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Magazin Mitbestimmung

: Gefährliche Grauzone

Ausgabe 12/2010

BAUBRANCHE Nicht die legale Migration ist das größte Problem, sondern gezielte Dumping-Strategien, kriminelle Auswüchse und eine bizarre Ausschreibungspraxis in EU-Mitgliedstaaten. Von Guntram Doelfs

GUNTRAM DOELFS ist Journalist in Berlin/Foto: caro

Über mangelndes Interesse kann sich Djane Jennricke in Pasewalk nicht beklagen. In der kleinen Geschäftsstelle der Agentur für Arbeit häufen sich seit Monaten die Nachfragen für Termine. Jennrickes Angebot ist die grenzüberschreitende Arbeitsmarktberatung. "Es sind bis zu 25 Gespräche in der Woche", erzählt Jennricke. Ihren Job verdankt sie dem Eures-Programm der Europäischen Kommission, mit dem diese die Arbeitsmobilität in der EU fördern will. Unter den Besuchern, die täglich in ihrem Büro in der vorpommerschen Kleinstadt erscheinen, sind deutsche Arbeitslose in der Minderheit. Um ein Gespräch bitten derzeit vor allem Polen.

Der 1. Mai 2011 rückt näher, der Tag, ab dem die Polen und Angehörige vieler anderer Nationalitäten die digitalen Jobbörsen der Arbeitsagenturen nutzen und jede Arbeit annehmen können. Mit der Abschottung der Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich ist jetzt Schluss. Doch bei den Gewerkschaften sind noch nicht alle Zweifel ausgeräumt. Noch immer herrscht die Besorgnis vor einem schwer kontrollierbaren Ansturm osteuropäischer Arbeitsmigranten. "Wir befürchten, dass Arbeiten anders als heute nicht mehr in Form regulärer Arbeitsverhältnisse mit deutschen Arbeitgebern gemacht werden", befürchtet Frank Schmidt-Hullmann, Leiter der Abteilung Internationales bei der IG BAU. Bisher lenkten die Übergangsfristen die Migrantenströme erfolgreich um: Während vor dem Beitritt der osteuropäischen Länder rund 60 Prozent der Auswanderungswilligen nach Deutschland und Österreich einwandern wollten, gingen tatsächlich rund 70 Prozent aller Arbeitsmigranten nach Großbritannien, Irland oder Schweden - in jene drei EU-Staaten, die ihre Arbeitsmärkte sofort öffneten.

Die komplette Öffnung der Arbeitsmärkte andernorts hielt Zuwanderer vom deutschen Arbeitsmarkt fern, und die Löhne in anderen Teilen Westeuropas waren zum Teil attraktiver als in Deutschland. "Viele Polen waren nicht mehr bereit, sich auf deutschen Baustellen zu verdingen, wenn sie woanders mehr Geld bekommen konnten", sagt Schmidt-Hullmann. Doch wie viele Auswanderer es nun nach der Finanz- und Wirtschaftskrise aus Staaten wie Großbritannien, Irland oder Spanien wieder zurück in ihre Heimat oder in andere EU-Staaten treibt, kann niemand genau abschätzen. "In Polen genießen Rückwanderer einen schlechten Ruf und stehen unter erheblichem sozialen Druck", erzählt Djane Jennricke.

Christoph Brandt, der in der Kieler Regionaldirektion Nord der Bundesagentur für Arbeit die Zusammenarbeit mit der polnischen Seite koordiniert, schätzt das Potenzial für die polnische Einwanderung nach Deutschland auf maximal 250_000 Menschen in den kommenden vier Jahren. "Die polnischen Einwanderer werden nicht zu einer großen Belastung des hiesigen Arbeitsmarktes werden", glaubt er.

ANGST VOR ENTSENDUNG UND LEIHARBEIT_ Bei der IG BAU ist man skeptischer. Der Blick fällt jetzt stärker auf Staaten, die bislang nicht durch große Arbeitsmigration aufgefallen sind. Dazu zählen die Tschechische Republik, die Slowakei, die baltischen Staaten und Ungarn, das eine schwere Wirtschaftskrise durchlebt. "Dort steigen die Arbeitslosenzahlen. Damit fallen Menschen leichter jenen zum Opfer, die ihnen tolle Jobs versprechen", warnt Schmidt-Hullmann. Wenn die Arbeitslosigkeit zu Hause zunimmt und gleichzeitig alle Beschränkungen wegfallen, könnte das zu einem erhöhten Arbeitskräfteangebot im Ausland führen. Nicht mehr so sehr Migranten, die inviduell nach Deutschland kommen, stehen im Fokus, sondern grenzüberschreitende Geschäftsmodelle.

Die größten Sorgen bereitet derzeit die Leiharbeit. Noch immer gibt es in Deutschland keinen allgemeinen Mindestlohn, was sich 2011 rächen könnte. "Wir rechnen damit, dass die meisten osteuropäischen Arbeitnehmer nicht als normale Einwanderer kommen werden, sondern die Firmen einen grenzüberschreitenden Arbeitskräfteverleih in alle Branchen betreiben werden", befürchtet Schmidt-Hullmann. So etwas ist derzeit noch verboten, wird aber im Mai 2011 ebenfalls legalisiert. Als Folge könnten die Standards auch in jenen Branchen ins Rutschen geraten, in denen es tariflich abgesicherte Leiharbeit gibt. "Wir werden dann Löhne von vier bis fünf Euro bekommen", warnt der Experte der IG Bau.

Mit seinen Befürchtungen steht er nicht allein. Selbst Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt fordert einen Mindestlohn für die Leiharbeitsbranche, um Lohndumping durch grenzüberschreitende Geschäftsmodelle zu verhindern. Denn auch deutsche Firmen machen sich vor diesem Hintergrund Sorgen um ihre Marktanteile. "Uns läuft die Zeit davon. Deshalb führt kein Weg an einem branchenübergreifenden Mindestlohn vorbei, es sei denn, man will Hunderttausende Jobs für Niedrigqualifizierte riskieren", warnte unlängst Michael C. Wisser, Chef des Frankfurter Dienstleistungsriesen WISAG, in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Zwar mussten polnische Subunternehmer infolge der Abwanderung vieler Polen nach Großbritannien die Löhne erhöhen, um überhaupt noch Landsleute auf deutsche Baustellen locken zu können. Die Lohnkosten wurden "hiesigen Auftraggebern, die mit Dumpinglöhnen kalkulieren, jedoch schnell zu hoch", erzählt Schmidt-Hullmann von der IG BAU. Die Folge: Polnische Subunternehmer wurden rasch gegen rumänische ausgetauscht, die ihre Arbeitskräfte noch billiger anbieten.

ILLEGALE PRAKTIKEN_ Doch selbst Mindeststandards bei der Entsendung schützen nicht automatisch vor Lohndumping, wie polnische Arbeitnehmer in Großbritannien schmerzlich erfahren mussten. Viele britische Unternehmer hatten nach Beobachtungen der Gewerkschaften an regulären Arbeitsverhältnissen gar kein Interesse, sondern akzeptierten diese nur als Scheinselbstständige. Ganz ähnlich das Bild in Deutschland: Hier gibt es im Bau zwar einen Mindestlohn, der für allgemein verbindlich erklärt wurde - in der untersten Lohngruppe liegt er bei 10,80 Euro brutto im Westen, bei 9,50 Euro im Osten. Doch auch hier beobachten die Gewerkschaften und die Kontrolleure von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit schon seit einiger Zeit die Umgehung des Mindestlohns durch Scheinselbstständige. Weil bei der Entsendung offiziell Mindeststandards gelten, wurde im vergangenen Jahr die Quote für rumänische Werkverträge nicht mehr ausgeschöpft. "Dafür treffen wir immer öfter Scheinselbstständige in organisierter Form auf den Baustellen", erklärt Frank Schmidt-Hullmann. Nicht immer ist den Beschäftigten bewusst, dass sie als formal Selbstständige auch selbst für ihre Sozialversicherung verantwortlich sind, dass es keinen Urlaubsanspruch und keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt: "Manchen hält man einfach ein weißes Blatt Papier vor die Nase für eine Blankounterschrift."

Längst haben sich für den Arbeitskräftenachschub aus Osteuropa regelrechte Rekrutierungsbüros gebildet, die den Papierkrieg mit den Behörden übernehmen und ganze Gruppen von Arbeitnehmern vermitteln. Für die Auftraggeber lohnt sich das Risiko der Illegalität. Bei Einsätzen scheinselbstständiger Migranten liegen laut IG BAU die Stundenverrechnungssätze für Rumänen derzeit bei 13 bis 17 Euro, für Polen bei etwas über 20 Euro. Bei legaler Beschäftigung mit Einhaltung des Mindestlohnes und der Zahlung der Sozialabgaben müssten die Sätze eigentlich um 30 bis 50 Prozent höher liegen. Ein legal anbietendes deutsches Bauunternehmen kalkuliert entsprechend mit Stundenverrechnungssätzen von 40 Euro. Selbst da, wo auf dem Papier der Mindestlohn gezahlt wird, ist es relativ leicht, dagegen zu verstoßen, wenn nur genug kriminelle Energie vorhanden ist. Allerlei Tricks sorgen hier für große, nur mit hohem Aufwand zu kontrollierende Grauzonen und de facto für niedrige Gehälter unter dem Mindestlohn-Niveau: Man kann zum Beispiel die Beschäftigten planmäßig unbezahlte Überstunden machen lassen, Pausen aus der Arbeitszeit herausrechnen oder für Kost und Logis überhöhte Preise verlangen. Auch wenn der Arbeitgeber offiziell den Mindestlohn zahlt, aber hinterher einen Teil des Geldes bar zurückverlangt, ist das nur schwer nachzuweisen.

VERWERFUNGEN NICHT AUSGESCHLOSSEN_ Sorgen bereitet der IG BAU auch die Entwicklung bei der Saisonarbeit. In der Landwirtschaft gibt es bislang allenfalls regionale Tarifverträge, aber keinen allgemein verbindlichen Mindestlohn. Ausgerechnet der Zwang, eine Arbeitserlaubnis einzuholen, schützte die Saisonarbeiter - weil damit bestimmte Mindeststandards verbunden waren. So gab es eine Deckelung der Lohnabzüge bei Kost und Logis. Bauern, die gegen diese Mindeststandards verstoßen, konnten zudem für die Saisonarbeit gesperrt werden. Beides entfällt ab Mai 2011. "Dann können Landwirte direkt mit den Arbeitnehmern aus Osteuropa einen Vertrag schließen. Das wird zu einem Verfall der Löhne bei den Saisonarbeitern führen", warnt Frank Schmidt-Hullmann. Parallel könnte es zu einem Abwanderungsprozess der bisherigen Saisonarbeiter aus der Landwirtschaft in andere Branchen kommen. Viele dieser Arbeitskräfte zeichneten sich in der Vergangenheit nicht nur durch Fleiß, sondern auch durch eine relativ hohe Qualifikation aus.
Mit dem Wegfall der Beschränkungen durch die Arbeitserlaubnispflicht und ohne rechtzeitige Einführung eines Mindestlohns könnten diese Grenzgänger in Branchen abwandern, die besser zahlen - und hier dann unter Umständen den Lohndruck erhöhen. Diese Binnenwanderung unter den osteuropäischen Migranten könnte in Kombination mit direkt zuwandernden Fachkräften - so die Befürchtung der IG BAU - einen Pool aus preiswerten Facharbeitern bilden. Hier würden sich besonders Firmen mit Arbeitskräften eindecken, die in Deutschland nur zu Mindestlohn-Bedingungen beschäftigen. Die Folge: Besonders in Subunternehmen könnte es zu einem Austausch von bislang zum Tariflohn bezahlten Fachkräften durch osteuropäische Facharbeiter kommen, denn im Vergleich zu den heimischen Löhnen erscheint für Zuwanderer der deutsche Mindestlohn attraktiv. Zumindest so lange, bis die Migranten herausfinden, wie hoch die realen Lebenshaltungskosten in Deutschland sind.

Solche Szenarien im Fachkräftebereich hält die Bundesagentur für Arbeit indessen für überzogen. Durch die Abwanderung der vergangenen Jahre gingen den "Polen ja gerade selbst die Fachkräfte aus", meint Christoph Brandt. Er hält deshalb auch die optimistischen Hoffnungen einiger Industrieverbände, sie könnten den zunehmenden Fachkräftemangel mit Zuwanderern aus Osteuropa beheben, für verfehlt. Er rechnet überwiegend mit einer Zuwanderung von Menschen mit geringer Qualifikation. Die polnischen Akademiker, die vor wenigen Jahren noch Spargel in Brandenburg gestochen haben, bleiben inzwischen lieber zu Hause, weil sie dort mehr verdienen als bei einem Mindestlohnjob in Deutschland, noch dazu bei erheblich geringeren Lebenshaltungskosten. "In den letzten zwei Jahren ist die Beratung für polnische Akademiker bei mir nahezu auf null gegangen", bestätigt auch die Vermittlerin Djane Jennricke.

CHINESISCHE ARBEITER IN DER EU?_ Ungemach aus Polen droht an ganz anderer Stelle. Denn soeben hat die polnische Regierung, die mit Gewerkschaften und Sozialstandards wenig am Hut hat, dem chinesischen Staatskonzern COVEC - der Name steht für China Overseas Engineering Group Co., Ltd. - den Zuschlag für zwei Baulose beim Ausbau der polnischen Autobahn A2 zwischen Warschau und Lodz erteilt. Finanziert wird der Autobahnausbau mit Mitteln des EU-Strukturfonds, in welchen deutsche Steuermittel fließen. Dieses Verhalten lässt bei den Gewerkschaften und dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (ZDB) gleichermaßen die Alarmglocken schrillen. "Das Angebot von COVEC lag 60 Prozent unter dem kalkulierten Ausschreibungspreis der polnischen Behörden. Das ist ein Skandal", so wettert Karl Robl, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes. Nun bauen chinesische Bauarbeiter in Polen die Autobahn, während ihre dadurch arbeitslos gewordenen polnischen Kollegen Ausschau nach einem neuen Job halten. Die EU-Institutionen sind entweder nicht interessiert oder nicht in der Lage, die Vergabe eines Regierungsauftrages an einen Drittstaat zu verhindern.

Dabei arbeitet die EU-Kommission an einem sogenannten Richtlinienentwurf zur "konzerninternen Entsendung von Drittstaatsangehörigen". Nach dieser können weltweit agierende Konzerne aus Nicht-EU-Ländern Angestellte zur Arbeit in eine EU-Konzernfiliale versenden. Solche Richtlinien sollen es Fachleuten internationaler Konzerne ermöglichen, ihren Arbeitsplatz zeitweise in die EU zu verlegen. Das ist generell sinnvoll - doch laut IG BAU wäre unter Umständen auch folgendes Missbrauchs-Szenario möglich: Ein Unternehmen gründet eine Niederlassung in der Ukraine und entsendet dann Ukrainer in eine Filiale des Unternehmens in ein EU-Niedriglohnland wie Rumänien und beschäftigt diese dort zu rumänischen Mindestlohnbedingungen. Nach zwölf Monaten Wartefrist kann das Unternehmen die ukrainischen Angestellten für drei Jahre in andere EU-Staaten weitersenden - zu rumänischen Lohnkonditionen. "Das wäre absolut unterirdisch, wenn so etwas tatsächlich kommt", kritisiert Frank Schmidt-Hullmann. Der Bau der polnischen A2 zeigt, dass es für die europäische Politik noch genug zu tun gibt.

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