Quelle: Rolf Schulten
Magazin MitbestimmungChancengleichheit: Fünf Frauen – fünf Fragen
Mit dem neuen Jahrzehnt wurden Spitzenämter in Politik und Wirtschaft weiblicher. Rückt die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in greifbare Nähe? Jeannette Goddar hat fünf Frauen unterschiedlicher Generationen aus verschiedenen Gewerkschaften gefragt, wie gleichberechtigt sie sich fühlen, was sie erreicht haben und was sich noch ändern muss.
Bertina Murkovic: "Die Zeit ist reif"
Nach einer Bundeskanzlerin gibt es nun eine EU-Kommissionspräsidentin und eine Leiterin der Europäischen Zentralbank. Hilft es Ihnen, wenn Frauen klassische Männerdomänen übernehmen?
Auch wenn das, was man politische Heimat nennt, für mich mit anderen Namen verknüpft ist: Ich halte es tatsächlich für gut, wenn mehr Frauen in Entscheiderpositionen kommen. Und ich würde noch einen Schritt weitergehen: Diversität auf Führungsstellen ist ein Erfolgsrezept.
Haben Sie einmal etwas nicht erreicht, weil Sie eine Frau sind?
Persönlich habe ich mir die Geschlechterfrage selten gestellt – wohl wissend, dass sie relevant ist, zumal ich aus einer Generation stamme, in der es kaum weibliche Vorbilder gab. Ich habe mich früh mit viel Energie darauf fokussiert, was mein Ziel ist: die Gesellschaft, konkret die Arbeitswelt, an entscheidender Stelle mitzugestalten. Natürlich gab es Hindernisse, und ich habe gelegentlich einstecken müssen. Aber offenbar ist es mir ganz gut gelungen, mich in einer von Männern dominierten Welt durchzusetzen.
Was war Ihr größter persönlicher Erfolg in Sachen Gleichberechtigung?
Den kann ich klar benennen: Mit meinem Eintritt in die Geschäftsführung des Betriebsrats im Jahr 2009 wurde dieser erstmals paritätisch besetzt: Damals war ich Stellvertreterin eines Betriebsratsvorsitzenden. Seit 2018 ist es umgekehrt: Mein Stellvertreter ist männlich.
Welche drei Punkte sind nach Ihrer Ansicht für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen entscheidend?
Erstens: Gleiche Arbeit für gleiches Geld. Zweitens bin ich für eine Quote – in Aufsichtsräten und Parteiämtern ebenso wie bei Ausbildungsplätzen, und zwar solange die Zahlen zeigen, dass Chancengleichheit nicht verwirklicht ist. Als Drittes gehört dazu, auch in den Familien zu einer gerechten Aufteilung von Erwerbstätigkeit und elterlicher Arbeit zu kommen.
Wie lange werden wir noch brauchen, um sie zu erreichen?
Was soll ich sagen? Die Zeit ist reif. In meinem Einflussbereich versuche ich, Chancengleichheit direkt umzusetzen, wann immer sich die Gelegenheit bietet.
Bertina Murkovic lernte Bürokauffrau, bevor sie Soziologie und Germanistik studierte. In den 1990er Jahren wurde sie Fachreferentin des Betriebsrats im Volkswagen Konzern. Seit 2018 ist sie Betriebsratsvorsitzende der Geschäftssparte Volkswagen Nutzfahrzeuge in Hannover, seit 2017 für die IG Metall im VW-Aufsichtsrat.
Isabell Senff: "Wir brauchen mehr Feministen"
Nach einer Bundeskanzlerin gibt es nun eine EU-Kommissionspräsidentin und eine Leiterin der Europäischen Zentralbank. Hilft es Ihnen, wenn Frauen klassische Männerdomänen übernehmen?
Natürlich ist das gut. Zeitgleich gibt es allerdings Entwicklungen, die überhaupt nicht ermutigen: Der Anteil der Parlamentarierinnen im Bundestag ist seit 2017 so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. In einem Bereich, der selbstverständlich sein sollte – bei der gleichen Verteilung von Männern und Frauen in der Vertretung des Volkes –, erleben wir eine Rückwärtsbewegung.
Haben Sie einmal etwas nicht erreicht, weil Sie eine Frau sind?
Selbst wenn ich tief in meinem Gedächtnis wühle: Nein.
Was war Ihr größter persönlicher Erfolg in Sachen Gleichberechtigung?
Das kann ich im Grunde analog dazu ebenfalls nicht sagen. Was ich allerdings kenne, sind dumme Sprüche nach dem Motto: Das bist du doch nur geworden, weil du eine Frau bist. Und mir ist immer gegenwärtig, wie hart der derzeitige Stand erkämpft werden musste. Das Wahlrecht für Frauen, die Verankerung von Artikel 3 im Grundgesetz – all das waren keine Selbstverständlichkeiten.
Welche drei Punkte sind nach Ihrer Ansicht für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen entscheidend?
An oberster Stelle: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Dass Frauen statistisch bis März umsonst arbeiten, ist ein Unding. Das werden die Gewerkschaften zum Equal Pay Day am 17. März – Motto „Auf Augenhöhe verhandeln: Wir sind bereit“ – sehr deutlich machen. Zweitens: Wichtig ist, dass Gleichberechtigung in den Köpfen ankommt, übrigens auch in jenen der Frauen. Insgesamt ist in der Gesellschaft noch zu häufig ein rückschrittliches Frauenbild vorhanden. Das hat auch mit der AfD zu tun, der wir, drittens, keinen Fußbreit überlassen dürfen. Sie steht für alles, wogegen wir als Feministinnen kämpfen. In diesem Zusammenhang würde ich begrüßen, wenn es auch mehr Feministen gäbe. Es ist wichtig, dass Männer ihre Stimme für Gleichberechtigung erheben.
Wie lange werden wir noch brauchen, um sie zu erreichen?
Optimistisch betrachtet: 100 Jahre Frauenwahlrecht durften wir 2019 ja begehen. Wenn es noch halb so lange, also 50 Jahre, bis zu einer tatsächlichen Gleichberechtigung bräuchte, hätte ich eine Chance, diese noch so gerade zu erleben.
Isabell Senff machte eine Ausbildung zur Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienstleistungen in Halle. Die 31-Jährige ist bei der Deutsche Post AG freigestellte Sachverständige des Betriebsrats und Mitglied im Präsidium des Verdi-Gewerkschaftsrats. Bis Mai 2019 war sie Bundesvorsitzende der Jugend.
Kajsa Borgnäs: "Frauen brauchen Netzwerke"
Nach einer Bundeskanzlerin gibt es nun eine EU-Kommissionspräsidentin und eine Leiterin der Europäischen Zentralbank. Hilft es Ihnen, wenn Frauen klassische Männerdomänen übernehmen?
Einerseits sendet es ein erfreuliches Signal, wenn Frauen solche Positionen übernehmen: Es ist möglich, die gläserne Decke zu höchsten Ämtern zu durchstoßen. Allerdings habe ich gelernt, dass es auch auf die zweite, dritte und vierte Hierarchiestufe ankommt. Gleichstellung ist eine Frage der Gesamtorganisation. Frauen demonstrativ in die erste Reihe zu stellen – wie es häufiger geschieht – genügt nicht.
Haben Sie einmal etwas nicht erreicht, weil Sie eine Frau sind?
Auf der Ebene von Positionen: Nein. Allerdings habe ich zu Beginn meiner Laufbahn – übrigens im ansonsten in Fragen der Gleichberechtigung vorbildhaften Schweden – durchaus erlebt, dass ich mehr leisten musste als Männer, um wahrgenommen zu werden. Der schwedische Feminismus hat für das Verhalten, Frauen weniger zu beachten, einen extra Begriff; übersetzt lautet er: „Herrschaftstechniken“. Er beschreibt das verbreitete Verhalten von Männern, wenn eine Frau spricht, nicht recht hinzuhören oder gleich demonstrativ zu tuscheln oder auf dem Handy herumzutippen.
Was war Ihr größter persönlicher Erfolg in Sachen Gleichberechtigung?
Ich denke, es ist mir früh gelungen, Netzwerke von Frauen aufzubauen – der Erkenntnis folgend, dass Männer diese oft haben. Es ist wichtig, dass auch wir uns den Rücken stärken, absprechen, in Kontakt sind.
Welche drei Punkte sind nach Ihrer Ansicht für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen entscheidend?
Was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft: eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung, verbunden mit einer Arbeitsplatzkultur, die allen ermöglicht, berufstätig und Eltern zu sein. Für Letzteres haben Arbeitgeber eine große Verantwortung. Daran wirke ich als Geschäftsführerin insofern aktiv mit, als ich Mitarbeiter bestärke, ebenso in Elternzeit zu gehen wie Mitarbeiterinnen. Drittens halte ich eine Abschaffung des Ehegattensplittings – das Ehe- und Lebenspartner steuerlich gemeinsam veranlagt – für berufliche und finanzielle Gleichberechtigung für unabdingbar. Ich verstehe, dass es um viel Geld für Familien geht. Das müsste natürlich kompensiert werden. Unter Gesichtspunkten der Gleichberechtigung ist es allerdings kontraproduktiv: Es zementiert die Rolle von Frauen als Fürsorgerinnen.
Wie lange werden wir noch brauchen, um sie zu erreichen?
Kulturell ist vieles in Bewegung; schon die Generation nach meiner hat ein anderes Verständnis von Gleichberechtigung. Strukturell: schwer zu sagen, ob die Politik Jahre oder Jahrzehnte benötigt. Ich hoffe auf Ersteres.
Die Politikwissenschaftlerin Kajsa Borgnäs studierte in Schweden, den USA und Russland, bevor sie an der Uni Potsdam promovierte. Von 2007 bis 2010 war sie Vorsitzende des Sozialdemokratischen Studierendenbundes in Schweden. Seit 2017 ist sie Geschäftsführerin der Stiftung „Arbeit und Umwelt“ der Industriegewerkschaft Bergbau Chemie und Energie (IG BCE).
Naciye Celebi-Bektas: "Männern wird mehr zugetraut"
Nach einer Bundeskanzlerin gibt es nun eine EU-Kommissionspräsidentin und eine Leiterin der Europäischen Zentralbank. Hilft es Ihnen, wenn Frauen klassische Männerdomänen übernehmen?
Generell erlebe ich es als positiv und motivierend, wenn Frauen in höchste Positionen vorstoßen, zudem in sehr sichtbare. Auch wenn aus Gewerkschaftssicht natürlich immer zählen muss, was jemand politisch macht: Frauen an der Spitze senden ein positives Signal.
Haben Sie einmal etwas nicht erreicht, weil Sie eine Frau sind?
Leider sehr oft, im Kleinen wie im Großen. Es stößt mir schon unangenehm auf, wenn Diskussionsbeiträge von Männern größere Aufmerksamkeit bekommen. Auch insgesamt hatte und habe ich häufig den Eindruck: Männern mit gleicher Kompetenz wird mehr zugetraut. Ob das daran liegt, dass ich eine Frau bin, oder daran, dass ich eine Migrantin bin, kann ich allerdings schwer trennen.
Was war Ihr größter persönlicher Erfolg in Sachen Gleichberechtigung?
Im Grunde mein gesamter Lebensweg. Ich komme aus einem Dorf in Nordkurdistan, wurde in der fünften Klasse in Deutschland eingeschult, lernte, nachdem das Abitur zunächst nicht denkbar war, Friseurin. Danach habe ich mich zum Studium der Sozialökonomie vorgearbeitet – und bin heute in einer leitenden Position tätig.
Welche drei Punkte sind nach Ihrer Ansicht für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen entscheidend?
Erstens: Die strukturelle Benachteiligung am Arbeitsmarkt muss ein Ende haben. Es ist wichtig, dass Frauen gleichberechtigt auf unbefristeten Stellen Geld verdienen. Zweitens finde ich das Stichwort Parité, also die Quotierung von Frauen und Männern in Parlamenten, wichtig – da tut sich ja glücklicherweise in einigen Bundesländern etwas. Drittens, das bezieht sich auf Migrantinnen: Es braucht weniger aufenthaltsrechtliche Hürden, damit einer Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt nichts im Weg steht.
Wie lange werden wir noch brauchen, um sie zu erreichen?
Natürlich kann man immer fragen, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Doch ich glaube: Bis zu einer echten Gleichberechtigung bleibt noch reichlich zu tun.
Naciye Celebi-Bektas leitet das Referat Frauen-, Gleichstellungs- und Migrationspolitik beim DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt. Sie kam mit elf Jahren aus dem Norden der Türkei nach Deutschland, lernte erst Friseurin, studierte später Sozialökonomie.
Lisa Lewien: "Keine Vorbilder"
Nach einer Bundeskanzlerin gibt es nun auch eine EU-Kommissionspräsidentin und eine Leiterin der Europäischen Zentralbank. Hilft es Ihnen, wenn Frauen klassische Männerdomänen übernehmen?
Ja und Nein. Ja, weil es deutlich macht: Das Erreichen solcher Positionen wäre im Grunde auch für mich als Frau möglich. Nein, weil die Genannten für mich keine Vorbilder sind. Ich identifiziere mich eher mit Kolleginnen in meiner Arbeitsumgebung, die mit ihrem Handeln und ihren Ansichten näher an meinen Überzeugungen und Werten sind – näher an dem, wer ich bin und sein möchte.
Haben Sie einmal etwas nicht erreicht, weil Sie eine Frau sind?
Verwehrt wurde mir wohl nichts. Rückblickend sehe ich aber, dass ich schon immer eine große Affinität zu handwerklich-technischer Arbeit hatte und noch habe. Nicht ausgeschlossen, dass ich einen anderen Beruf gewählt hätte, wenn mir früher andere Möglichkeiten eröffnet worden wären. Wie wenig Männer Frauen für technisch kompetent halten, erlebe ich bis heute.
Was war Ihr größter persönlicher Erfolg in Sachen Gleichberechtigung?
Vielleicht der Moment, als ich begriff: Du musst dich nicht auf eine bestimmte Weise benehmen, weil du eine Frau bist. Du kannst dir die Fingernägel lackieren, oder Turnschuhe tragen, laut oder zurückhaltend sein, was auch immer. Dein Geschlecht muss dein Verhalten nicht bestimmen. Du entscheidest: Was passt zu mir, wer bin ich – und was und wer eben auch nicht.
Welche drei Punkte sind nach Ihrer Ansicht für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen entscheidend?
Im Grunde nur einer: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Gleichberechtigung nur hinbekommen, wenn wir die soziale Frage stellen. Denn wir leben in einem System, in dem die Einteilung von Menschen nach ihrer Wertigkeit jenen nützt, die am meisten profitieren. Natürlich sind gleiche Löhne, gute Kitas und so weiter wichtig. Doch wir dürfen nicht vergessen, was ganz grundsätzlich hinter der Ungleichstellung von gesellschaftlichen Gruppen – und nicht nur von Frauen und Männern – steckt: das kapitalistische System, welches sich durch diese Mechanismen reproduziert und stabilisiert.
Wie lange werden wir noch brauchen, um sie zu erreichen?
Lange. Schließlich gilt es zu klären: Welche Alternativen gibt es zu einer kapitalistischen Gesellschaft? Wie kommen wir dorthin? Und: Wie können wir alle mitnehmen?
Lisa Lewien ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der politischen Bildung der TU Dresden. Ihr Schwerpunkt: Heterogenität in der Lehrkräftebildung mit dem Fokus auf Gender in der politischen Bildung. Sie ist eine der Sprecherinnen des Bundesausschusses der Jungen GEW.