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Das ungarische Parlamentsgebäude, in den Nationalfarben illuminiert. Magazin Mitbestimmung

Nationalismus: Gespielte Volksnähe

Ausgabe 02/2024

Wie ist es, wenn Rechtspopulisten die Macht innehaben? Was wird aus ihren Versprechungen? Beobachtungen aus Ungarn, Italien und Polen. Von Silviu Mihai

Der 13. Dezember vergangenen Jahres war ein besonders guter Tag für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Sein Land erhielt an diesem Tag von der EU-Kommission 10,2 Milliarden Euro eingefrorener Gelder, angeblich weil Ungarn substanzielle Fortschritte bei der Rückkehr zu einer unabhängigen Justiz gemacht hatte. Schwer wiegt allerdings der Verdacht, dass die EU sich mit der Freigabe der Finanzhilfen lediglich Orbáns Zustimmung für Beitrittsgespräche mit der Ukraine erkauft hat. Ohnehin ist zu befürchten, dass der Großteil der EU-Milliarden nach bewährter Praxis der von Orbán gehegten Günstlingswirtschaft zugutekommt, vor allem den Firmen seines Schulfreundes Lorinc Mészáros.

Dass Orbán die Klaviatur aus Korruption, Vetternwirtschaft, Demontage des Rechtsstaats, Unterdrückung kritischer Medien, Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit, Selbstherrlichkeit und Demokratieverachtung perfekt bespielt, ist hinlänglich bekannt. Trotzdem sitzt der 60-Jährige auch 26 Jahre nach seiner erstmaligen Wahl zum Ministerpräsidenten – er hatte das Amt von 1998 bis 2002 und dann wieder ab 2010 inne – fest im Sattel.

Auch Massendemonstrationen ändern daran nichts – wie kürzlich, als Lehrerinnen und Lehrer, medizinisches Personal sowie Gewerkschafter aus verschiedenen Industrie- und Dienstleistungsbranchen auf die Straßen gingen und ihre Unzufriedenheit mit miserablen Gehältern, gekürzten Arbeitsrechten sowie dem autoritären Regierungsstil Orbáns ausdrückten. Der weite Platz vor dem ungarischen Parlament war trotz der Kälte meist gut gefüllt. „Es geht nicht nur um Forderungen nach Gehaltserhöhungen“, sagte Alexandra Pál, Vorstandsmitglied der Lehrkräftegewerkschaft PDSZ, „sondern auch um akzeptable Arbeitsbedingungen und anständige öffentliche Dienstleistungen.“ Wenn es beispielsweise im Schulwesen so weitergehe, „wird niemand mehr unterrichten wollen“.

Bisher kann es sich der Ministerpräsident leisten, all diese Proteste einfach auszusitzen oder sich über sie lustig zu machen. Das ermöglicht eine bereits kurz nach der Machtübernahme von Orbáns Partei Fidesz eingeführte Neuregelung des Arbeitsrechts. Sie macht Streiks so gut wie unmöglich und räumt den Arbeitgebern sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor weitgehende Rechte ein. So dürfen Überstunden erst Jahre später ausgeglichen werden, ein Kündigungsschutz existiert praktisch nicht mehr, und die Hürden für eine gewerkschaftliche Vertretung wurden mehrfach erhöht. Die Liste der absurden Bestimmungen des ungarischen Arbeitsrechts ist so lang, dass die Betroffenen und die wenigen übrig gebliebenen unabhängigen Medien es „Sklavengesetz“ nennen.

Politischer Gegenwind aus sozialen Medien

Politischen Gegenwind bekommt Orbán zunehmend aus den sozialen Medien; sie sind Plattformen für Vernetzung und gemeinsame Aktion. So wie vor einigen Wochen bei einer Affäre um die Begnadigung eines Mannes, der schweren sexuellen Kindesmissbrauch vertuscht hatte, durch Staatspräsidentin Katalin Novak, eine Parteifreundin Orbáns: Die online organisierte Protestwelle war massiv, allein in Budapest demonstrierten bis zu 150 000 Menschen gegen den
Begnadigungsakt.

Die außergewöhnlich hohe Teilnehmerzahl in einem Land, in dem eine Mehrheit inzwischen politisch eher gleichgültig eingestellt ist, erklärt der Politologe Daniel Mikecz mit dem „Influencer-Aktivismus“. Es seien die „Stars der ungarischen Influencer“ gewesen, so Mikecz im Budapester Portal Qubit, die ihre virtuelle Welt verlassen, eine Offlinedemonstration organisiert und für eine hohe Mobilisierung gesorgt hätten. Und der Protest zeigte Wirkung: Orbán distanzierte sich eilig von seiner politischen Weggefährtin und brachte den Vorschlag für eine Verfassungsänderung im Parlament ein, wonach Straftäter, deren Tatopfer Kinder sind, niemals begnadigt werden dürfen. Der Staatspräsidentin blieb schließlich nur der Rücktritt.

Mindestlohn? Schafft nur Probleme!

  • Italiens Ministerpräsidentin Girogia Meloni (li.) und Verkehrsminister Matteo Salvini (re.)
    Vereint gegen Mindestlohn und Streiks: Italiens rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr Verkehrsminister Matteo Salvini.

„Schande! Schande!“, skandierten Oppositionsabgeordnete beim Auftritt der Regierungschefin. Sie entrollten Transparente und sprachen von einem „traurigen Tag für die Republik“. Dass es in Italiens Parlament hoch hergeht, ist keine Seltenheit, aber dass eine Ministerpräsidentin derart angegangen wird wie in jener Sitzung der Volksvertretung Anfang Dezember, hatten die meisten Parlamentarier noch nicht erlebt.

Giorgia Meloni von der ultrarechten Partei Fratelli d’Italia, Ministerpräsidentin seit Oktober 2022, hatte mit ihrer Regierungsmehrheit ein Gesetz gegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns verabschiedet. Italien bleibt somit
einer von nur fünf EU-Staaten ohne gesetzlichen Mindestlohn. Ihr Kabinett wird in dem Gesetz lediglich aufgefordert, für „auskömmliche Löhne“ zu sorgen – ohne gesetzliche Lohnuntergrenze. Die Regierung Meloni, so die Chefin der Sozialdemokraten, Elly Schlein, habe „den Ausgebeuteten eine Ohrfeige verpasst“.

Meloni versteht die Aufregung nicht. Der Mindestlohn sei doch nur „ein Slogan, der Gefahr läuft, Probleme zu schaffen“. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Mindestlohn erklärt Simone Fana, Co-Autor des Buches „Schluss mit den Hungerlöhnen“, mit den vielen Kleinstunternehmen, die einen guten Teil der Wählerbasis Melonis ausmachen. Ihre Gewinne verdanken viele dieser Firmen den niedrigen Arbeitskosten. In manchen Gegenden des Landes malochen Menschen immer noch für unter fünf Euro pro Stunde.

Oft und gern betont Meloni, sie stehe mit ihrer Regierung an der Seite des „kleinen Mannes“. Ihre Politik indes spricht eine andere Sprache. So beschloss Verkehrsminister Matteo Salvini im vergangenen Spätherbst, mehrere Streiks der Gewerkschaften im Nah- und Fernverkehr von geplanten 24 auf nur vier Stunden zu kürzen. „Ich werde es diesen Leuten nicht erlauben, das ganze Land für einen ganzen Tag als Geisel zu nehmen“, sagte der Politiker, dessen geistige Nähe zum Neofaschismus immer wieder Thema ist. Eine ähnliche Protestaktion des Flugverkehrspersonals erhielt per Ministerialdekret eine Absage. Man wolle Unannehmlichkeiten für die Bevölkerung begrenzen, lautete die Begründung
Salvinis. Seit Jahrzehnten hatte kein Regierungsvertreter mehr von der Möglichkeit des Ministerialdekrets gegen einen geplanten Streik Gebrauch gemacht.

Mit den Streiks wollten die Gewerkschaften ihre Forderung nach Gehaltserhöhungen bekräftigen. Angesichts der hohen Inflation sei die Situation unerträglich geworden, argumentieren die Gewerkschaftsverbände UIL und CGIL, die zu den Streiks aufgerufen hatten. Italien ist das einzige Land der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in dem die Löhne und Gehälter in den letzten 30 Jahren real nicht gestiegen, sondern um drei Prozent gesunken sind. Maurizio Landini, der Generalsekretär der CGIL, fand angesichts der Streikverbotspolitik der rechten Regierung deutliche Worte: „Die Vorgehensweise der Regierung ist nichts anderes als ein Angriff auf das Streikrecht und auf die italienische Demokratie.“

Brüssel ist an allem schuld

  • Menschenmenge bei der Essensausgabe in einer Suppenküche in Polen
    Zum Sattwerden in die Suppenküche: Unter der PiS-Regierung hat sich die soziale Lage in Polen zugespitzt.

Wer ein Beispiel sucht, wie unwürdig ein demokratischer Machtwechsel verlaufen kann, findet in Polen hervorragendes Anschauungsmaterial. Die im Herbst abgewählte nationalkonservative Regierung unter Führung der Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit”) klammerte sich verzweifelt an der Macht fest. Staatspräsident Andrzej Duda, ebenfalls ein PiS-Parteigänger, beauftragte, um seiner Partei noch ein paar Wochen an der Macht zu ermöglichen, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) erneut mit der Regierungsbildung, obwohl der keinerlei Aussicht auf eine Mehrheit im Parlament hatte.

Die achtjährige PiS-Regentschaft hat enormen Schaden hinterlassen. Die Ultrakonservativen und Europaskeptiker um den Strippenzieher Jarosław Kaczyński folgten dem Rezept des Ungarn Viktor Orbán: Volksnähe spielen, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie schüren, das Justizsystem und andere demokratische Kontrollinstanzen mit Loyalisten neu besetzen und Brüssel für alles Üble die Schuld geben – während man EU-Gelder einkassiert, die dann an die eigene Parteiklientel verteilt werden.

In Polen ging diese Strategie allerdings nicht so gut auf wie in Ungarn. Nie gelang es der PiS, die totale Kontrolle über alle Institutionen des Landes zu erlangen. Außerdem trat die von dem jetzigen Regierungschef und früheren Europaratspräsidenten Donald Tusk geführte liberale und europafreundliche Opposition stärker und überzeugender auf als die vielen zerstrittenen linken und liberalen Parteien in Ungarn.

Letztlich war allerdings die zunehmend prekäre soziale Lage wahlentscheidend. Das vergangene Jahr war in Polen geprägt von Protesten. Gewerkschaften aus allen Branchen forderten angesichts des massiven Kaufkraftverlusts Gehaltserhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen, wenn auch mit nur mäßigem Erfolg.

Für die PiS, die sich gerne als Nachfolgerin der Solidarność-Bewegung präsentiert – Kaczyński war Aktivist der ersten freien Gewerkschaft Polens und Vertrauter von Lech Walesa –, war der Gegenwind seitens der Gewerkschaften besonders peinlich. Kaczyńskis Partei versuchte, die Proteste herunterzuspielen und als politisch motiviert darzustellen. Die Rechnung ging nicht auf, denn eine Mehrheit der Bevölkerung hielt laut Umfragen die Forderungen der Beschäftigten für legitim. „Dies ist die letzte Chance, den berechtigten Forderungen jener Beschäftigten nachzugehen, die dem Staat und den Menschen in Polen dienen“, hieß es kurz vor den Parlamentswahlen in einer gemeinsamen Erklärung der Protestteilnehmenden. „Ohne faire Gehälter für Beamte und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter öffentlicher Stellen kann kein effizienter Staat existieren.“

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