Quelle: Illustration Anna Diechtierow
Magazin MitbestimmungZusammenhalt: Für ein Europa der Vielen
Eine Bündelung progressiver Kräfte in Europa kann dem drohenden Rechtsruck in der EU entgegenwirken. Zusammen können wir eine lebenswerte Zukunft für alle schaffen. Von Wolfgang Katzian
Angesichts der Wahlen zum Europäischen Parlament kommt man an einem Thema nicht vorbei – am zunehmenden Rechtsruck. In ganz Europa gewinnen rechtspopulistische Parteien an Zulauf. Ähnliche Entwicklungen werden auch für die EU-Wahlen vorausgesagt. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass der Zuwachs rechter Abgeordneter die Demokratie im Europäischen Parlament aushebelt, können wir davon ausgehen, dass die kommende Periode schwierig wird. Eine Bündelung progressiver Kräfte ist nötig, um die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer klar in den Vordergrund zu rücken. Denn sie sind es, die am meisten von den Krisen getroffen werden – ein Zustand, den die Rechte auszunutzen weiß.
Europa muss sich entscheiden: Nehmen wir die Beschäftigten beim Wandel zu einer klimafreundlichen Wirtschaft mit, oder lassen wir sie im Regen stehen? Klimaschutzmaßnahmen müssen gemeinsam mit arbeits- und sozialpolitischen
Strategien gedacht werden. So können beispielsweise Beschäftigte, die durch klimapolitische Veränderungen am Arbeitsmarkt ihren Arbeitsplatz verlieren, zu Fachkräften in grünen Jobs umgeschult werden. Das ist auch eine Investition in den Aufbau einer klimafitten Zukunft. Damit wird verhindert, dass Menschen zurückgelassen werden und sich potenziell nach rechts radikalisieren. Gerade jene, die heute schon wenig zum Leben haben, werden besonders unter den Auswirkungen der Erderhitzung leiden.
Damit ist der Kampf gegen die Klimakrise auch eine Verteilungsfrage. Laut einem Oxfam-Bericht haben weltweit 95 Lebensmittel- und Energiekonzerne ihre Gewinne im Jahr 2022 mehr als verdoppelt. Und das, während die arbeitende Bevölkerung zunehmend Probleme hat, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Massive staatliche Interventionen und Investitionen wären ein wirksames Instrument gegen diese Vermögenskluft. Doch die Europäische Kommission setzt sich für die Rückkehr zur Antischuldenpolitik ein. Damit werden zukunftsgerichtete Investitionen blockiert und die Auswirkungen der Krise auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung ausgetragen. Statt Austeritätspolitik benötigen wir einen Kurswechsel zu einer Wirtschaft, die den Ausbau des Sozialstaats, die Absicherung von Beschäftigtenrechten und den Kampf gegen die Klimakrise in den Vordergrund stellt. Ein starker sozialer Dialog sowie eine spürbare Sozialpolitik müssen als Markenzeichen der EU etabliert werden. So auch im Zuge der EU-Erweiterung. Anpassungen im Bereich Wettbewerbsfähigkeit und Rechtsstaatlichkeit allein reichen nicht aus. Sowohl die Ukraine als auch die Westbalkanstaaten müssen finanziell und politisch unter Einbindung lokaler Gewerkschaften beim Aufbau sozialpartnerschaftlicher Strukturen unterstützt werden. Nur so kann potenzielles Lohn- und Sozialdumping verhindert und das Wohlstandsversprechen der EU auch tatsächlich eingehalten werden.
Wichtig ist aber auch der Blick nach innen. Angesichts multipler Krisen und der zunehmenden Autoritarisierung gewinnt der Ruf nach einer Demokratisierung der EU-Entscheidungsprozesse an Relevanz. So muss den Blockaden innerhalb des Europäischen Rates ein Riegel vorgeschoben und vom Einstimmigkeitsprinzip Abstand genommen werden. Es kann nicht sein, dass einzelne Staaten wichtige Entscheidungen aus Machtkalkül und auf Druck wirtschaftlicher Interessen unterbinden.
Der Kampf gegen autoritäre Tendenzen erfordert auch eine Demokratisierung des Europäischen Parlaments. Die einzige direkt gewählte Institution ist ein Hort des Fortschrittes innerhalb der Union. Das zeigt sich unter anderem in den progressiven Entschlüssen im Bereich Klima und Schutz von Interessen der Beschäftigten. Bisher kann das Parlament nur beschränkt Gesetzesinitiativen starten. Es ist an der Zeit, dass es auch eigene Vorschläge einbringen kann.
Schlussendlich muss die Demokratie bis auf die kleinste Ebene gestärkt werden. Wichtig ist die betriebliche Mitbestimmung. Vielerorts existiert sie kaum. Es liegt an der EU, die Mitbestimmungsrechte auszubauen – die Revision der Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats ist ein erster wichtiger Schritt.
Die Umsetzung dieser Forderung wird einen langen Kampf erfordern. Doch vehementer gewerkschaftlicher Einsatz macht sich bezahlt, wie die Mindestlohnrichtlinie oder die Einführung der Europäischen Säule sozialer Rechte zeigt. Vor einigen Jahren waren solche Vorstöße noch undenkbar, doch dank des gewerkschaftlichen Kampfes sind sie gelungen – in Zeiten, in denen die Arbeitgeberseite die konstruktive Arbeit oftmals erschwert.
Wir haben europaweit erlebt, wie die Arbeitgeberseite immer mehr altbekannte Spielregeln über Bord geworfen hat – ob in Schweden, wo sich Tesla weigert, einen Tarifvertrag abzuschließen, oder in Österreich und Deutschland, wo während der Tarifverhandlungen Lohnangebote weit unter der Inflationsrate vorgelegt wurden. Europaweit waren die Gewerkschaften wieder vermehrt zu Kampfmaßnahmen gezwungen. Geschadet hat es ihnen nicht, vielerorts konnte ein Mitgliederzuwachs verzeichnet werden. Die Arbeitnehmerschaft ist bereit, für ihre Rechte einzustehen. Die europäischen Parteien müssen tatkräftig mitwirken, denn eine gelungene Sozialpolitik kann auch den rechtspopulistischen Entwicklungen einen Riegel vorschieben. Es liegt an uns, dafür zu kämpfen – für ein soziales Europa, für ein lebenswertes Europa der Vielen.
Der Gewerkschafter Wolfgang Katzian, der 1956 in Stockerau im Weinviertel geboren wurde, ist seit 2018 Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) und seit 2023 auch Präsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Katzian bezeichnet sich als „glühenden Europäer".