Quelle: Karsten Schöne
Magazin MitbestimmungMusik: "Wir wurden wie Müll behandelt"
Ozan Ata Canani, der das türkische Lied in deutscher Sprache erfand und zur Stimme der ersten Gastarbeiter wurde, über sein Leben in der neuen Heimat. Das Gespräch führte Martin Kaluza
(Wir treffen uns in der Berliner Kulturbrauerei am Rande eines Festivals. Lange war er vergessen, jetzt ist er wieder gefragt. Der Kellner bringt den Kaffee und fragt, ob Ata Zucker möchte. Er sofort: „Ja, klar! Viel Zucker! Es muss süß sein!“)
Sie stammen aus Maras, einer kleinen Stadt in der Türkei, und kamen 1975 als Kind nach Deutschland. Unter welchen Umständen?
Ich wollte nicht. Es war mein Vater, der 1971 nach Deutschland ging, um zwei oder drei Jahre zu bleiben. Er wollte für einen Laden und eine Wohnung sparen. Nach zwei Jahren reichte es nicht. Er holte meine Mutter nach, und sie haben sich noch einmal zwei bis drei Jahre gegeben. Wieder reichte es nicht.
Sie selbst kamen nicht gleich mit?
Während meine Eltern hier arbeiteten, blieb ich zunächst bei den Großeltern. Als ich vier Jahre alt war, wollten mich meine Eltern nachholen.
Waren Sie böse auf Ihre Eltern?
Die Elternliebe fehlt bei mir. Dafür sehe ich meine Oma und Opa als Mama und Papa. Es waren die Umstände, die meine Eltern hierhergeführt haben. Heute sieht es in der Türkei nicht viel besser aus als damals. Junge Leute studieren und finden keinen Job. Sie kommen hierher, um im Pflegeheim alten Menschen das Bett zu machen. Das ist doch zum Heulen.
Stimmt es, dass Sie mit einem Instrument hergelockt wurden?
Mein Vater fragte, was sie tun könnten, damit ich freiwillig nach Deutschland komme. Da habe ich gesagt: Eine kleine Laute, eine Saz! Seit ich fünf oder sechs war, hörte ich diese Musik im Radio. Ich wollte lernen, so zu spielen.
Wie fühlte sich Deutschland an?
Mit elf Jahren kam ich in Bremerhaven an und musste ein Jahr die Vorbereitungsklasse besuchen. Wir wurden wie Müll behandelt. Wie konnten die Politiker verlangen, dass ein Kind nach einem Jahr die deutsche Sprache beherrscht?
Wo sind Sie zuerst aufgetreten?
Mein Vater, der bei der Deutzer Motorenfabrik arbeitete, nahm mich mit zu „Sehnsuchtsabenden“, zu denen auch Gastarbeiter aus den Ford-Werken kamen. Ich trat ohne Gage auf. Aber jeder hat mir eine Mark in die Hand gedrückt, und am Ende hatte ich dann 100 Mark zusammen. Das war viel Geld.
(Ata lernt die Lieder seiner musikalischen Vorbilder auswendig. Er ist fasziniert von der Ozan-Musik seiner Heimat. „Ozan“, das ist eine ehrenvolle Anrede für Sänger und Dichter, die Canani heute auch seinem Namen voranstellt.)
Am Anfang Ihrer Karriere sangen Sie auf Türkisch. Warum wechselten Sie zu Deutsch?
Nach einem Auftritt kam ein deutsches Paar zu mir und sagte: „Die Leute sind alle ganz still geworden, als du gespielt hast. Worum geht es in deinen Liedern?“ Ich sagte: „Es geht um die Sehnsucht nach der Heimat und darum, wie sie von den deutschen Kollegen und Vorgesetzten behandelt werden.“ Sie fragten: „Warum schreibst du das nicht auf Deutsch?“
Eine Broschüre der IG Metall lieferte die Idee für den Song „Deutsche Freunde“?
Ja. Darin stand der Satz: „Arbeitskräfte wurden gerufen, Menschen sind gekommen!“ Der Satz war von Max Frisch. Das Zitat hat mich angezogen.
Im Song heißt es: „Und die Kinder dieser Menschen sind geteilt in zwei Welten“. War das Ihr Lebensgefühl?
Die erste Gastarbeitergeneration hat in zwei Welten gelebt. Körperlich war sie hier in Deutschland, seelisch in der Heimat. Ob das die Türkei war, Griechenland, Italien oder Spanien. Die Politiker haben in Festreden von „unseren türkischen Freunden“ gesprochen. Hintenrum hätten sie uns gerne rausgeschmissen.
Wo haben Sie nach der Schule gearbeitet?
Ich musste mit meinem Vater in einer Montagefirma arbeiten. Er war Schweißer. Wir haben Drecksarbeiten in einer Zeche gemacht. Der deutsche Arbeitskollege hatte 16 Mark die Stunde, mein Vater hatte 13,50 Mark. Wenn es sehr enge Stellen gab, musste ich da rein und war hinterher schwarz im Gesicht.
(Doch für deutsche Ohren klang die Musik zu ungewohnt, sagt er. Und die Türken sprangen nicht so recht auf Songs an, die auf Deutsch gesungen waren. Irgendwann war Ata Canani als Musiker vergessen, hingen seine Instrumente nur noch zu Hause an der Wand.)
Wann gingen Sie zur Gewerkschaft?
Ich bin immer in der Gewerkschaft, egal wo ich gearbeitet habe. Sie stand hinter uns. Die Gewerkschaften waren sehr stark, mehr als heute.
Wie war später das Verhältnis zum Vater ?
Seit Mitte der 80er Jahre hatte ich keinen Kontakt mehr. Er war der Meinung, ich hätte mich zu sehr integriert. Er wollte aus mir einen Hodscha machen, in der Moschee. Aber ich war häufiger in der Kirche als in der Moschee. Wir hatten einen Religionslehrer, der fragte, ob ich auch in der Kirche Saz spielen würde. Ich habe es gemacht – und dafür 50 Mark bekommen. Jeden Monat, vier Jahre lang.
Wie haben Sie vom Tod Ihres Vaters erfahren?
Mein Bruder hat mich angerufen und gesagt: „Abi“, das heißt „großer Bruder“, „unser Vater ist gestorben, in Witten.“ Das war 2016. Ich habe meinen Vater in die Heimat gebracht. Er ist im Sarg zurückgekehrt. Darum geht es in meinem Lied „Warte mein Land, warte!“
(Fast hatte man Ata vergessen. Es existierten nur Musikkassetten, kein Masterband. Erst über 40 Jahre später brachte das Plattenlabel Staatsakt Atas erstes Album heraus – pünktlich zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens.)
Wann hatten Sie das erste Mal das Gefühl, hier heimisch zu sein?
Anfang der 80er war mir klar, dass ich zu diesem Land gehöre. 1995 habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Ich musste zwei Jahre lang warten. Mein Deutsch wurde getestet. Vor mir war eine verschleierte Frau, bei der nur die Augen durch den Sehschlitz zu sehen waren. Sie konnte praktisch kein Deutsch. Es ist ihr Leben. Aber wer in einem Land leben will, der sollte sich ein bisschen anpassen.
Hatte die zweite Generation bessere Chancen als die erste?
Ja. Die erste Generation konnte sich nicht wehren, weil sie die Sprache nicht beherrschte. Sie hat unter harten Bedingungen viel gearbeitet. Bei ungerechtem Stundenlohn in Akkordarbeit. Aber inzwischen haben wir in allen Berufsgruppen erfolgreiche Leute. Denken wir nur mal an Biontech. Wir sind ein Teil von Deutschland.
(Er steht auf der Bühne der Kulturbrauerei in Berlin, das Festival Pop-Kultur hat ihn eingeladen. Gemeinsam mit dem Publikum singt er: „Wir gehören hierhin! Wir sind ein Teil von Deutschland! Wir sind eine kulturelle Bereicherung!“)
Welche Themen beschäftigen Sie?
Zum Beispiel die Mieten. Als ich herkam, zahlte mein Vater für zwei Zimmer mit Küche 149 Mark. Das waren 16 oder 17 Prozent des Gehaltes. Heute muss ein Mindestverdiener 60 Prozent für die Miete ausgeben. Ein anderes Thema ist das Personal im Jobcenter. Manchmal hat man das Gefühl, sie müssen vorher einen Unfreundlichkeits-Test bestehen. Wer Themen für sozialkritische Lieder sucht, braucht nicht lange suchen.
Zur Person
Ozan Ata Canani, 57, wurde 1964 im Südosten der Türkei geboren. Als erster begann er, die Gefühle der Gastarbeiter in deutsche Texte zu verpacken. Er ist ein Virtuose auf der elektrischen Saz, einer türkischen Langhalslaute. Nachdem er die Realschule beendet hatte, arbeitete er in verschiedenen Beschäftigungen in der Elektrobranche, konzentrierte sich aber zunehmend auf seine Musik. Er ist Mitglied der SPD und wohnt heute in Leverkusen.