Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Gefährlicher Trend
WISSENSCHAFT Im Laufe einer Generation hat sich der Anteil psychisch bedingter Fehltage im Betrieb verfünffacht. Die moderne Arbeitswelt mit Zeitdruck, Unsicherheit und komplexen Aufgaben bringt neue Risiken für die Gesundheit hervor.
Von GUNTRAM DOELFS, freier Journalist in Berlin
Es kam der Tag, an dem Miriam Meckel einfach nicht mehr konnte. Da saß die erfolgreiche Professorin für Kommunikationswissenschaften in Berlin vor ihren Koffern und schaffte es nicht mehr, sie zu packen. "Ich war blockiert, hatte Schwindelanfälle und musste weinen. Ich war absolut verzweifelt", schilderte Meckel jüngst in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Spiegel den Augenblick, als das Burn-out-Syndrom sie jäh aus der Bahn warf. Meckel lebte bis dahin beruflich ein Leben auf der Überholspur. Journalistin, Fernsehmoderation, jüngste Lehrstuhlinhaberin Deutschlands, Regierungssprecherin beim früheren nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, Professorin in St. Gallen - die Karriere der arbeitswütigen 42-Jährigen schien nur den Weg nach oben zu kennen. Bis zu jener folgenreichen Diagnose: Burn-out, eine Form totaler psychischer und physischer Erschöpfung.
Solche Krankengeschichten sind längst keine Seltenheit mehr. Inzwischen sind Depressionen, Burn-out-Syndrom und andere psychische Erkrankungen zu einem Massenphänomen in unserer Arbeitswelt geworden und auf dem besten Weg, zu typischen Erkrankungen des 21. Jahrhunderts zu werden, glaubt Klaus Pickshaus, Bereichsleiter Gesundheitsschutz und Arbeitsgestaltung beim Vorstand der IG Metall. Seit mehr als 20 Jahren registrieren Arbeitsmediziner, Krankenkassen und Gewerkschaften einen besorgniserregenden Anstieg bei den psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz. Bis Anfang der 1990er Jahre seien psychische Erkrankungen als Ursache für Krankheitstage der Mitarbeiter "nahezu bedeutungslos" gewesen, schreibt der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) in seinem Gesundheitsreport 2009. Heute jedoch nehmen diese bei der BKK schon den vierten Platz in der Rangliste der häufigsten Erkrankungen ein - nach Muskel- und Skeletterkrankungen, Krankheiten der Atemwege und Verletzungen. Bei den Frauen liegen sie sogar auf Platz drei.
STETIGES WACHSTUM_ Laut einer aktuellen Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), die die Ergebnisse von verschiedenen Krankenkassenuntersuchungen über psychische Erkrankungen seit 2001 auswertete, gingen 2008 knapp elf Prozent aller Fehltage auf seelische Probleme zurück, womit sich die Krankschreibungen in diesem Bereich seit 1990 verdoppelt haben. Und während bei den anderen häufigen Erkrankungen in der aktuellen Rangliste der BKK die Zahl der Krankheitstage seit 2004 mehr oder minder stagniert, wachsen sie bei den psychischen Krankheiten weiter an. Noch dramatischer muss man diese Zahlen sehen, wenn man weiß, dass psychische Belastungen auch körperliche Krankheiten auslösen können, die in diesen Zahlen noch gar nicht erfasst sind.
In den Betrieben sorgt der Anstieg für erhebliche Probleme. Denn Depressionen, Burn-out und Co. sind im Gegensatz etwa zu Atemwegsinfektionen Erkrankungen, die zu überdurchschnittlich langen Ausfallzeiten der Beschäftigten führen. Zwischen drei und fünfeinhalb Wochen fehlen diese pro Krankschreibung. Depressive fallen durchnittlich sogar bis zu 60 Arbeitstage im Jahr aus. Auch die Allgemeinheit zahlt üppig für den rasanten Anstieg der psychischen Erkrankungen. Schließlich verursachen diese nicht nur lange Ausfallzeiten im Betrieb, sondern auch überproportional viele Behandlungstage im Krankenhaus. In der aktuellen Statistik der BKK liegt pro Behandlung einer seelischen Krankheit die mittlere Verweildauer bei 24,3 Krankenhaustagen, was dem Zweieinhalbfachen der üblichen Liegezeit entspricht. Allein die Behandlung von Depressiven kostete nach Angaben der BPtK im Jahr 2004 vier Milliarden Euro.
Am stärksten betroffen ist nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler der Dienstleistungssektor. Unangefochten an der Spitze liegen Beschäftigte in der Telekommunikationsbranche, dort speziell Mitarbeiter in Callcentern und im Telefonservice von Unternehmen. Im Minutentakt müssen sich die Mitarbeiter dort von verärgerten Kunden abwatschen lassen für Fehler, die sie selbst gar nicht verursacht haben. Das ständige Gefühl, nichts daran ändern zu können, die von außen gesetzten Anforderungen nicht erfüllen zu können, mache krank, urteilt Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer und Professor für Psychologie.
Mit erheblichen seelischen Belastungen kämpfen auch Beschäftigte im Sozial- und Gesundheitswesen, in öffentlichen Verwaltungen, Aufseherinnen im Justizdienst oder Lokführer. In klassischen Malocherjobs mit schwerer körperlicher Arbeit - etwa auf dem Bau oder in der Land- und Forstwirtschaft - liegt die Zahl der psychischen Erkrankungen dagegen um ein Drittel bis um die Hälfte niedriger als im Durchschnitt der Erwerbstätigen. Die Veränderungen der Arbeitsgesellschaft, die prekäre Arbeitsmärkte und unsichere Beschäftigungsverhältnisse hervorgebracht haben, hinterlassen offensichtlich ihre Spuren in den Krankengeschichten der Mitarbeiter.
Auffällig ist, dass psychisch bedingte Ausfälle bei Frauen häufiger diagnostiziert werden als bei Männern. Die Zahl der Ausfalltage liegt bei ihnen um bis zu zwei Drittel höher als bei Männern. Eine Ursache für diesen Befund könnte sein, dass Frauen überwiegend im Dienstleistungssektor und dort häufig in Teilzeit arbeiten - unter Bedingungen also, die besonders Mütter stark belasten. Doch auch geschlechtsspezifische Faktoren kann man nicht ausschließen - sei es eine höhere Disposition für bestimmte Krankheitsbilder, sei es die Bereitschaft, darüber zu reden und Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Zum anderen gibt es auffallende Häufungen bei bestimmten Beschäftigungsformen - etwa eine "sehr auffällige Zunahme bei den Leiharbeitern", wie der Metall-Gewerkschafter Klaus Pickshaus schildert. Die große Unsicherheit im Job und die daraus resultierende Nichtplanbarkeit würden viele Leiharbeiter stark belasten, sagt er. Besonders häufig krank macht aber offenbar das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Bei Arbeitslosen, die ALG 1 empfangen, sind die Fallzahlen psychischer Erkrankungen gegenüber der arbeitenden Bevölkerung um das Siebenfache erhöht.
DIAGNOSTISCHE PROBLEME_ Die Krankheitsbilder der neuen Arbeitsgesellschaft zeichnen sich heute bereits deutlich ab. An der Spitze der psychisch bedingten Arbeitsausfälle stehen Depressionen, gefolgt von "Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen" (verursacht etwa durch den überraschenden Tod eines Familienangehörigen) und neurotischen Störungen (etwa Angststörungen). An vierter Stelle folgen neue Erkrankungsformen wie das Burn-out-Syndrom. 2008 wurde bei 20 Prozent der weiblichen BKK-Mitglieder über 50 Jahre und bei 10 Prozent der Männer eine Depression diagnostiziert. Beunruhigend hohe Zahlen, denn generell werden "Depressionen immer noch zu häufig, zu spät oder gar nicht erkannt", sagt Rainer Richter.
Schwierig ist auch eine klare Diagnose des Burn-out-Syndroms, das sich in der öffentlichen Debatte längst zu einer Art modischem Lifestyle-Kollaps der Eliten verselbstständigt hat. Häufig wird das Syndrom verkürzend und beschönigend als psychologische Folgeerkrankung arbeitssüchtiger Führungskräfte beschrieben. Das trifft nicht den Kern, denn Burn-out kann jeden treffen. Bis heute gilt das Burn-out-Syndrom jedoch nicht als eigenständige Krankheit gemäß der geltenden Krankheitsklassifikation ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ein Grund dafür, dass es gesicherte und belastbare Zahlen über das Ausmaß des Syndroms derzeit nicht gibt.
Die Ursachen für viele psychische Erkrankungen sind komplex. Familiäre Probleme, individuelle allgemeine Belastungen oder Dauerstress im Job - sie alle können dazu beitragen, dass ein seelischer Notstand entstehen kann. Seit Jahren gilt aber unter Experten als gesichert, dass der Arbeitsplatz mit einem Anteil von 40 Prozent die wichtigste Quelle für "psychologische Fehlbelastungen" ist, gefolgt von allgemeinen Ängsten wie drohender Arbeitslosigkeit (26 Prozent) und familiären Belastungen (23 Prozent).
URSACHEN IN DER ARBEITSWELT_ Doch wie konnte es zu diesem plötzlichen und rasanten Anstieg der psychischen Erkrankungen im Arbeitsleben kommen? Ein Teil der Erklärung liegt schlicht im Fortschritt der medizinischen Möglichkeiten. "Psychische Krankheiten wurden jahrzehntelang übersehen oder nicht diagnostiziert. Die ständig wachsende Zahl von Arbeitnehmern, die aufgrund einer seelischen Störung arbeitsunfähig sind, ist deshalb nicht überraschend", meint Rainer Richter. Doch ebenso wichtig sind die drastischen Veränderungen am Arbeitsplatz selbst. Nach der jüngsten Betriebsrätebefragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) gibt es in 84 Prozent aller Betriebe Mitarbeiter, die unter ständigem Zeit- und Leistungsdruck arbeiten. Diese stellen keine kleine Randgruppe dar, sondern 43 Prozent aller Mitarbeiter. Hinzu kommt, dass besonders in den Dienstleistungsbranchen viele Unternehmen zunehmend den Arbeitsrhythmus durch Kundenvorgaben und Ergebnisorientierung steuern. Und das mit immer weniger Personal.
Rund 58 Prozent der vom WSI befragten Betriebsräte gaben an, dass die Mitarbeiter inzwischen regelmäßig mit Renditeerwartungen konfrontiert und daran gemessen werden. Personalabbau, ständige Leistungsverdichtung und -kontrolle, unfähige Vorgesetzte oder unrealistisch hohe Zielvorgaben sorgen zudem oft für eine chronische Überforderung der Beschäftigten. In vielen Unternehmen steigt die Eigenverantwortung der Mitarbeiter. Was zunächst als positiv empfunden wird, kann jedoch schnell zum Bumerang werden. Denn oft sinkt trotz neuer Freiheiten der reale Einfluss des Personals auf die Steuerung der Arbeitsprozesse. Die psychische Gesundheit des Beschäftigten ist aber immer dann besonders gefährdet, "wenn er an seinem Arbeitsplatz zwischen hoch verdichteten Anforderungen und komplexen Abhängigkeiten erlebt, dass er mit seinen Entscheidungen und Handlungen wenig oder nichts bewirkt", erläutert Psychologieprofessor Richter.
Einen Anteil an den psychischen Problemen vieler Beschäftigter haben auch die häufigen Umstrukturierungen in den Betrieben. Eine EU-Expertengruppe namens HIRES ("Health in Restructuring") mit Fachleuten aus neun europäischen Ländern untersuchte in den Jahren 2007 bis 2009 die Folgen dieser Umbrüche für die Gesundheit der Mitarbeiter. Restrukturierungsprozesse hätten "bedeutende schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen", schreibt Thomas Kieselbach, der Projekt-Koordinator von HIRES, in einem Beitrag für den BKK-Gesundheitsreport 2009. Und das gelte nicht nur für die Beschäftigten, die den Job verlieren. Auch die "Überlebenden" eines Firmenumbaus sind nicht aus dem Schneider. Wie empirische Untersuchungen von HIRES zeigen, sorgen gerade unsichere Arbeitsplätze "für stärkere psychische Belastung und psychosozialen Stress", für eine "Zunahme von Arbeitsunfällen" und eine "steigende Zahl von Frühverrentungen".