranstaltungsreihen zu populären Themen an wie Berufseinstieg, Karrierewege oder Entgelterwartungen, in der Regel referieren ein Personaler aus einem Unternehmen und Oliver Hecker. Die erste Hochschule, die der IG BCE verbundene ehemalige Bergbauschule TFH Georg Agricola zu Bochum, sei ein „Heimspiel“ gewesen, berichtet Hecker, während er an der Uni Hannover zunächst auf Ablehnung stieß.

„Gewerkschaften? Das sind später doch unsere Feinde“, meinte ein Jungakademiker zu Hecker. Doch der blieb hartnäckig, aus Überzeugung: „Es darf nicht sein, dass Studenten keinen Ton von den Gewerkschaften hören, aber wenn sie dann einen festen Job haben, kommen wir und sagen: ‚Ihr braucht uns.‘ In Hannover folgten der Einladung der Gewerkschaft 140 Studierende, im High-Tech Campus Großhadern der Uni München waren es Anfang dieses Jahres 110. Uni für Uni, Fachschaft für Fachschaft will die IG BCE ihren Radius vergrößern, neben Info-Veranstaltungen auch Betriebsexkursionen anbieten und so auf Dauer Karrierenetzwerke aus Studierenden und betrieblichen Akteuren mit initiieren. Oliver Hecker: „Das wäre ein klarer Benefit für die Studierenden, von dem auch wir als Gewerkschaft profitieren würden.“

Wie wichtig dabei einzelne Ehrenamtliche sind, zeigt das Beispiel von Martin Weiß, 26, der an der Leibniz Universität in Hannover auf den Master in analytischer Chemie zusteuert, vielleicht sogar einmal promovieren wird. Weiß kommt aus dem Ruhrpott, lernte Chemielaborant, bevor er auf die Uni ging – der erste Akademiker in der Familie. Gewerkschaften gehörten für den Böckler-Stipendiaten schon immer zum Arbeitsleben, als Azubi trat er der IG BCE bei, aber an der Uni, wo er sich in seiner Fachschaft auch gewerkschaftlich engagiert, begegnet ihm viel Unwissen: „Viele Kommilitonen denken, Gewerkschaften wären für Arbeiter zuständig, aber nicht für Studierende oder Akademiker in Unternehmen. Da müssen die Gewerkschaften noch viel Aufklärungsarbeit leisten“, meint Weiß. Dazu trägt er trotz Studien-Stress bei, so gut er kann. „Ein bis zwei Veranstaltungen pro Semester haben wir bisher immer hinbekommen.“ Ob sich seine wenigen Mitstreiter ähnlich einsetzen, wenn er die Uni in absehbarer Zeit verlassen wird, ist schwer zu sagen. „Die Gewerkschaften müssten sich einfach noch mehr engagieren“, wünscht sich Weiß.

MEHR PRÄSENZ Ein Mittwochabend im AStA-Büro am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Hier trifft sich regelmäßig die Gewerkschaftliche Studierendengruppe Karlsruhe (GSKa), deren harter Kern fünf, sechs Frauen und Männer sind, die Mitglied bei ver.di, der GEW oder der IG Metall sind, unter ihnen zwei Böckler-Stipendiatinnen. Auch Constanze Krätsch, Projekt­sekretärin der IG Metall, ist regelmäßig dabei. Man habe in der Vergangenheit einiges bewegt durch diverse Veranstaltungen und Aktionen, man habe auch manche von der Wichtigkeit gewerkschaftlichen Engagements überzeugt, sagen die vier. Und doch sei die Hochschule­ schwieriges Terrain. „Viele Studierende stammen aus akademischen Familien, die kaum Bezug zur Gewerkschaft haben“, meint Moritz Kühner. Erschwerend komme hinzu, findet Sebastian Müller, dass die Bachelor- und Masterstudiengänge kaum noch Zeit ließen für ehrenamtliches Engagement. „Viele Studienanfänger sind heute 17, 18 Jahre alt, nicht mehr 20, 21 wie früher“, sagt Elena Schneider (Name wurde von der Redaktion geändert.). „Viele haben keinerlei Erfahrung mit der Arbeitswelt und deshalb keinen blassen Schimmer von Gewerkschaften.“ Und wenn sie dann ins Studium eintauchen, sind viele bald überzeugt, „dass sie sowieso einmal Führungskräfte werden“. Gleichzeitig hinterfragen sie, wenn sie ein Praktikum machen oder als studentische Hilfskraft arbeiten, „kaum die Arbeitsbedingungen“, sagt Sabine Mann: „Viele sehen es komischerweise als normal an, dass man als Praktikant kein oder fast kein Geld bekommt, oder wundern sich, dass man als Hiwi Urlaubsanspruch und ein Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat.“

Nach ihren Wünschen gefragt, sagen alle vier GSKa-Mitglieder einhellig: „Die Gewerkschaften müssten noch viel präsenter sein an den Hochschulen, dann würde noch viel mehr gehen.“ Sabine Mann, die schon Betriebsrätin war und jetzt am KIT auf ihren Master in Geodäsie und Geoinformatik zusteuert, sagt: „Schon als ich vor Jahren als Jugendvertreterin zu IG-Metall-Konferenzen ging, hat man dort über die Notwendigkeit für aktive Studierendenarbeit gesprochen. Aber es hat Jahre gebraucht, bis daraus wirklich ein Projekt wurde. Auch wenn studentische Mitglieder relativ wenig Beitragsgeld bringen, lohnt sich das für die Gewerkschaft: In Karlsruhe sind mehr als 40 000 Studenten eingeschrieben, allein am KIT 25 000, dazu fast 10 000 Beschäftigte, das ist ein riesiges Potenzial“, sagt Sabine Mann.

Dabei setzen die IG Metall und ver.di auf ehrenamtliches Engagement. „Studierende sind für uns sehr wichtig, wir schauen vor Ort, welche Themen sich mit gewerkschaftlicher Arbeit verknüpfen lassen, und setzen dabei maßgeblich auf Ehrenamtliche“, sagt Jan Bleckert, ver.di-Sekretär in Stuttgart im Fachbereich Bildung, Wissenschaft und Forschung.

FERNZIEL TARIFVERTRAG In Tübingen, wo der Berliner Bleckert nach zwei Berufsausbildungen mit einem Böckler-Stipendium Soziologie studierte, initiierte er vor zwei Jahren mit einer ver.di-Personalrätin der Universität und mithilfe der GEW eine studentische Hilfskraftinitiative, die sich für anständige Arbeitsbedingungen der Hiwis einsetzt. Obwohl ein Generationswechsel die Gruppe derzeit etwas ausdünnt, sei sie mit ihrem Beratungsangebot durch geschulte Ehrenamtliche „sehr gut etabliert an der Uni“, sagt Jan Bleckert. Ihr Fernziel: ein Tarifvertrag für studentische Beschäftigte, wie ihn ÖTV und GEW 1979 in Berlin als bislang einzigem Bundesland erstreiten konnten und der zuletzt 2003 erneuert wurde. Für Jugendreferentin Susanne Braun vom DGB war das damals das „Aha-Erlebnis“: „Ich bin Gewerkschaftsmitglied geworden, als ich als studentische Mitarbeiterin an der Uni zu arbeiten anfing. Ich profitierte von dem Tarifvertrag und hatte Freunde, die für weit weniger Geld in Brandenburg als Hiwis arbeiteten. Das hat mir die Augen geöffnet, welche praktische Relevanz Gewerkschaftsarbeit und das eigene Engagement haben.“

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