Quelle: Stephan Pramme
Magazin MitbestimmungArbeitszeitgestaltung: Fortschritt beginnt mit einer Utopie
Die Böckler-Expertinnen Yvonne Lott und Johanna Wenckebach über Zeitwünsche und Vereinbarkeitsprobleme, die Arbeitszeiterfassung und die Viertagewoche. Das Interview führten Fabienne Melzer und Kay Meiners
Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland 700 Millionen unbezahlte Überstunden. Arbeiten die Menschen gern umsonst?
JOHANNA WENCKEBACH: Die allermeisten nicht. Sie können ihre Überstunden nur meist nicht belegen und bekommen sie deshalb nicht bezahlt. Die vielen unbezahlten Überstunden sind ein zentrales Argument für eine Arbeitszeiterfassung.
YVONNE LOTT: Nur wenige Menschen arbeiten aus intrinsischer Motivation mehr. Alle anderen haben andere Gründe – wie den, dass Projekte so eng getaktet sind, dass sie die Arbeit in der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit nicht schaffen. Es liegt an den Vorgaben oder daran, dass Personal fehlt. Die Mehrarbeit erscheint häufig freiwillig, sie ist es aber nicht.
JOHANNA WENCKEBACH: Die Leute entscheiden sich im Arbeitsverhältnis ganz oft nicht frei. Das ist ein Machtverhältnis. Abhängig Beschäftigte werden unter Druck gesetzt, Leistung zu erbringen und Überstunden zu machen, und tun das oft aus Angst vor negativen Konsequenzen. Um die Mehrarbeit in den Griff zu kriegen, fordern die Gewerkschaften unter anderem mehr Mitbestimmung bei der Personalplanung.
Wo liegt aktuell die durchschnittliche Wochenarbeitszeit?
YVONNE LOTT: 2021 lag die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 34,7 Stunden. Bei Männern sind es etwa 38 Stunden und bei Frauen rund 30. Es gibt also einen Unterschied von knapp acht Stunden. Etwa jede zweite erwerbstätige Frau arbeitet in Teilzeit. Sobald sie eine Familie gründen, reduzieren viele Frauen ihre Arbeitszeit, weil sie in der Regel mehr Erziehungs- und Sorgearbeit übernehmen als Männer.
Wer sollte sich da wem annähern?
YVONNE LOTT: Das Problem ist weniger, dass so viele Frauen in Teilzeit, sondern dass so viele Männer in Vollzeit arbeiten. Wir sollten alle kürzer arbeiten. Eine Viertagewoche, die ja in der Öffentlichkeit und Politik zurzeit kontrovers diskutiert wird, könnte Arbeit umverteilen – bezahlte und unbezahlte.
Welche Arbeitszeiten wünschen sich Männer und Frauen?
YVONNE LOTT: Viele Menschen würden gern weniger arbeiten und wünschen sich einen pünktlichen Feierabend. Dabei wollen Frauen häufig länger und Männer oftmals kürzer arbeiten. Während der Pandemie, als Schulen und Kitas geschlossen waren, übernahmen zwar weiter Frauen den Hauptanteil der Sorgearbeit. Aber auch etliche Männer haben sich in dieser Zeit zu Hause engagiert und dabei gemerkt: Kinderbetreuung macht auch Spaß. In unserer Erwerbspersonenbefragung haben wir auch gefragt, ob die Menschen sich eine Viertagewoche wünschen, und zu welchem Lohn. Nur acht Prozent wollen die Arbeitszeitverkürzung auch bei geringerem Lohn. 73 Prozent wollen die Viertagewoche bei gleichem Lohn. Das müssen wir ernst nehmen.
Weniger arbeiten für das gleiche Geld? Bei der Frage sagt doch niemand Nein.
JOHANNA WENCKEBACH: Fortschritt hat oft mit Utopien angefangen. Mit einer Viertagewoche ohne Lohneinbußen ließe sich insbesondere der Familienalltag gerechter bewältigen als mit dem derzeit überwiegenden Modell der Dazuverdienerehe. Es entsteht einfach viel mehr Zeitautonomie für beide Eltern. Aber es geht auch um gesellschaftlich relevante Themen wie Gesundheit, Bildung und Ehrenämter.
Einverstanden. Aber die Arbeitgeber werden nicht einfach den Lohn von fünf Tagen für vier Tage zahlen. Und ohne Lohnausgleich können sich viele die kurze Arbeitszeit nicht leisten.
YVONNE LOTT: Es gibt Pilotprojekte zur Viertagewoche, die jetzt in Großbritannien und in den USA gelaufen sind. Sie zeigen, dass Beschäftigte produktiver sind und weniger gestresst, wenn sie kürzer arbeiten. Wenn die Produktivitätsgewinne die kürzere Arbeitszeit aufwiegen, kann der Lohn weitergezahlt werden. In Österreich hat beispielsweise ein IT-Unternehmen bereits die Viertagewoche bei gleichem Lohn. Es ist erfolgreich am Markt und bekommt die besten Mitarbeiter.
JOHANNA WENCKEBACH: Technischer Fortschritt und insbesondere KI werden die Produktivität ebenfalls steigern. Auch das eröffnet Spielräume für kürzere Arbeitszeiten. Am Ende sind die Fragen nach Lohn und Arbeitszeit aber sicher Macht- und Verteilungsfragen. Die IG Metall, die jetzt beispielsweise in der Stahlindustrie das Thema aufgemacht hat, ist sich sicher bewusst, dass sie die Kampfkraft braucht, es in der Tarifauseinandersetzung auch durchzusetzen.
Wie stark ist die Verhandlungsmacht der Beschäftigten?
YVONNE LOTT: Zumindest im Hinblick auf die Flexibilität ist die Verhandlungsmacht der Beschäftigten gestiegen. Nur tageweise im Betrieb oder von Thailand aus in Teilzeit arbeiten, so etwas geht heute. Aber dass jemand sagt, ich möchte das gleiche Geld, aber kürzer arbeiten, davon habe ich noch nichts gehört. So etwas ist kollektiv leichter als individuell.
JOHANNA WENCKEBACH: Man liest gerade viel über die angeblich neue Verhandlungsmacht der Beschäftigten. Aber ich bezweifle, dass Arbeitszeitfragen jetzt alle durch den Markt gelöst werden. Die strukturelle Ungleichheit zwischen Beschäftigten und Unternehmen bleibt. Die Unternehmen werden sie auch weiterhin ausnutzen. Und auch politisch geht die Debatte zum Teil genau in die andere Richtung: Wir sollen wieder mehr arbeiten. Bei der Arbeitszeit bewegen sich Arbeitgeber noch weniger als beim Geld. Als ich noch Tarifsekretärin war, habe ich bei Verhandlungen oft gehört: „Mehr Geld könnt ihr haben, aber auf keinen Fall mehr Zeit.“
Wollen Männer überhaupt, dass Erwerbsarbeit anders verteilt wird?
YVONNE LOTT: Es gibt einen Generationenwandel – also jüngere Väter, die nicht den ganzen Tag weg sein wollen, wie es etwa in der Generation meines Vaters üblich war. Aber wenn sie darin nicht von ihrem Betrieb unterstützt werden, verhalten sich viele Menschen lieber rollenkonform. Das ist einfacher. Der gesellschaftliche Rahmen wirkt so stark, dass Paare selbst wenn sie es sich eigentlich anders vorgenommen haben, am Ende bei dem traditionellen Arrangement landen.
JOHANNA WENCKEBACH: Es ist wirklich erstaunlich, wie stark Geschlechterrollen immer noch Arbeitszeitfragen beeinflussen. Aber es gibt eben auch sehr viele Stellschrauben im Arbeits- und Sozialrecht, aber auch im Steuerrecht, die geändert werden könnten, wenn es den politischen Willen dazu gäbe – wie etwa das Ehegattensplitting.
Wenn die Unternehmen nicht zum Lohnausgleich bereit sind und es keinen Lohnersatz vom Staat gibt, was dann? Dann bleibt nur, den Zeitwohlstand mit materiellem Verzicht zu erkaufen.
JOHANNA WENCKEBACH: Vorsicht! Zeitwohlstand darf kein Luxusthema sein für Menschen, die sagen können: Ich lebe auch gut mit weniger Geld, wenn ich dafür mehr Zeit habe. Es gibt ganz viele Beschäftigte, die ein Vollzeiteinkommen brauchen, um überhaupt ihren Lebensunterhalt zu decken. Deswegen ist der Lohnausgleich ganz wichtig.
Ein Thema, bei dem es hoch hergeht, ist die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit. Ist das jetzt das Ende des Vertrauens?
JOHANNA WENCKEBACH: Es sind vor allem die Arbeitgeberverbände, die vom Ende der sogenannten Vertrauensarbeitszeit, von Überwachung und Arbeit nach der Stechuhr reden: Das sind die gleichen Leute, die fragen, ob Ruhezeiten noch in eine digitalisierte und globalisierte Arbeitswelt passen. Da fällt immer wieder das Stichwort Flexibilität. Damit gemeint ist dann aber nicht Zeitautonomie von Beschäftigten, sondern Flexibilität für Unternehmen beim Zugriff auf Arbeitskraft.
YVONNE LOTT: Es geht hier um Gesundheitsschutz. Ich höre auch öfter, dass es doch praktisch ist, sich auch mal abends von 21 bis 23 Uhr hinsetzen zu können und sich am Nachmittag eher um die Kinder zu kümmern. Die Wissenschaft nennt es den fragmentierten Arbeitstag. Erste empirische Befunde zeigen, dass der empfundene Zeitdruck dadurch zunimmt. Die scheinbar gute Lösung wird zur Gefahr. Sorgearbeit ist auch Arbeit. Sie wird nur nicht bezahlt.
JOHANNA WENCKEBACH: Ich weiß, wie es sich anfühlt, kleine Kinder ins Bett zu bringen, die nicht einschlafen wollen, während ich Druck habe, danach noch zu arbeiten. Das ist sehr belastend. Es hat sich für mich nie wie Autonomie oder Entlastung angefühlt. Und erforscht ist: Wer nach späten Mails nicht schlafen kann, gefährdet seine Gesundheit. Der Mensch hat einen Biorhythmus, seinen Bedarf nach Ruhe und Schlaf hat auch die Digitalisierung nicht verändert.
Trotzdem scheinen sich nicht alle zu freuen.
YVONNE LOTT: Die gesetzliche Lage ist eindeutig. Es muss gemacht werden. Entscheidend ist, ob der Betriebsrat eingebunden ist, ob der Datenschutz beachtet wird und wie die Arbeitszeiterfassung ausgestaltet wird. Die Beschäftigten dürfen nicht den Eindruck haben: Da wird über unsere Köpfe hinweg entschieden.
JOHANNA WENCKEBACH: Einige Leute, die sich gegen die Erfassung wenden, blicken aus einer privilegierten Sicht von Menschen, die sehr autonom arbeiten, auf das Thema. Die Realität sieht meist anders aus. Man denke nur an die Fleischbranche, wo gerade explizit im Arbeitsschutzkontrollgesetz eine elektronische, manipulationssichere Arbeitszeiterfassung geregelt wurde, damit der Mindestlohn nicht permanent unterschritten wird. Die Aspekte Gerechtigkeit und Schutz durch Arbeitszeiterfassung werden in der Debatte viel zu selten beleuchtet.
Die Arbeitszeit selbst aufschreiben reicht nicht?
JOHANNA WENCKEBACH: Das wird den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht, weil es kein objektives Zeiterfassungssystem ist. Die Unternehmen müssen ein geeignetes System einsetzen, und die Betriebsräte haben ein Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung.
YVONNE LOTT: Aus Studien zum Homeoffice weiß man außerdem, dass Beschäftigte im Homeoffice ihre Arbeitszeit eher konservativ erfassen und Zeiten, in denen sie nicht wirklich produktiv arbeiten, nicht einrechnen. Auch deswegen braucht man ein objektives System. Gerade wenn sehr autonom gearbeitet wird, ist es wichtig, die Arbeitszeit zu erfassen, um überhaupt noch ein Gefühl dafür zu haben, wie lange man arbeitet. Bei einem fragmentierten Arbeitstag, der wie ein Schweizer Käse nur aus Löchern besteht, die Arbeitszeit also ständig unterbrochen wird, ist das besonders wichtig. Aber es wird immer so getan, als würden sich Autonomie und Arbeitszeiterfassung widersprechen.
Aus der Vergangenheit wissen wir, wie hart und lang die Kämpfe um die Arbeitszeit waren. Wird eine Zeit kommen, wo man sagt: Wochenende – das ist Freitag, Samstag, Sonntag?
YVONNE LOTT: Ich bin Optimistin und glaube daran. Schließlich gab es mal eine Zeit, in der auch die Fünftagewoche mit dem freien Samstag eine Utopie war.
JOHANNA WENCKEBACH: Ich würde mir das sehr wünschen – und meine Kinder auch. Am Sonntag gibt es laute Proteste, dass zwei Tage nicht reichen, um sich zu erholen und zusammen zu sein. Das ist die Generation, die sich weiter für eine Viertagewoche einsetzen wird.
Yvonne Lott (Bild re.) ist Soziologin und leitet das Referat Geschlechterforschung am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Sie forscht unter anderem zu Vereinbarkeit
und zu Geschlechterrollen.
Johanna Wenckebach (Bild li.) ist Arbeitsrechtlerin und leitet als wissenschaftliche Direktorin das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Als Tarifsekretärin hat sie früher selbst Arbeitszeitklauseln in Tarifverträgen ausgehandelt.