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Wie verändert sich die Rolle der Gewerkschaften in der Digitalisierung? Werden sie weniger gebraucht –oder viel mehr? Darüber diskutierten Norbert Kluge, Direktor des I.M.U. der Hans-Böckler-Stiftung, und der Berater Martin Lennartz von intrinsify – Netzwerk für die neue Wirtschaft. Magazin Mitbestimmung

Das Gespräch führte CARMEN MOLITOR.: „Gewerkschaften brauchen keine Nachhilfe in Demokratie“

Ausgabe 10/2018

Interview Wie verändert sich die Rolle der Gewerkschaften in der Digitalisierung? Werden sie weniger gebraucht – oder viel mehr? Darüber diskutierten Norbert Kluge, Direktor des I.M.U. der Hans-Böckler-Stiftung, und der Berater Martin Lennartz von intrinsify – Netzwerk für die neue Wirtschaft.

Das Gespräch führte CARMEN MOLITOR.

Herr Lennartz, Sie haben einen Blog-Beitrag über die Zukunft der Gewerkschaften mit dem provokanten Titel „Bye-bye Unions?“ verfasst. Ihre Kritik: Den Gewerkschaften gehe der Markenkern verloren, sie reagierten auf strukturelle Veränderungen der Arbeitswelt zu wenig.

Lennartz: Ich frage mich, ob Gewerkschaften in ihrem aktuellen Zuschnitt für die neuen Fragen der Zeit gerüstet sind. Gewerkschaften stammen, historisch gesehen, aus einer Welt, die einfacher ist als heute: Arbeitgeber oder Kapitalisten hier – und die Arbeiterschaft dort. Die soziale Frage von damals ist natürlich nicht endgültig gelöst, aber neben sie sind viele andere wichtige Themen in der Gesellschaft getreten. Die Arbeitswelt differenziert sich, Themen und Problemfelder sind immer mehr vernetzt. Tarifpolitik und Mitbestimmung reichen für eine Interessenvertretung der Erwerbstätigen nicht mehr aus. Gewerkschaften können nicht mehr allein als Stellvertreter für soziale Rechte fungieren, es braucht mehr Möglichkeitsfelder – als Ergänzung zur institutionalisierten Mitbestimmung.

Kluge: Das ist eine klischeehafte Betrachtung. Wir reden doch nicht mehr über den Zigarrenarbeiterverband rund um Bielefeld von 1848. Wenn die Mechanik bisweilen so ist, hat es mit den Arbeitsverhältnissen zu tun, die diese Gewerkschaften zum Tanzen gebracht haben. Aber Gewerkschaften sind keine Serviceveranstaltung für Arbeitnehmer. Sie wollen eine emanzipatorische, soziale Bewegung sein, die auf dem freiwilligen Bekennen beruht, dass jemand mitmachen will. Das ist der Unterschied zu einer Sozialbehörde.

Befassen sich die Gewerkschaften mit den richtigen Themen?

Kluge: Gewerkschaften haben vielleicht nicht immer das Große und Ganze im Auge. Aber sie versuchten, in den Konstellationen, die ihnen gegeben sind, zeitnah Probleme ihrer Mitglieder zu lösen. Wesentlich ist: Wenn ich eine Interessenvertretung beanspruche, muss ich auch zeigen, dass ich das umsetzen kann. Ich muss wirksames Handwerkszeug entwickeln, eine Organisationsmacht hinkriegen und Solidarität stiften. Es geht immer darum, soziale Interessen zu organisieren.

Lennartz: Mich beschäftigt die Frage: Was müssen wir heute tun, damit wir morgen kein Problem haben? Ja, es gibt immer noch Raum für traditionelles gewerkschaftliches Engagement und Solidarität. Doch das sind moralische Begriffe, so sympathisch sie auch klingen. Letztlich geht es darum: Wie funktionieren Wirtschaft und Gesellschaft am besten? Möglich, dass in Zukunft Bildung oder Klima bedeutsamer werden als die klassischen Gewerkschaftsthemen. Es ist nicht meine Rolle, gute Ratschläge zu geben. Doch ich wünsche den Gewerkschaften mehr sichtbare Auseinandersetzung über Themen wie diese. Tarifpolitik und Mitbestimmung reichen für eine Interessenvertretung der Erwerbstätigen nicht mehr aus. Gewerkschaften können nicht mehr allein als Stellvertreter für soziale Rechte fungieren.

Aber ist die Konsequenz tatsächlich: Bye-bye Unions? Oder werden Gewerkschaften in Zeiten des Wandels nicht mehr denn je gebraucht?

Kluge: Ein passenderes Motto wäre: „Digitalisierung, Globalisierung: Gewerkschaften – willkommen im Club!“

Was müssen die Gewerkschaften als „Clubmitglieder“ in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung grundsätzlich Neues leisten?

Kluge: Wenn die Arbeit sich grundlegend ändert, werden auch der Stil und die Kultur anders, mit Arbeit umzugehen. Ein Beispiel: Wenn früher vor allem das Kollektiv nach außen gewirkt hat, sind es heute die einzelnen Menschen, die die Gewerkschaften repräsentieren, die Gesichter, die über die Medien bekannt werden. Wenn sie überzeugend wirken, gibt es andere, die sagen: Gewerkschaften sind eine gute Idee. Man muss den Menschen klar sagen, dass Gewerkschaften ihnen keine Garantie dafür geben können, dass ihre Arbeit so bleibt, wie sie heute ist, dass Gewerkschaften aber als Interessenverbände an Bedingungen arbeiten, damit die Beschäftigten sich entwickeln können. Und dass sie dafür sorgen, dass Menschen stark werden für den Arbeitsmarkt der Zukunft, den heute keiner kennt.

Herr Lennartz, Sie sehen die Chance der Gewerkschaften in einer viel weiter gefassten gesellschaftlichen Rolle.

Lennartz: Es gibt eine ganze Reihe drängender Probleme in unserer Gesellschaft wie die Bildungspolitik, Pflege, Gesundheit. Da ist Handlungsbedarf, da sehe ich angesichts einer in kleinkarierten Handlungsmustern verstrickten Politik eine Marktlücke für wirksame Inte­ressenvertretung und Lobbyarbeit. Gewerkschaften können hier möglicherweise eine wirksame Rolle finden.

Kluge: Dafür plädiere ich nicht. Wir leben in Arbeitsteilung mit politischen und demokratisch legitimierten Institutionen, die solche Aufgaben erledigen müssen. Demokratie wird in den Parlamenten entschieden, es gibt festgelegte Verfahren. Ich will auch gar nicht alles selber machen. Beteiligung heißt ja nicht: Ich muss mich jetzt nicht nur um meinen Gartenzaun, sondern auch noch um den Gartenzaun meines Nachbarn kümmern, weil es keinen Ordnungsrahmen gibt. Andererseits verrutschen gerade die Koordinaten hin zu einer stärkeren Betonung von Eigeninitiative und Flexibilität auf Kosten von Sicherheit. Das Unternehmen kommt auf den Betriebsrat oder auf die Gewerkschaft zu und sagt: Wir brauchen noch mehr Flexibilität! Gleich mit der Drohung, sonst den Betrieb ins Ausland zu verlagern. So kann Konsensbildung und die Gestaltung von Gesellschaft nicht funktionieren. Das würde ich nicht dem Spiel der Marktkräfte überlassen. Dafür brauchen wir den Ordnungsrahmen der gesetzlichen Mitbestimmung.

Wissen auch die Menschen in den neuen Branchen der Plattformindustrie, dass die Gewerkschaften ein Stabilitätsfaktor für sie sein können?

Kluge: Wir haben ein Image von Sicherheit, was manche vielleicht als langweilig bezeichnen. Was aber gut ankommt, wenn etwas kurz vor der Wand steht. Dann sieht man, dass die soziale Kompetenz der Gewerkschaft gesucht und anerkannt ist. Solange die Leute das Gefühl nicht haben, es wird prekär, so lange fragen sie aber leider meist: „Wozu brauchen wir eine Gewerkschaft?“

Lennartz: Das Retter-Image finde ich gefährlich. Wir brauchen Menschen, die sich gestaltend beteiligen. Die wünsche ich mir – ohne den Parlamentarismus infrage zu stellen, den Gewerkschaften natürlich nicht ersetzen sollen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, in denen Menschen selbstbestimmter agieren können. Ich sehe die Rolle der Gewerkschaften mehr ordnungspolitischer Natur und nicht als rettende Helfer in der Not. Das kann in einer differenzierten und komplexen Welt nicht mehr funktionieren. Wir müssen gestalten, nicht abwehren.

Kluge: Ja, aber unser Gestaltungsfeld ist im Wesentlichen die organisierte Arbeitswelt geblieben. Wir gestalten sie in der Regel über Tarifverträge. Im Tarifvertrag drücken sich die Machtverhältnisse aus. Ein Beispiel: Die IG Metall hat vor zwei Jahren das Thema Weiterbildung ganz groß in den Tarifverhandlungen in Baden-Württemberg gespielt, um Menschen für den digitalen Wandel fit zu machen. Es gab harte Auseinandersetzungen um die Frage: Wer bestimmt, was für die Arbeitnehmer gut ist? Die Arbeitgeber sagten: Wie Anpassungsqualifikation aussieht, bestimmen wir! Die Gewerkschaftsseite wollte aber im emanzipatorischen Anspruch Weiterbildung für jede und jeden Einzelnen öffnen. Jetzt kann man sagen: Wir brauchen mehr Beteiligungskompetenz. Aber aus gewerkschaftlicher Sicht gehören immer zwei dazu. Arbeitnehmer übernehmen in Deutschland nicht ihren Betrieb. Wenn ich dem folge, was Sie sagen, müssten die Arbeitnehmer aber letzlich den Betrieb übernehmen.

Lennartz: Es geht nicht um Übernahme, es geht um unterschiedliche Fähigkeiten und Interessen. Gute Arbeit ist, wenn die Wertschöpfung stimmt und Unternehmer, Mitarbeiter, Kunden und die Gesellschaft davon profitieren. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist längst nicht mehr der bestimmende Faktor. Es gibt immer mehr Unternehmen, die nach Formen suchen, stärker auf soziale Intelligenz zu setzen. Sie machen freiwillig Mitbestimmungs- oder Beteiligungsangebote, weil sie wissen, dass sie sonst keine guten Mitarbeiter bekommen. Da verwischen die klassischen Fronten zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zum Teil völlig.

Kluge: Es ist doch merkwürdig, dass inzwischen sogar Unternehmer selbst Beteiligung propagieren. Wir müssen uns als Gewerkschafter von Unternehmen keinen Nachhilfeunterricht in Demokratie und Beteiligung geben lassen.

Lennartz: Niemand muss irgendwem Nachhilfe geben. Gehen wir doch davon aus, dass es meistens intelligente Menschen sind, die handeln.

Was begeistert Sie an der Idee der sozialen Intelligenz, Herr Lennartz?

Lennartz: Soziale Intelligenz hat mit Kommunikation zu tun, dem Erkennen von Grenzen und Möglichkeiten. Das stringente Ingenieursdenken in Ursache-Wirkungs-Ketten halte ich für fatal. Wir fördern soziale Intelligenz, indem gute Bedingungen für Könner geschaffen werden, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen zur Lösung neuer Probleme zusammenzubringen. In unsicheren Kontexten brauchen wir Könner, die über Mut und Möglichkeiten verfügen, ihr Können einzusetzen, und nicht Schemata folgen, die in der Vergangenheit funktioniert haben.

Kluge: Natürlich kann man immer sagen: Wir müssen mal etwas ausprobieren und gestalten. Aber das nutzt alles nichts, wenn darüber keine verbürgten Rechte und zwingenden Handlungsmöglichkeiten für die Beschäftigten entstehen.

Lennartz: Eine Arbeitsgesellschaft der Zukunft braucht eine Interessenvertretung der Erwerbstätigen. Diese wird jedoch nicht mehr auf kollektiver Ebene funktionieren. Hinzu kommen müssen Differenzierung, Wahlfreiheit und Erfüllung von Ansprüchen für Selbstorganisation und Selbstbestimmung für Selbstständige, freie Berufe, Arbeitslose und Praktikanten neuer Arbeitsformen, deren Entstehen wir allerorts beobachten. Die Gesellschaft polarisiert und differenziert sich gleichzeitig. Wir müssen darüber nachdenken, welche Formen der Organisation, der Mitwirkung wir uns in Zukunft vorstellen können. Mein „Bye-bye“ ist natürlich eine gewollte Provokation. Weil ich Gestaltungsbedarf sehe, nicht weil ich gegen Mitbestimmung bin oder die historische Rolle der Gewerkschaften nicht sehe oder zu würdigen bereit bin.

Müssen sich die Gewerkschaften denn ganz neu aufstellen?

Lennartz: Wir leben in einer Hybridzeit, es gibt immer noch Verletzungen von Arbeitnehmerrechten. Dem müssen wir selbstverständlich entgegentreten. Mein Punkt ist: Das reicht nicht mehr aus. Es gibt viel Neues zu tun.

Kluge: Ist sozialer Schutz eine alte oder eine neue Idee?

Lennartz: Sozialer Schutz ist eine Idee, die immer wichtig ist. Die war in der Vergangenheit wichtig und die wird auch in Zukunft wichtig sein.

Kluge: Ist Einkommen, mit dem du dir eine Wohnung leisten kannst, eine alte oder eine neue Idee?

Lennartz: Darüber müssen wir nicht diskutieren. Das ist eine alte Idee, die nichts an Aktualität eingebüßt hat, wie wir sehen.

Also doch kein leises Servus an die Gewerk­schaften?

Lennartz: Wir brauchen weniger Stellvertreter und viel mehr Raum für Unterschiedlichkeit. Es wird sich zeigen, ob die Gewerkschaften eine neue Rolle finden und annehmen. Das kann ich mir gut vorstellen, Fähigkeiten und Potenziale dazu haben sie. Aber es passiert nicht im Selbstlauf.

Kluge: Meiner Ansicht nach kann man kritisieren, dass Gewerkschaften zu wenig Präsenz in manchen Problemfeldern zeigen, weil sie da keine Mitglieder haben. Das ist ein Thema. Gewerkschaften, wo sie gut funktionieren und wirklich präsent sind, werden auch in Zukunft im politischen Koordinatensystem eine sehr wichtige Kraft sein, um zu sozialem Ausgleich zu kommen. Ein „Bye-bye“ wird es nicht geben.

Aufmacherfoto: Anna Weise

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