Quelle: Peter Roggenthin
Magazin MitbestimmungVon ANDREAS KRAFT: Frühwarnsystem für Psychosymptome bei Bosch
Betriebsrat Bosch hat bundesweit die erste Betriebsvereinbarung zur psychischen Gesundheit abgeschlossen. Fast zwei Jahre später sind fast alle Führungskräfte entsprechend geschult, und im Unternehmen etabliert sich eine neue Kultur. Ein Besuch im Werk Nürnberg.
Von ANDREAS KRAFT
Die Mittagspause beginnt. Im Garten der Kantine genießen die Beschäftigten im Sonnenschein ihr Mittagessen, zwei Mitarbeiter spielen ein paar Meter weiter Tischtennis. Der Betriebsratsvorsitzende Ludwig Neusinger zeigt auf die reservierten Parkplätze für die nächste Schicht. Sie werden extra freigehalten, damit die Kollegen aus der Fertigung auch pünktlich zu Schichtbeginn an ihrem Arbeitsplatz sind und sich nicht darüber ärgern müssen, dass sie keinen Platz für ihr Auto finden. Ein bisschen Stress weniger.
Schulungen für Führungskräfte und Mitarbeiter
Im Sommer 2015 hat der Gesamtbetriebsrat der Robert Bosch GmbH die bundesweit erste Betriebsvereinbarung zur psychischen Gesundheit unterzeichnet. Zehn Monate wurde hart verhandelt, zum Teil zweimal die Woche. Am Ende steht nun ein Ergebnis, mit dem auch die Geschäftsführung zufrieden ist. Seit gut einem Jahr werden in Nürnberg die Führungskräfte des Standortes darin geschult, bei ihren Beschäftigten und bei sich selbst die Warnzeichen, die psychischen Erkrankungen vorausgehen, rechtzeitig zu erkennen.
Bei einer der ersten Schulungen haben auch die Werksleiter teilgenommen. „Das war ein wichtiges Signal“, sagt Neusinger. „Damit wurde klargestellt, dass auch die Führung hier vor Ort hinter dem Programm steht.“ Inzwischen haben sich bei Bosch Nürnberg neun von zehn Führungskräften in Sachen psychischer Gesundheit fit machen lassen. Auch in Zukunft werden jedes Jahr mindestens zwei Schulungen angeboten.
Am Standort fertigen gut 2000 Beschäftigte Pumpen zur Benzin-Direkteinspritzung, Komponenten für Automatikgetriebe oder Drosselvorrichtungen für die Luftzufuhr. Im Kern geht es bei den Produkten darum, den Benzinverbrauch zu senken. Dabei ist Nürnberg auch Leitwerk für die Fertigung im Ausland. Das bedeutet, dass dortige Fertigungen durch das Know-how der Nürnberger Mitarbeiter aufgebaut und koordiniert werden. Aber erst, wenn die Linien in Nürnberg voll ausgelastet sind – also in drei Schichten an sechs Tagen die Woche laufen –, werden Investitionen im europäischen Ausland getätigt. Auch das hat Neusinger, der seit 18 Jahren Betriebsratsvorsitzender in Nürnberg ist, mit seinen Kollegen durchgesetzt.
Langsam verändert sich auch beim Thema Gesundheit die Kultur im Betrieb. „Die Beschäftigten gehen heute viel offener mit dem Thema um“, sagt Michaela Lang, die in Nürnberg für die Sozialberatung verantwortlich ist. Neulich habe ein Mitarbeiter seine Vorgesetzten und die Personalabteilung per E-Mail über seine Psychotherapie informiert, erzählt die Diplom-Sozialpädagogin. „Er hat offen über seine Erkrankung geschrieben. Das hätte ich vor zwei Jahren noch für vollkommen unmöglich gehalten.“
Zusammen mit dem Werksarzt Frank Meissner schult Lang auch die Mitarbeiter am Standort. Am Vormittag wird zunächst die Betriebsvereinbarung vorgestellt, bevor Meissner die verschiedenen Formen psychischer Erkrankungen und deren Symptome vorstellt.
Anschließend geht es um das Thema Stress und wie man selbst feststellt, welche Punkte einen persönlich stressen. Dabei schlüpft Meissner auch mal in die Rolle eines Erkrankten und die Teilnehmer hören in sich hinein und reflektieren ihren eigenen Umgang mit dem Thema Stress. Am Nachmittag geht es dann um die Gespräche mit den Mitarbeitern. In Rollenspielen üben die Teilnehmer ganz konkret Gesprächsführung. Sie lernen, ihre Sorgen um die Gesundheit eines Beschäftigten auszudrücken, ohne den Mitarbeiter dabei unter Druck zu setzen.
Stressfaktor Digitalisierung
„Für das Gesundheitsmanagement sind psychische Belastungen ein sehr wichtiges Thema“, sagt Meissner. „Gefahrstoffe werden kaum noch eingesetzt, die körperliche Beanspruchung wurde deutlich zurückgefahren.“ Doch das Tempo habe mit der Digitalisierung bei der Arbeit und im Privatleben deutlich angezogen.
Entsprechend haben psychische Erkrankungen in den vergangenen 20 Jahren in ganz Deutschland enorm zugenommen. Die Zahl der Krankentage hat sich bundesweit mehr als verdreifacht. Wer psychisch krank wird, fällt oft lange aus. Für die Unternehmen bedeutet das zum Teil hohe Kosten, für die Beschäftigten kann das ganze Leben aus den Fugen geraten. Doch noch immer wird das Thema gern verschwiegen.
Offen über psychische Probleme zu sprechen, ist gerade am Arbeitsplatz immer noch meist ein Tabu. Dabei ist die Arbeit laut aktuellen Umfragen immer noch der größte Stressfaktor. Kommen dann noch private Belastungen hinzu, kann das Fass schnell überlaufen. Im Lebenslauf sind solche zusätzlichen Belastungen unausweichlich – die Geburt der eigenen Kinder, die Pflege naher Angehöriger, ein Todesfall oder eine Scheidung. Auch Umstrukturierungen und die Angst um den eigenen Arbeitsplatz können einen enormen Druck entfalten. Wer wann wie mit dem Stress fertig wird, lässt sich nicht abschätzen. Es kann schlicht jeden treffen.
Warnsignale rechtzeitig erkennen
Deshalb setzten bei Bosch Geschäftsführung und Betriebsrat jetzt darauf, Warnzeichen rechtzeitig zu erkennen und den Beschäftigten zu helfen, bevor sie krank werden. „Die wichtigste Schnittstelle sind dabei die Führungskräfte“, sagt Meissner. „Sie sehen ihre Kollegen jeden Tag. Ihnen fallen Veränderungen als Ersten auf.“ Etwa wenn sich ein Mitarbeiter immer mehr zurückzieht oder plötzlich häufig Wutanfälle bekommt, auch wenn er früher ganz ausgeglichen war. Auch Konzentrationsschwierigkeiten, eine allzu penible Eigenkontrolle oder überlange Arbeitszeiten können erste Anzeichen sein. In einem ersten Gespräch zeigen die Führungskräfte, dass sie sich Sorgen um den Kollegen machen und bieten Hilfe an. Das können kleine Änderungen im Arbeitsablauf sein, die den Stress reduzieren, oder ein Gespräch mit der Sozialberatung oder dem Werksarzt.
Dort können den Beschäftigten ganz konkrete Angebote gemacht werden. Etwa ein einwöchiges Anti-Stress-Seminar in einer speziellen Klinik oder ein Präventionsurlaub in Zusammenarbeit mit der Betriebskrankenkasse. Dort werden verschiedene Entspannungstechniken vermittelt und praktisch gezeigt, wie sich Stress abbauen lässt – etwa durch Sport. Die Beschäftigten besuchen diese Angebote in ihrer Freizeit, das Unternehmen übernimmt dafür großteils die Kosten. Bei akuten Fällen hat Bosch zudem mit einer Klinik vereinbart, dass Mitarbeiter mit nur ein oder zwei Wochen Wartezeit zu einer Kurzinterventionswoche kommen können. Zudem hilft die Sozialberatung auch bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten, der schnell weiterhelfen kann. „Die Wartezeiten bei Psychotherapeuten liegen ja oft bei sechs Monaten“, sagt Lang. „Wenn jemand depressiv ist, fehlt ihm in der Regel einfach die Energie für viele erfolglose Anrufe. Da können wir helfen.“
Die Betriebsvereinbarung geht aber deutlich weiter. Sie will nicht nur den Mitarbeitern helfen, mit dem Stress besser fertig zu werden, sie will auch Veränderungen im Unternehmen anstoßen, um den Stress da, wo er krank macht, auch zu reduzieren. So können etwa die Beschäftigten aktiv mitwirken, was ihre psychische Gesundheit möglicherweise gefährdet und Vorschläge machen, wie sich die Fehlbelastungen reduzieren lassen. Zudem stellt die Vereinbarung klar, dass stark belastete Führungskräfte angemessen unterstützt werden. So soll verhindert werden, dass durch Überforderung ein Klima entsteht, das Beschäftigte zu sehr belastet. Daneben setzt die Vereinbarung auf die übrigen Bausteine des Gesundheitsmanagements bei Bosch: die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung, in der die psychischen Belastungen eingebunden sind, sowie die Verhältnis-Prävention, die darauf setzt, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das die Gesundheit der Beschäftigten erhält.
Auch hier berichten die Beteiligten von ersten Erfolgen. Bereits kleine Auffälligkeiten bei den Antworten der Beschäftigten in der Gefährdungsbeurteilung hätten schon dazu geführt, dass sich Führungskräfte bei der Sozialberatung meldeten. „Sie wollten direkt über Angebote zur Prävention sprechen“, sagt Lang. „Da ist eine ganz neue Sensibilität für das Thema entstanden. Mir zeigt das, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“
Ausgezeichnet mit dem Betriebsrätepreis 2016
Doch für den Betriebsrat war es ein langer Weg, das Thema aus der Tabu-Zone zu holen. „Vor über 15 Jahren haben wir das Thema schon auf unsere Tagesordnung gesetzt“, sagt Betriebsratsvorsitzender Neusinger. Doch anfangs sei es sehr schwierig gewesen, mit der Geschäftsführung über das Thema zu sprechen. Schließlich kann Stress auch positiv sein und zur Produktivität beitragen. Automobilzulieferer wissen, wie das geht.
Doch das beständige Bohren der Arbeitnehmervertreter führte schließlich zum Erfolg. „Als die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung, die psychische Belastungen berücksichtigt, gesetzlich verbindlich wurde, hatten wir einen Hebel“, sagt Neusinger. „Wir haben gesagt: Wir regeln das Thema, wenn es parallel auch eine Betriebsvereinbarung zur psychischen Gesundheit gibt.“ Entsprechend wurden dann beide Themen verhandelt. Neusinger führte dabei die Verhandlungsgruppe der Arbeitnehmervertreter an. Im vergangenen Herbst durfte er deshalb nach Bonn reisen, um dort den „Sonderpreis für gute Arbeit“ des Deutschen Betriebsrätetags entgegenzunehmen. „Im alten Plenarsaal des Bundestages reden zu dürfen, das war eine große Ehre und ganz schön aufregend“, sagt Neusinger heute.
Doch der größte Lohn für all die Mühen sind die direkten Rückmeldungen von den Beschäftigten. Vor ein paar Monaten habe ein Mitarbeiter ganz aufgelöst in seinem Büro gesessen. Neusinger verwies ihn entsprechend der Vereinbarung weiter. Der Beschäftigte fand Hilfe und kam zwei Wochen später zurück zu Neusinger, um sich zu bedanken. „Diese Vereinbarung steht nicht nur auf dem Papier, sie wird auch gelebt“, sagt Neusinger.
Neben der eigentlichen Betriebsvereinbarung gibt es für die Führungskräfte einen umfangreichen Handlungsleitfaden. Auf 20 Seiten gibt er den Führungskräften einen klar strukturierten Prozess an die Hand. Darin ist nicht nur der genaue Ablauf der Gespräche geregelt, es gibt auch klare Hinweise, wie der Vorgesetzte mit seinen Mitarbeitern sprechen soll. In der Einführung sind zudem zahlreiche Warnzeichen genannt und der Leitfaden macht unmissverständlich deutlich: Eine psychische Erkrankung ist kein Makel, es kann jeden treffen.
Neusinger ist dieser Punkt besonders wichtig. Er wünscht sich, dass psychische Erkrankungen genau so behandelt werden wie physische Krankheiten: „Nur dann können wir den Menschen wirklich helfen.“
Foto oben: Peter Roggenthin