Quelle: Stephan Pramme
Magazin MitbestimmungPolitik: „Gewerkschaften haben eine starke Vision von einer Zukunft“
Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung, und Christina Schildmann, Leiterin der Forschungsförderung und Strategie „Arbeit der Zukunft“, über Hans Böcklers Vermächtnis und die Aktualität seiner Ideen. Das Gespräch führten Fabienne Melzer und Kay Meiners
Wo ist Ihnen der Name Hans Böckler zum ersten Mal begegnet?
CLAUDIA BOGEDAN: Im Studium, als ich die WSI-Mitteilungen las. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich verstanden habe, dass das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut, das diese Zeitschrift herausgibt, Teil der Hans-Böckler-Stiftung ist. Zu der Zeit, 1999, bin ich auch in die Gewerkschaft eingetreten.
CHRISTINA SCHILDMANN: Bei mir war es genauso. Ich hatte nichts von Böckler gehört, bis ich in Kontakt mit der Stiftung kam. Böckler ist nicht in der Ikonen-Vitrine der Deutschen gelandet wie Willy Brandt oder Konrad Adenauer, sondern weitgehend unbekannt. Ganz zu Unrecht! Denn im Grunde hat er die soziale Marktwirtschaft erfunden, nicht Ludwig Erhard.
Wieso?
CHRISTINA SCHILDMANN: Es ist maßgeblich ihm zu verdanken, dass es auch demokratisch zugeht.
Hans Böckler starb zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, seine Lebensrealität ist weit weg von uns. Was verbindet uns mit ihm?
CLAUDIA BOGEDAN: Mit Böckler sind die Grundlagen für unsere gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gelegt worden. Er hat die Sozialpartnerschaft mitbegründet. Nach den Gräueln der NS-Zeit bestand er darauf, dass der parlamentarischen Demokratie eine Demokratie in der Wirtschaft zur Seite gestellt werden muss, damit die Demokratie stabil ist. Heute wissen wir, dass er recht hatte. Wir können diesen Zusammenhang statistisch signifikant nachweisen. Doch unsere Demokratie ist in Gefahr – schauen wir nur auf den neuen US-Präsidenten oder auf die Politik in Deutschland.
CHRISTINA SCHILDMANN: Bei der Amtseinführung von Donald Trump saß hinter ihm in einer Reihe die Tech-Elite – reiche und mächtige Männer wie Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, Elon Musk. Das Bild ging um die Welt und signalisierte: Jetzt haben wir das Sagen, und wir teilen diese Macht mit niemandem. Nicht mit den Beschäftigten, nicht mit Frauen, nicht mit Umweltorganisationen. Hans Böckler steht für das Gegenteil, wenn er sagt: „Die Demokratie darf nicht vor den Werkstoren haltmachen. Bürger, nicht Untertanen wollen wir sein.“
Hans Böckler hat die Diktatur erlebt und suchte nach einem Modell, das eine Wiederholung unmöglich machte.
CHRISTINA SCHILDMANN: Er musste in der Nazizeit untertauchen, wurde mehrfach verhaftet und hat im Untergrund sein Leben riskiert. Das prägte ihn. Er hat nach dem Krieg einen Satz gesagt, der heute nachhallt: „Ein politisch freier Mensch, ein Wirtschaftsbürger, wie wir ihn schaffen wollen, wird niemals Konzentrationslager und Unfreiheit dulden, darum sind wir Gewerkschaften stets zukunftsfreudig.“
CLAUDIA BOGEDAN: Hans Böckler war überzeugt, dass die Spaltung der Arbeiterbewegung dazu beigetragen hat, dass die Nazis die Macht ergreifen konnten. Er vertrat das Prinzip der Einheitsgewerkschaft. Es ging darum, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen. Diese Einigkeit, dieser Zusammenhalt ist der Punkt, an dem wir als Hans-Böckler-Stiftung in diesem Jahr ansetzen wollen.
Mit der Mitbestimmung sind wir gut durch die Finanz- und Coronakrise gekommen. Das alles sind gute Gründe, das Modell gegen jene zu verteidigen, die es sturmreif schießen wollen.“
Was hat die Stiftung zu seinem Geburtstag geplant?
CLAUDIA BOGEDAN: Es gibt kein dickes Buch, keinen Festakt mit bekannten Persönlichkeiten. Böcklers Ideen sollen im Mittelpunkt stehen, nicht die Person. Wir wollen insbesondere jüngere Leute erreichen. Unser Motto dafür lautet: „Mit allen wird’s gut.“ Das bedeutet: Man kann über Interessensgegensätze und unterschiedliche Wertehaltungen diskutieren, aber es geht darum, im Respekt vor den Positionen anderer auf der Basis guter Argumente zu guten Lösungen zu kommen und Kompromisse zu schließen.
CHRISTINA SCHILDMANN: Das Schönste, das wir für das Böckler-Jahr gemacht haben, ist ein Kurzfilm in Spielfilmqualität. Er spielt hauptsächlich in der Dienstlimousine von Bundeskanzler Konrad Adenauer, wo er und Hans Böckler über die paritätische Mitbestimmung streiten. Adenauer will die volle Parität im Aufsichtsrat nicht, aber Böckler macht ihm klar, dass es darunter nicht geht, und droht mit Massenkündigungen der Bergleute. Der Kompromiss, den sie finden, macht die Tür auf für die Unternehmensmitbestimmung, wie wir sie heute haben. Ein echter Gamechanger für das Verhältnis von Kapital und Arbeit.
CLAUDIA BOGEDAN: Die Kündigungsdrohung ist historisch belegt. Mehr als 100 000 Menschen waren bereit, ihren Job aufzugeben für die Montanmitbestimmung. Das war ein klares Signal. Zugleich aber respektierten und achteten sich Adenauer und Böckler, es gab eine gewisse Form von Redlichkeit. Das ist auch die Botschaft des Films. Wir hoffen, dass er in Schulen eingesetzt wird, an Universitäten und so weiter. Die Idee, für die Hans Böckler steht – die Idee, mitreden und mitbestimmen zu können –, ist hochaktuell, weil sie die Demokratie stabilisiert und weil viele Menschen erleben, dass es am Arbeitsplatz immer noch viel Willkür gibt und dass ihnen selbst gesetzlich geschützte Rechte vorenthalten werden wie das Recht, einen Betriebsrat zu gründen.
Ein Slogan heißt auch „Solidarität statt Egoismus“.
CLAUDIA BOGEDAN: Bei den Bauernprotesten haben wir erlebt, wie eine Teilgruppe glaubt, für sich das Meiste rausholen zu müssen. Wenn wir solidarisch unterwegs sind, könnte es dagegen eine Lösung geben, die für alle gut ist. Das heißt, man muss die Interessen im Zweifel nicht gegeneinander ausspielen, sondern man kann mehrere Ziele gleichzeitig erreichen – ökologische und soziale.
Hans Böckler hat auch das Ringen um Stabilität in der Weimarer Republik und das Aufkommen radikaler Kräfte in der Krise erlebt. Droht wieder eine solche Krise?
CHRISTINA SCHILDMANN: Wenn eine Partei wie die AfD bei Umfragen bei über 20 Prozent liegt, wenn wir sehen, wie die Rechtspopulisten und Rechtsextremen die Schmerzen der Transformation bewirtschaften und in Zorn ummünzen, dann sind wir mitten in der Krise.
Im Grunde hat Hans Böckler die soziale Marktwirtschaft erfunden, nicht Ludwig Erhard.“
In der Lausitz sollte mit dem Kohlekompromiss die Transformation gestaltet werden. Trotzdem wählen dort inzwischen viele AfD. Was sind die Ursachen?
CLAUDIA BOGEDAN: Weil in der Region das Wort nicht gehalten worden ist. Es wird doch permanent an dem Kohlekompromiss rumdiskutiert. So verspielt Politik Vertrauen.
Wie kann man in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft wieder mehr Solidarität und Gemeinsinn schaffen?
CLAUDIA BOGEDAN: Das kann am Arbeitsplatz gelingen, denn er ist immer noch der zentrale Ort, an dem Menschen zusammenkommen – schichten- und generationenübergreifend. Deshalb muss er auch ein demokratischer Ort sein. Doch ohne Mitbestimmung und Betriebsrat gibt es keine Betriebsversammlung. Dann gibt es auch keinen Ort, wo Auszubildende und Beschäftigte kurz vor der Rente, das Management und die Belegschaft ihre Interessen gemeinsam diskutieren. Mit der Mitbestimmung sind wir gut durch die Finanzkrise oder die Coronakrise gekommen. Das alles sind doch Gründe, das Modell gegen jene zu verteidigen, die es sturmreif schießen wollen.
Schon die Verteidigung des Status quo ist schwierig. Dabei gab es bei den Gewerkschaften früher viel weiter reichende Vorstellungen von einer Neuordnung der Wirtschaft – bis hin zur Überwindung des Kapitalismus. Was ist von diesen Visionen noch lebendig?
CLAUDIA BOGEDAN: Es müssen in der Tat viele Abwehrkämpfe geführt werden. Aber zugleich haben die Gewerkschaften auch eine starke Vision von einer Zukunft, in der wir weniger Ressourcen verbrauchen und den Wohlstand gerechter verteilen als heute. Ob das schon die Überwindung des Kapitalismus ist, sei dahingestellt.
CHRISTINA SCHILDMANN: Die Forderungen nach Verstaatlichung waren ein gutes Druckmittel, um überhaupt etwas zu erreichen. Die Kompromisse, die herausgekommen sind, haben sich bewährt. Aber eine Frage ist für mich immer noch aktuell: Wo muss der Staat aktiv werden, und was gehört tatsächlich in privatwirtschaftliche Hand?
Die Demokratie darf nicht vor den Werkstoren Halt machen. Bürger, nicht Untertanen wollen wir sein.“
Gehört zur Zukunftsvision auch mehr Demokratie?
CLAUDIA BOGEDAN: Definitiv. Die Anforderungen an eine modernisierte Betriebsverfassung liegen mit dem Entwurf von DGB und Hans-Böckler-Stiftung seit vier Jahren auf dem Tisch. Die Ampel-Koalition hätte diese Vorschläge gut aufgreifen können, wenn der politische Wille von allen da gewesen wäre.
Es ist aber nichts passiert.
CLAUDIA BOGEDAN: Wir wissen genau, wer die treibende Kraft tatsächlich war, die das unterbunden hat. Die saß bestimmt nicht im Arbeitsministerium.
Wie demokratisch ist unsere Gesellschaft wirklich?
CLAUDIA BOGEDAN: Ob ich mich an Demokratie beteiligen kann, hängt von meinen Ressourcen, meinen finanziellen Mitteln und meinen Zugängen zu Information und Bildung ab. Und diese Zugänge und Ressourcen sind sehr ungleich verteilt. Demokratie fängt für mich damit an – mit einer besseren Verteilung des Wohlstandes und des Vermögens insgesamt. Die soziale und die demokratische Frage gehören zusammen.
Was bedeutet das für die Arbeit der Stiftung?
CHRISTINA SCHILDMANN: Aus der Sicht der Forschungsförderung bedeutet das, dass wir alles, was wir tun, aus der Perspektive der Beschäftigten betrachten und dass wir uns für echte Gleichheit und echte demokratische Beteiligung einsetzen. Es geht darum, die Beschäftigtenseite mit Wissen zu stärken, das sie braucht, um ihre Position verhandeln zu können.
CLAUDIA BOGEDAN: Das gilt in gleicher Weise für alle Abteilungen und Institute unserer Stiftung. Das leitet sich aus der Satzung ab, wonach die Förderung der Mitbestimmung in Wirtschaft und Gesellschaft unser Auftrag ist. Die Studienförderung ermöglicht Bildungszugänge unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Etwa drei Viertel der jungen Menschen, die wir fördern, kommen aus nichtakademischen Familien. Bildung bleibt der Schlüssel für alle weitere Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, und deshalb ist das natürlich eine ganz wichtige Voraussetzung, die wir da schaffen.
Wie attraktiv ist es, sich im Betriebsrat oder Aufsichtsrat zu engagieren?
CLAUDIA BOGEDAN: Wir haben Gemeinschaftsräume verloren. Wir sehen in unserer Forschung, dass es in der Coronapandemie begann. Wichtig ist, dass wir lernen, auszuhalten, dass jemand anderer Meinung ist. Das braucht wirklich physischen Raum. Wenn alles in irgendwelche Filterblasen verlegt wird, wenn die Leute Konversation mit einem imaginären Social-Media- Publikum halten, dann sind sie nicht mehr im Austausch. Die Arbeit im Aufsichtsrat oder Betriebsrat ist dagegen ganz handfest: Wer dieses Magazin liest, der weiß, dass man dabei tolle Erlebnisse haben und wirklich etwas bewegen kann. Seien wir „zukunftsfreudig“ – um mit einem Wort Böcklers zu schließen.