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Magazin Mitbestimmung

: Für eine neue Kultur der Arbeit

Ausgabe 11/2010

BETRIEBSRÄTE-KONFERENZ In Leipzig diskutieren Arbeitnehmervertreter der IG Metall über Leiharbeit und über ihre Rolle als Innovationstreiber. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist in Rottenburg am Neckar/Foto: Christiane Eisler/transit

Im Zug nach Leipzig sitzt Anette Krell, Betriebsratsvorsitzende am Standort Wuppertal des amerikanischen Bergbaumaschinenherstellers Bucyrus. Im Gepäck hat sie eine 23-seitige Präsentation über eine bemerkenswerte Innovation bei Bucyrus, die sie in Leipzig bei einer Konferenz der Hans-Böckler-Stiftung und der IG Metall vorstellen soll. Anette Krell ist seit 15 Jahren Betriebsrätin, sie saß zwölf Jahre im Aufsichtsrat, und als Trainerin für kontinuierliche Verbesserungsprozesse (KVP) ist es ihr tägliches Brot, mit und vor Menschen zu reden. Trotzdem, sagt sie, sei sie ein wenig aufgeregt. "Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob unser Innovationsbeispiel wirklich so was Besonderes ist", stapelt die gelernte Siebdruckerin tief.

INNOVATIONEN SIND KEIN SELBSTZWECK_ "Aktiv - initiativ - innovativ: Für gute Arbeit - sicher und fair", so lautet der Titel der Konferenz in Leipzig, auf der 300 Betriebsräte und Gewerkschafter aus ganz Deutschland darüber diskutieren, welche Lehren aus der Krise zu ziehen sind und welche Rolle sie dabei spielen können. Wird der Hebel jetzt einfach wieder auf Wachstum umgelegt? Soll es nahtlos so weitergehen wie vor der Krise? Welche Alternativen gibt es? Welche Veränderungen stehen an, und wie wären sie durchzusetzen? IG-Metall-Chef Berthold Huber fordert in Leipzig nicht weniger als einen "Kurswechsel auf allen Ebenen". "Wir hätten uns gewünscht, die andere Seite würde nach einer solchen Krise mehr Einsicht zeigen, aber offenkundig ist das in vielen Teilen nicht der Fall", konstatiert Huber. Er sehe schon wieder die altbekannten Kostensenkungs- und Restrukturierungsprogramme, die Leistungsverdichtung und die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse - ganz so, als habe die Krise keine grundlegenden Systemfehler offenbart. "Bei den Leiharbeitern marschieren wir auf die Zahl von einer Million zu, sie entwickeln sich zu einer industriellen Reservearmee", sagt Huber und kritisiert den Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums massiv: keine "Equal Pay"-Regeln, kein Synchronisationsverbot, keine Ausleihbefristung, kein verbindlicher tariflicher Mindestlohn - "es fehlt eigentlich alles, dieser Entwurf ist eine Zumutung".

"Es ist doch ein Konzept der Dummen, zu meinen, man müsse nur die Löhne senken, und dann wäre die Welt in Ordnung", kritisiert IG-Metall-Vize Detlef Wetzel. Die wirtschaftliche Erholung eröffne jetzt Spielräume für Besser-statt-billiger-Strategien, für eine neue Kultur der Arbeit, in der Beschäftigte nicht mehr funktionieren müssen wie Roboter im Takt monotoner, krank machender und sinnentleerter Anforderungen, die immer weniger Qualifikation erfordern; stattdessen seien Arbeitsplätze gefragt, die mehr Mitsprache, mehr Gestaltungsfreiheit und mehr Entwicklungsmöglichkeiten bieten. "Wir brauchen dringend Innovationen", sagt Wetzel, "aber sie dürfen kein Selbstzweck sein, sie müssen sich daran messen lassen, ob sie Arbeitsplätze schaffen und sichern, ob sie die Arbeitsbedingungen der Menschen verbessern und ökologische Produkte und Prozesse befördern. Innovationen müssen der Allgemeinheit und den Belegschaften nutzen", fordert Wetzel.

Hier auch ein Bericht über die 2. Engineering-Tagung in Sindelfingen (pdf)

DIE SKEPSIS IST GEWICHEN_ Am Mittag nach Detlef Wetzels Rede wider die Billig-Strategen sitzt Betriebsrätin Anette Krell ein paar Räume weiter im Konferenz-Hotel und erzählt in einer der Arbeitsgruppen vor 30 Kollegen vom Gegenteil - von einer lupenreinen Besser-Strategie bei ihrem Arbeitgeber, der US-Firma Bucyrus. In seinen Werken in Wuppertal und Lünen mit zusammen gut 1000 Beschäftigten fertigt der Bergbaumaschinenhersteller (weltweit 10 000 Mitarbeiter) Systeme für den sogenannten Strebausbau im untertägigen Bergbau, das sind tonnenschwere Schilde, die die Bergleute vor Einbrüchen schützen und gleichzeitig Kohle fördern. Gefertigt werden die unterschiedlichen Komponenten seit 1998 aber nicht mehr nach Akkord, Prämie und Zeitlohn und während starrer Arbeitszeiten, sondern in Gruppenarbeit und Fertigungsinseln, die ihrerseits wiederum Teil sogenannter produktverantwortlicher Einheiten sind. "Das sind aber keine Cost-Center, sondern Mitarbeiter-Teams, die ihre Angelegenheiten weitgehend selbstständig regeln, von der Arbeitszeit bis zur Job-Rotation innerhalb der Gruppe", erzählt Anette Krell. Verändert wurde gleichzeitig auch das Entlohnungssystem: Auf den individuellen Grundlohn, der sich aus der beruflichen Qualifikation sowie sozialer und fachlicher Kompetenz des Mitarbeiters ergibt, kommen eine Standardprämie sowie eine KVP-Prämie, die für alle Gruppenmitglieder gleich sind. "Keiner hat durch die Umstellung Geld verloren", betont Anette Krell, "Entgeltgruppe 7 plus 20 Prozent ist bei uns das Minimum, und durch die Steigerung der Grundqualifikationen erhöht sich die gesamte Lohnsumme pro Jahr um etwa ein Prozent."

Vor den Betriebsrats-Kollegen erzählt Anette Krell von der anfänglichen Skepsis vieler Mitarbeiter, von der mühsamen Überzeugungsarbeit bei Betriebsversammlungen und in Einzelgesprächen, auch von manchen Rückfällen in die "Anweisungsmentalität". Noch bevor die Referentin ihren Vortrag beendet, haken Zuhörer neugierig nach, fragen ungläubig, ob es denn keinen Stress in den Arbeitsgruppen gebe, ob die Schwächeren im Team nicht untergebuttert würden und wie das mit der Leistungsverdichtung sei. "Stress gab's früher manchmal", antwortet Krell, aber alles in allem wolle "heute keiner mehr zurück zum alten System", weil die Neuerung mehr Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten gebracht habe, mehr Geld, mehr Weiterbildung und Qualifikation. Bei einer Befragung Anfang 2010 äußerten sich deshalb mehr als 90 Prozent der Mitarbeiter überzeugt vom Besser-statt-billiger-Modell. "Ohne diese Veränderungen", ist die Betriebsrätin überzeugt, "hätten wir auf Dauer keine Chance gegen Billig-Konkurrenz aus China und anderen Ländern, wir stünden heute nicht so gut da."

KRISEN SCHAFFEN INNOVATIONSSCHUB_ Vielleicht wären die Werke auch schon längst geschlossen, denn der Antrieb zur prozessualen Innovation waren damals rote Zahlen. Zwar kam der Anstoß zur Gruppenarbeit und zum neuen Entlohnungssystem von der damaligen Geschäftsleitung, doch gelten Krisen auch als günstige Zeiten für innovationsbereite Arbeitnehmervertreter. "Die größten Innovationsbeiträge von Betriebsräten gibt es gerade in Krisen- und Konfliktsituationen", weiß Konferenz-Referent Martin Schwarz-Kocher, Geschäftsführer des IMU Instituts in Stuttgart, der in Leipzig über seine Fallstudien in 14 Unternehmen berichtet. "In der Theorie könnte man annehmen, dass Arbeitnehmervertreter während einer Krise die eigenen Interessen eher mal beiseite lassen und auf Kooperation setzen." Tatsächlich würden Betriebsräte aber gerade dann sehr erfolgreich auf Veränderung drängen, wenn das alte Rollenverständnis krisenbedingt wieder auflebt und die Arbeitnehmervertreter die Interessenlage der Belegschaft konsequent im Fokus behalten.

Doch Schwarz-Kocher warnt auch davor, sich von dem eher positiv besetzten Begriff Innovation - er spricht lieber von Veränderungsprozessen - blenden zu lassen: "Wenn sich Betriebsräte als die besseren Innovationsmanager verstehen, haben sie meist schon verloren." Und auch erfolgversprechende Innovationen im Sinne der Arbeitnehmer sind nicht risikolos und hinterlassen in aller Regel Gewinner und Verlierer. Schwarz-Kocher: "Co-Manager ist ja schon ein Vorwurf an Betriebsräte, aber den Vorwurf Co-Mismanager wünscht man keinem." Betriebsräte könnten dann die wertvollsten Beiträge zu betrieblichen Innovationsprozessen leisten, so Martin Schwarz-Kocher zusammenfassend, wenn sie vor allem Veränderungen vorantrieben, die konkrete Vorteile für die Beschäftigten im Sinne "guter Arbeit" bringen - "wenn sie also klassische Interessenpolitik betreiben."

KOMMT DER "GROSSE KNALL"?_ Interessenpolitik ist auch das Thema der Abschlussrunde am zweiten Konferenztag in Leipzig. Betriebsrat Christian Zwack von der bayerischen Gießerei Luitpoldhütte berichtet vom dreieinhalbjährigen Kampf für die Rechte der Leiharbeiter-Kollegen; es sei ein Kampf mit vielen "Nadelstichen" gegen das Unternehmen gewesen, aber nun hätten diese Nadelstiche endlich zum Erfolg geführt: Leiharbeiter in der Luitpoldhütte erhalten jetzt vom ersten Tag an den gleichen Lohn und nach 16 Wochen Beschäftigung ein Arbeitsplatzangebot. Viele Arbeitnehmer in ganz Deutschland warteten bei diesem Thema "auf den großen Knall im kommenden Jahr", sagt Zwack unter starkem Beifall und mahnt: "Alles Heiße wird mal kalt, und dann tut man sich verdammt schwer, es wieder aufzuwärmen."

Bevor es große Demonstrationen mit Hunderttausenden Teilnehmern gibt, wie Christian Zwack sie sich wünscht, will IG-Metall-Vize Detlef Wetzel jedoch erst noch in mehr Unternehmen bessere Vereinbarungen gegen diese "moderne Form der Ausbeutung" erkämpfen. "Dass wir solche Besser-Vereinbarungen für Leiharbeiter jenseits der Tarifverträge in etwa 500 Firmen ausgehandelt haben, das war der entscheidende Hebel, um das Thema überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen", sagt Wetzel. Jetzt seien Vereinbarungen in weiteren 500 Firmen notwendig und nochmal 100 Firmen, in denen der Streit darum geführt wird, gar keine Leiharbeit zu akzeptieren - "damit die andere Seite begreift: Wenn das Thema nicht vernünftig reguliert wird, könnten wir uns auch ganz gegen Leiharbeit stellen." Dem Betriebsrat von der bayerischen Luitpoldhütte ruft Wetzel zu: "Das Eisen war noch nie so heiß, und wir halten es so lange rot glühend, bis wir ein neues Schmiedestück in den Händen halten."

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