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Magazin Mitbestimmung: Gekaufte Zeit
PRIVATISIERUNGEN Trotz großer Konflikte hat Dresden kommunale Wohnungen verkauft und den Haushalt saniert. In Leipzig könnte sich das wiederholen. Von Susanne Kailitz
SUSANNE KAILITZ ist Journalistin in Dresden./Foto: Norbert Millauer, ddp
Wenn er auf Fragen zur Kassenlage antworten kann, hat Hartmut Vorjohann sichtlich Freude an seiner Arbeit. "Dresden ist schuldenfrei", sagt der Kämmerer der sächsischen Landeshauptstadt mit einem breiten Lächeln, "wir haben alle Kredite zurückgezahlt." Der Grund für seine gute Laune liegt vier Jahre zurück. 2006 verkaufte die Stadt ihren gesamten Wohnungsbestand an den amerikanischen Investor Fortress und erhielt dafür nach Abzug aller Immobilienschulden 982 Millionen Euro. Mit diesem Geldsegen bezahlte die Stadt die 800 Millionen Außenstände, die den Stadthaushalt belasteten, und war auf einen Schlag schuldenfrei.
Auch fielen die jährlichen Kreditkosten von rund 70 Millionen Euro weg, die kaum noch Luft zum Atmen ließen. Mit dem Geld, das nach Ablösung der Verbindlichkeiten übrig blieb, konnte die Stadt zwei neue Stiftungen gründen: die Dresdner Sozialstiftung, die den dauerhaften Erhalt des Sozialpasses der Stadt für einkommensschwache Familien und den Behindertenfahrdienst garantieren soll, und eine Stiftung für den Kreuzchor, die das künstlerische Niveau des 700 Jahre alten Chores sichern und das dazu nötige Fachpersonal bezahlen soll. Beiden konnte die Stadt jeweils einen Kapitalstock von 13,3 Millionen Euro übergeben. Damit soll, so der Plan, ihre Arbeit unabhängig von der aktuellen Tages- und Haushaltspolitik gesichert sein.
Doch es gab auch kritische Stimmen. Vom Verkauf des Tafelsilbers war die Rede, als Dresden sich von den Wohnungen trennte. Vorjohann erklärt dagegen: "Das würde ich immer wieder so machen. Wir haben uns Jahr um Jahr bemüht, den Haushalt in den Griff zu bekommen", sagt er, "über Steuererhöhungen, steigende Gebühren und Stellenstreichungen. Aber wir konnten damit nie viel ausrichten." Im Jahr 2006 befand sich die Stadt dann in einer Notlage. Sie stand kurz vor der Zwangsverwaltung. Ob so ein Geschäft heute, im Jahr 2010, noch möglich wäre? Vorjohann weiß es nicht: "Heute würde so ein Verkauf wohl nicht mehr stattfinden, weil das kaum ein Investor stemmen könnte." Er ist noch immer zufrieden mit dem Millionendeal.
"EIN PUTSCH VON OBEN"_ Andere wären froh, wenn es den Verkauf der städtischen Wohnungen nie gegeben hätte. Auch wenn für die Mieter der damaligen Woba GmbH eine "Sozialcharta" geschrieben wurde, die der Stadt Einwirkungsrechte zusicherte, hat sich nach Ansicht des DGB-Vorsitzenden für die Region Dresden-Oberelbe, Ralf Hron, die Lage der Mieter erheblich verschlechtert. Viele mussten seit dem Verkauf Mieterhöhungen hinnehmen, viele unsanierte Wohnungen wurden im vergangenen Jahr an andere Investoren weiterverkauft, was die Bewohner erneut verunsichert. Dinge, vor denen Hron vor dem Verkauf gewarnt hatte. Der DGB stand damals an der Spitze des Bürgerbegehrens gegen den Verkauf, bei dem, wie Hron es formuliert, "in wenigen Minuten verschleudert wurde, was in 130 Jahren angespart worden ist". Resigniert sagt er: "Wir konnten es nicht verhindern, das war ein Putsch von oben."
Die Gewerkschafter werfen der Stadt außerdem vor, die Schuldenfreiheit sei nur die halbe Wahrheit. Zwar sei Geld in die Kasse gekommen. Aber Hron sagt: "Tatsächlich sind wir längst wieder im Verschuldungsbereich." Denn der Kämmerer bezieht sich auf den sogenannten Kernhaushalt der Stadt. Bei den städtischen Unternehmen sieht die Lage schon wieder anders aus. Das Statistische Landesamt verzeichnete Ende 2009 für Dresden immer noch Schulden von 114,9 Millionen Euro - weil es sich dabei aber um Verbindlichkeiten wie Bürgschaften oder "kreditähnliche Rechtsgeschäfte" handelt, tauchen die im Haushalt ebenso wenig auf wie die 616-Millionen-Euro-Bürgschaft der Stadt für den Rückkauf des lokalen Energieversorgers Drewag, der vor zwölf Jahren zu großen Teilen privatisiert worden war. Manchen scheint es daher, als hätte sich die Stadt nur eine Atempause gekauft. Viele Dresdner sind mit der Art, wie die Stadt ihre Pflichtaufgaben erfüllt, auch heute nicht zufrieden. Ein Beispiel ist der Kreiselternrat - gerade hat er eine Online-Datenbank eingerichtet, in der drastische Bilder den Bauzustand vieler Dresdner Schulen beklagen. Der Investitionsrückstand beträgt 650 Millionen Euro. Um ihn aufzulösen, fehlt das Geld.
STREIT UMS SCHULDENVERBOT_ Weil sowohl die Steuereinnahmen als auch die investiven Schlüsselzuweisungen des Freistaats sinken, droht dem Dresdener Stadthaushalt für 2011 eine Deckungslücke von 153 Millionen Euro, 2012 werden es vermutlich 111 Millionen sein. Man müsse bei den Investitionen "zwei Gänge herunterschalten", sagt der Stadtkämmerer Vorjohann. Soll man nun den Konsolidierungskurs fortsetzen, oder ist schon der Beweis erbracht, dass man den Haushalt nicht konsolidieren kann? Schnell wird daraus ein Grundsatzstreit darüber, ob man gezielte Verkäufe kommunalen Eigentums überhaupt ins Auge fassen darf oder nicht.
Vorjohann wehrt sich gegen die immer lauter werdenden Forderungen der SPD und der Grünen im Dresdner Stadtrat, die das 2006 vereinbarte Schuldenverbot auf den Prüfstand stellen wollen. Sie argumentieren, nur so könnten Schulen saniert und dringend gebrauchte neue Kindertagesstätten gebaut werden. FDP und CDU sehen darin einen "Dammbruch", den es zu verhindern gilt. Allerdings war auch dieser Stadtrat in der Vergangenheit nicht abgeneigt, Geld für umstrittene Prestigeprojekte lockerzumachen. Den überdimensionierten Neubau des Fußballstadions, in dem nun eine Drittligamannschaft spielt, hält nicht nur Kämmerer Vorjohann für eine "völlig falsche Entscheidung" - auch viele Eltern, die trotz aller Mühen für ihre unter Dreijährigen keinen Kita-Platz bekommen oder deren Schulkinder in verschimmelten Klassenzimmern lernen, schütteln angesichts solcher Prioritäten den Kopf.
LEIPZIGS ZAHLEN SIND SCHLIMMER_ In der Messestadt Leipzig ist die Haushaltslage weit dramatischer als in Dresden. Diskussionen über gefühlte oder echte Schulden sind hier Luxusprobleme. Ende 2008 stand die Stadt nach einer Aufstellung des MDR mit 842,6 Millionen Euro in der Kreide - und das allein mit seinem Kernhaushalt. Inklusive aller Eigenbetriebe und -gesellschaften summieren sich die Verbindlichkeiten auf 2,43 Milliarden Euro. Pünktlich zur Jahresmitte im Juni hat Finanzbürgermeister Thorsten Bonew eine Haushaltssperre für den laufenden Etat verhängt. Um zu sparen, stehen die Zuschüsse zum preisermäßigten Sozialticket für den Nahverkehr, von dem 40 000 Hartz-IV-Empfänger profitieren, wieder auf dem Prüfstand, sollen Leistungen der Kitas beschnitten und die Investitionen in Jugendeinrichtungen weiter gekürzt werden.
Doch auch wenn Dresden mit seiner Schuldenfreiheit auf den ersten Blick einen riesigen Vorteil hat: Im direkten Vergleich mit Leipzig profitieren die Einwohner der Landeshauptstadt bei den Gebühren, Service- und Lebenshaltungskosten davon nicht unmittelbar. So bezahlen Eltern, die ihr Kind in einer Dresdner Kinderkrippe täglich sechs Stunden betreuen lassen wollen, mit 155 Euro monatlich deutlich mehr als die Leipziger: Hier fallen für die gleiche Betreuung nur 122 Euro an. Auch für den Kindergarten müssen Eltern in Dresden mit 108 Euro deutlich mehr lockermachen als Eltern in Leipzig, die dafür 64 Euro zahlen. 45 Euro kostet eine Monatsfahrkarte für den Nahverkehr, in Dresden sind es zwei Euro mehr. Auch in Sachen Grund- und Gewerbesteuer profitieren die Dresdner von der guten Situation ihrer Stadt nicht spürbar: Der Hebesatz liegt mit 450 Prozent nur knapp unter dem in Leipzig von 460 Prozent. Auch die Abfallgebühren beider Städte haben das gleiche Niveau. Und wer schwimmen will, kann das in den Bädern der beiden Städte jeweils für 3,50 Euro tun - muss aber in Dresden nach zwei Stunden das Wasser verlassen, während er in Leipzig unbegrenzt seine Bahnen ziehen kann. Beide Städte bieten einen Pass an, mit dem einkommensschwache Familien Zuschüsse für die Schülerspeisung und Ermäßigungen bei Eintrittsgeldern und Angeboten von Vereinen bekommen. Ob Schulden oder nicht - im Alltag der Bürger ist das nicht spürbar.
HOHES ZUKUNFTSRISIKO_ Doch die Langfristperspektiven der Messestadt sehen nicht allzu rosig aus, das Image ist angeschlagen. Während die Stadt kurz nach der Wende noch als "Boomtown" galt, entwickelte sie sich weniger positiv als vorhergesagt. Die Landesregierung siedelte sich in Dresden an und brachte viele Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst mit - und die Mikroelektronik-Industrie, die der Region den Namen "Silicon Saxony" einbrachte. Die Schwerindustrie wanderte Richtung Chemnitz ab, das sich auf seine Geschichte als Industriestandort besann. Der Plan, Leipzig als schicke Messestadt zu platzieren und sie insbesondere im Dienstleistungssektor voranzubringen, ging nicht auf.
Dazu kamen zum Teil abenteuerliche Spekulationen: In großem Stil verkaufte auch Leipzig Mitte der 90er Jahre kommunales Eigentum an amerikanische Investoren - um es umgehend wieder zurückzumieten. Gleich sieben sogenannte Cross-Border-Leasing-Verträge schloss die Stadt ab und gab damit nicht nur ihre Straßenbahnen, sondern auch Schienen, Oberleitungen, Kläranlagen, die Trinkwasserversorgung und ein Klinikum in fremde Hände; in der Hoffnung, von den Steuervorteilen der amerikanischen Investoren zu profitieren und Gewinne einzustreichen.
Zu den Finanzexperimenten gesellte sich auch kriminelle Energie: Um Geld für den Rückkauf der für 99 Jahre verpachteten Wasserversorgung zurücklegen zu können, handelten die Manager der Wasserwerke mit hoch riskanten Wertpapieren - und verspekulierten sich. Jetzt stehen die Wasserwerke für diverse Kreditrisiken von US-Versicherungen, Banken und sogar eines Kasino in Las Vegas gerade. Im schlimmsten Fall kostet das die Stadtwerke 270 Millionen Euro. Der Leipziger DGB-Chef Bernd Günther befürchtet, "dass das nur die Spitze des Eisbergs ist". Um aus der Misere wieder herauszukommen, prüfen Oberbürgermeister Burkhard Jung und sein Finanzbürgermeister Bonew immer wieder, ob sich von dem wenigen Tafelsilber, das überhaupt noch da ist, nicht noch etwas zu Geld machen lassen könnte - auch wenn sie damit immer wieder auf Widerstand stoßen.
Den Plan, den Sanierungsbedarf von rund 490 Millionen Euro bei Kitas, Schulen und Sportstätten wenigstens zum Teil über Public-Private-Partnerships anzupacken, lehnte der Leipziger Stadtrat im vorigen Frühjahr ab. Zu riskant erschien den Stadträten der Plan der Verwaltung, sich auf 25 Jahre an die privaten Partner zu binden, ohne genau zu wissen, wie es bis dahin um die Auslastung und Finanzierung der Schulen bestellt sein wird. Auch wenn es so weit nun nicht kommen wird: Der Eindruck entsteht, dass die drückende Schuldenlast in Leipzig die Verantwortlichen anfälliger für riskante Überlegungen macht, sich kurzfristig neues Geld zu beschaffen. Dresdens Strategie scheint da durchdachter - die Stadt hat Wohnungen abgestoßen, aber keinen wilden Privatisierungsmix betrieben wie Leipzig. Wenn es gelingt, den Haushalt zu stabilisieren, ohne dass die soziale Kälte einzieht, könnte das Beispiel Dresden Schule machen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Leipzig bei den Sozialdaten deutlich schlechter abschneidet als Dresden. Die Stadt ist ärmer, und sie weist höhere Arbeitslosenzahlen auf. Zwar haben beide Städte rund eine halbe Million Einwohner, aber die Kaufkraft, die sie mitbringen, beträgt in Dresden 31.659 Euro pro Jahr und Einwohner, in Leipzig sind es nur 27.930. Mit aktuell 14,1 Prozent liegt auch die Arbeitslosenquote spürbar höher als in Dresden, das einen Wert von elf Prozent ausweist. Die Linkspartei und Teile der Medien haben Leipzig schon zur "sächsischen Armutshauptstadt" gekürt. Der Druck auf die öffentliche Verwaltung ist da enorm.
Der Leipziger DGB-Chef Günther ist der Meinung, dass seine Leute schon Zugeständnisse genug gemacht haben - im Bereich der Arbeitszeiten und der Neubesetzung von Stellen, um Arbeitsplätze zu retten. "Aber wir werden nicht alles preisgeben", sagt er. Dabei steht der nächste Konflikt schon vor der Tür. Während andernorts Städte und Gemeinden früheres Eigentum zurückkaufen, geraten jetzt auch in Leipzig die städtischen Wohnungsgesellschaften in den Blick, obwohl erst 2008 ein Bürgerentscheid zum Verkauf kommunalen Eigentums deutlich zugunsten der Gegner derartiger Verkäufe ausfiel. Ein Netzwerk von Privatisierungsgegnern hatte damals Hunderttausende Leipziger mobilisiert, die davon überzeugt sind, dass Unternehmen der Daseinsfürsorge in die Hände der Kommunen gehören. "Der Entscheid ist bindend bis 2011", sagt Bernd Günther, "danach kommt das Thema ganz sicher wieder auf den Tisch. Wir werden wieder dagegen kämpfen."