Austausch: Für eine Schule ohne Extremismus
In Birmingham und Leipzig trafen sich deutsche und englische Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, um Strategien im Umgang mit Rechtsextremismus an Schulen zu entwickeln. Was kann man voneinander lernen? fünf Teilnehmer des Austauschs schildern ihre Eindrücke. Protokolle von Jeannette Goddar
Diskriminierung, Mobbing, Gewalt
Diskriminierung, Mobbing, Gewalt
„Der Austausch mit Sachsen war für mich eine ganz neue Erfahrung. Und es war fantastisch! Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland diskutieren stärker als bei uns, wie man heikle Themen wie den Rechtsextremismus im Unterricht angemessen behandelt. Meine deutschen Kolleginnen und Kollegen wiederum fanden interessant, dass es in England seit zehn Jahren eine gesetzliche Präventionspflicht gibt, die Schulen und andere öffentliche Einrichtungen dazu anhält, Maßnahmen zur Früherkennung von Extremismus und Radikalisierung zu ergreifen. Lehrkräfte und Mitarbeitende lernen, verdächtige Anzeichen bei Schülern zu erkennen, ergreifen Maßnahmen und informieren gegebenenfalls Behörden, um eine mögliche Radikalisierung zu verhindern. Wie die Präventionspflicht konkret umgesetzt wird, entscheidet jede Schule selbst. Alle Lehrkräfte absolvieren jedes Jahr Fortbildungen, bei denen etwa ihre Sensibilität für aktuelle rechtsextreme Symbole, Slogans und Medien gestärkt wird. Wie nötig insbesondere mehr Sensibilität für verschiedene Herkünfte ist, zeigt eine aktuelle Umfrage unserer Gewerkschaft: Nahezu jede dritte Lehrkraft gab an, täglich diskriminierende Sprüche unter Schülerinnen und Schülern zu erleben. Fast ebenso viele berichteten von Gewalt und Mobbing. Was unsere Gewerkschaft derzeit auch stark beschäftigt, ist die Dekolonialisierung der Lehrpläne. Der vielleicht etwas sperrige Begriff bedeutet, dass wir Schulbücher und Unterrichtsmaterial stärker dafür nutzen, die Geschichte nicht nur aus westlicher, weißer und männlicher Sicht zu erzählen.“
Social Media im Fokus
Social Media im Fokus
„Als Gewerkschafter wollen wir im Kampf gegen Rechtsextremisten einen spürbaren Unterschied machen – in den Schulen genauso wie in der Gesellschaft. Unser Erfahrungsaustausch mit der GEW hat bereits eine gewisse Tradition, gerade in schwierigen Zeiten. In der europäischen Flüchtlingskrise der Jahre 2015/16 haben wir über unsere Dachorganisation Education International gemeinsam Konzepte entwickelt, um syrische Flüchtlingskinder und ihre Familien bestmöglich in die Schulgemeinschaften zu integrieren. Die Rolle der Bildungsgewerkschaften im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus darf nicht unterschätzt werden. Besonders wichtig ist, dass wir als Gewerkschafter eine schlagkräftige Social-Media-Strategie entwickeln. Derzeit laufen wir Gefahr, hinter die Auftritte von Rechtsextremen und Populisten zurückzufallen. Nicht ohne Grund haben auf TikTok in Großbritannien Nigel Farage und in Deutschland die AfD die meisten Follower.“
Ein Austausch, der Mut macht
Ein Austausch, der Mut macht
„Als Lehrerin mit türkischen Wurzeln habe ich mich in Birmingham sofort wohlgefühlt. 95 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben dort einen Migrationshintergrund – von Kindern, deren Familien vor Generationen aus Pakistan, Indien oder der Karibik eingewandert sind, bis hin zu jenen, die erst vor Kurzem nach England kamen. Sachsen ist viel homogener, auch in den Schulen. Vielerorts werden Lehrkräfte aus anderen Kulturen nicht integriert oder wahrgenommen, teils fühlen sie sich sogar ausgegrenzt. Kindern mit Migrationshintergrund wird oft unterstellt, ihre Familien seien nach Deutschland gekommen, um die Sozialsysteme auszunutzen. An meiner Schule herrscht zum Glück eine hohe Sensibilität, gerade auch für Rechtsextremismus und Alltagsrassismus. Derzeit arbeiten wir daran, zu diesen Themen in allen Klassenstufen eine Workshopreihe aufzubauen.“
Selbstverständliche Diversität
Selbstverständliche Diversität
„Ich bin sehr froh, dass die englischen Kolleginnen und Kollegen gemeinsam mit der GEW die Initiative für diesen Austausch ergriffen haben, auch wenn sich Good-Practice-Modelle nie eins zu eins übernehmen lassen. Ich war beeindruckt, wie selbstverständlich in Birmingham Diversität gelebt wird und zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund in Lehr- und Führungspositionen vertreten sind, auch in den Gewerkschaften. Vielfalt wird dort nicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv gefördert. Außerdem hat der Austausch mir noch einmal bewusst gemacht, wie gut vernetzt und grenzüberschreitend die rechtsextreme Szene agiert. Unsere deutsch-englische Kooperation sehe ich als ersten wichtigen Schritt, die Strategien rechtsextremer Gruppen zu erkennen, zu analysieren – und wirksam gegenzusteuern.“
Erlebnisse sind wichtig
Erlebnisse sind wichtig
„Als ich in den 1990er Jahren in Sachsen als Lehrerin anfing, hatte ich Schüler, die sofort als Neonazis zu erkennen waren – mit Springerstiefeln, Lonsdale-Shirts oder Runen-Symbolen. Heute sehen rechtsextreme Jugendliche aus wie alle anderen. Aber die Gesinnung ist die Gleiche geblieben, da muss man als Lehrerin genau hinhören. Ich unterrichte an einer Berufsschule. Da fallen regelmäßig diskriminierende und rassistische Sprüche, wiederholen will ich sie gar nicht. Mit dem Alltag der Jugendlichen hat das oft gar nichts zu tun. Von den 120 Schülerinnen und Schülern, die ich heute unterrichtet habe, stammt gerade mal einer nicht aus Europa. In Birmingham fiel mir auf, dass die Schülerinnen und Schüler ernster genommen werden als bei uns. Sie werden gefragt: Was willst du? Was ist dein Ziel? Die Lehrkräfte halten über jeden Schüler schriftlich fest, wo er steht und wohin sie ihn oder sie bringen könnten. Ein stärker individualisierter Unterricht könnte auch bei uns helfen, das Selbstbewusstsein von Jugendlichen zu stärken und sie damit gegen extremistische Ideologien zu schützen. Ich habe einige Jahre lang Begegnungsprojekte mit deutschen und polnischen Schülern in Auschwitz organisiert. Die beklemmenden Eindrücke dort sind sicher mehr wert als jeder Workshop gegen Rechtsextremismus.“
Die Partner Die National Association of Schoolmasters Union of Women Teachers (NASUWT) ist die zweitgrößte Bildungsgewerkschaft Großbritanniens und vertritt, anders als der Name nahelegt, nicht nur Frauen.
Der deutsche Partner war die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).