zurück
Magazin Mitbestimmung

: Fit bis zur Rente

Ausgabe 05/2005

Frühverrentung oder Vorruhestand - so hieß bislang die Antwort auf ältere Beschäftigte in den Betrieben. Bei der üstra AG in Hannover, einem Verkehrsunternehmen, versuchen die Verantwortlichen gegenzusteuern.

Von Yvonne Derda
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Göttingen.
 
Wilhelm Lindenberg, Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied der üstra Hannoversche Verkehrsbetriebe AG, hat über ein rotes Nottelefon stets den direkten Draht zum Betriebsrat drei Etagen tiefer. Er ist gelernter Arbeitswissenschaftler und war früher selbst einmal Betriebsrat - heute gilt er als die treibende Kraft für ein neues arbeits- und personalpolitisches Modell, das er zusammen mit der Belegschaft und der Unternehmensführung entwickelt hat.
 
Es soll die üstra AG auf eine Zukunft vorbereiten, in der es mehr Ältere und weniger Junge geben wird. In Betriebsversammlungen und auf Gewerkschaftstagungen predigt er den "Wandel in den Köpfen". Obsolete Vorstellungen und Vorurteile über ältere Mitarbeiter müssten aus ihnen heraus, sagt er - hinein sollen Pläne, was jeder Einzelne tun kann, um in Zukunft länger arbeiten zu können. Aber auch das Unternehmen muss sich ändern.
 
Mischarbeit statt Monotonie
 
Die Bemühungen fangen bei den Jungen an, nicht bei den Alten. Lindenberg ist stolz auf die vielen Veränderungen, die die Gesundheit der Mitarbeiter verbessern sollen.
 
Der Betriebsarzt und eine weitere Mitarbeiterin betreuen die Belegschaft durch eine Rückenschule sowie durch Ernährungs- und Diätpläne, sie halten Seminare ab und beraten jeden, der seine Gesundheit verbessern will. Einen Grundkurs gibt es sogar während der Arbeitszeit. Die betriebseigene Sportgemeinschaft betreibt zwei Fitnessstudios, die von den Mitarbeitern immer mehr genutzt werden. Das Management sorgte außerdem für ergonomische Fahrersitze, Nichtraucherschutz und Mischarbeit. Beim Gesundheitsschutz geht Lindenberg seit kurzem mit gutem Beispiel voran und trainiert selbst: "Es ist notwendig, eine bestimmte körperliche Fitness zu haben."
 
Sichere Jobs im Tausch gegen Fitness?
 
Eine zweite Säule des üstra-Konzeptes ist neben dem Gesundheitsschutz die Personalpolitik. Maßnahmen zur Personalentwicklung bietet die üstra AG ohne Altersbegrenzung an. Das ist der erste Baustein, um die Geübtheit und das Wissen gerade der erfahrenen, älteren Mitarbeiter lange und sinnvoll nutzen zu können. Zusätzlich gehe es darum, erklärt Lindenberg, die Mitarbeiter über den internen Arbeitsmarkt bedarfsgerecht zu qualifizieren.
 
Eintönigkeit und einseitige körperliche Belastungen wirken sich schädlich aus, das weiß man längst. Vor vier Jahren wurde deshalb bei der üstra AG die Mischarbeit eingeführt, damit Fahrer ihren Job tatsächlich bis zum Rentenalter durchhalten. Mischarbeit - das bedeutet 50 Prozent fahren, 50 Prozent administrative Arbeiten oder Arbeit im Kundenservice.
 
Den Fahrern, die jetzt auch im Service arbeiten, kommt zugute, dass sie ja auch im Bus schon Kundenkontakt hatten - bei einem Techniker wäre der Wechsel sicherlich viel schwieriger. Trotzdem soll die Mischarbeit noch ausgedehnt werden. Lindenberg erhofft sich davon aber für die Mitarbeiter weniger einseitigen Stress und mehr Spaß an der Arbeit. Bei einem anderen Modell wird ein Bus mit zwei Fahrern besetzt, die sich gegenseitig abwechseln.
 
Teilweise gab es Vorbehalte gegen solche Modelle - auch beim Management. Am beliebtesten ist meistens die Gesundheitsförderung, die nicht viel kostet. Wer beim Betriebssport mitmacht, zahlt dafür einen monatlichen Beitrag. Lindenberg dagegen hält seinen Weg auch ökonomisch für vernünftig: "Mitarbeiter, die als untauglich für den Fahrdienst eingestuft werden, sind eine größere wirtschaftliche Last." Ihm geht es darum, sein Personal möglichst breit zu qualifizieren, damit sie entsprechend flexibel eingesetzt werden - so kann das Unternehmen später gesundheitliche Einschränkungen besser auffangen.
 
Solche Schritte mögen sich bescheiden ausnehmen, wenn man sie mit den Hochglanzbroschüren vergleicht, die von den verschiedenen Ministerien und Initiativen in der ganzen Republik verteilt werden. Doch die Räder der Veränderung drehen sich nun mal langsam. Noch längst ist das Thema nicht in allen Köpfen angekommen. "Man muss an das Bewusstsein der Beschäftigten heran", sagt Lindenberg, "das Gesundheitsprogramm ist dabei nur eine unternehmenspolitische Hilfe." Dabei stellt das Unternehmen auch Forderungen an die Mitarbeiter. Wird etwa eine Kur angeboten, so ist auch das Nachsorgeprogramm verpflichtend.
 
Der Mitarbeiter ist angehalten, einen Erfolg nachzuweisen. Lindenberg denkt sogar noch weiter. Er diskutiert, als echten Anreiz ein Bonusprogramm einzuführen: Fitnesserfolge würden dann mit höherer Beschäftigungssicherheit aufgewogen. Der tarifvertraglich festgelegte Kündigungsschutz nach 15 Jahren Betriebszugehörigkeit, bemerkt er süffisant, trage jedenfalls nicht dazu bei, dass die Mitarbeiter alles für ihre Gesundheit tun würden: "So, wie es heute ist, ist es ja egal, ob ich dick bin oder nicht."
 
Friedel Meyer ist ein Mitarbeiter nach Lindenbergs Geschmack. Er ist 61 Jahre alt und arbeitet noch voll. Und das sogar unter den gesundheitsbelastenden Bedingungen des Busfahrer-Berufs. Seit 29 Jahren sitzt er im Bus und strahlt reinen Optimismus aus: "Wenn man sich den Tag schön macht, hat man auch einen schönen Tag", sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen. Seinen Beruf findet er nicht zu anstrengend. Klar, auch er weiß von den Schlafstörungen zu berichten, die die Schichtarbeit mit sich bringt, und "derbe mit dem Gewicht raufgegangen" sei er auch. Das, meint er, bringe das viele Sitzen eben mit sich. Doch "toi, toi, toi", sagt er, "mit dem Rücken habe ich keine Probleme." Für die meisten Fahrer ist der Rücken das Gesundheitsproblem Nummer eins.
 
Kaum einer ist älter als 60 Jahre
 
So einer wie Meyer ist heute noch die Ausnahme - bei der üstra arbeitet, ebenso wie bei den meisten anderen Unternehmen in der Branche, kaum noch jemand im Fahrdienst, der älter als 60 Jahre ist. "Doch in einigen Jahren soll das der Normalfall sein, und dafür muss die Belegschaft fit gemacht werden", resümiert Lindenberg. Sein Ziel steht fest: Die größte Gruppe seiner Mitarbeiter, das Fahrpersonal, soll künftig nicht mehr mit 60 aus dem Dienst entlassen werden, sondern bis zum 63. Lebensjahr und länger arbeiten.
 
Gerade für Verkehrsunternehmen ist das Problem besonders dringlich, denn ab 55 Jahren kommt es bei Bus- und Bahnfahrern häufiger zu gesundheitlichen Schwierigkeiten. Nach den Zahlen der Berufsgenossenschaft bedeutet das zwei Prozent fahrdienstuntaugliche Mitarbeiter pro Jahr. Die Hannoverschen Verkehrsbetriebe liegen mit einer Quote von 0,8 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt. Das schreibt Lindenberg der Personalpolitik der letzten Jahre zu.
 
Gemessen an einem Maßnahmenkatalog, den Hartmut Buck und Alexander Schletz, Experten vom Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, aufgestellt haben, schneidet die üstra heute bereits ganz gut ab. Als Nächstes plant Lindenberg ein Rotationsmodell, mit dem Personal flexibler als bisher auf verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt werden kann und gleichzeitig breiter qualifiziert ist, weiterhin ein Patenmodell, um Wissenstransfer zwischen den Generationen sicherzustellen.
 
Geplant ist außerdem ein Arbeitsplatzkataster, in dem die Arbeitsplätze nach den Kriterien altersgerechten Arbeitens bewertet werden sollen. Lindenberg plädiert außerdem dafür, vorhandene Arbeitszeit- und Teammodelle weiterzuentwickeln, statt diese immer weiter einzuschränken. Er denkt dabei an generationsübergreifende Gruppenarbeit und möchte die medizinische Mischarbeit noch mehr ausweiten. Aber das ist noch Zukunftsmusik - Lindenberg möchte diese Konzepte bis Ende 2007 entwickelt, erprobt und eingeführt sehen. Um das anzukurbeln, wurden dafür eigens EU-Projektmittel beantragt.
 
Grenzen der Machbarkeit
 
Peter Reißaus, Betriebsrat der Hannoverschen Verkehrsbetriebe AG und Aufsichtsratsmitglied, begrüßt solche Pläne, doch vieles klingt ihm zu euphorisch. Er bleibt lieber auf dem Boden der Tatsachen. Reißaus stellt die Frage, wie groß die Spielräume der üstra AG bei den aktuellen wirtschaftlichen Zwängen überhaupt sind: "Rotation ist ja schön und gut, aber in der Planung und Verwaltung kostet es erst einmal mehr Geld. Können wir uns das leisten?"
 
Und was, fragt er, werde wohl aus der Gruppenarbeit, bei der die Fahrer mit ihren Ideen in den Prozess der Unternehmensentwicklung einbezogen wurden? Alle sechs Wochen gibt es dafür einen Tag frei vom normalen Dienst - das, so fürchtet er, werde bald wirtschaftlich nicht mehr machbar sein. Selbst wenn es stimmt, dass das anspruchsvolle Konzept am Ende auch das ökonomisch vernünftige ist - zunächst einmal muss investiert werden.
 
Er berichtet, dass die Bereitschaft der Kollegen zur Mischarbeit häufig zu wünschen übrig lässt. Wer will schon von einem angenehmen Arbeitsplatz weg, vielleicht auf einen weniger angenehmen? Was den demografischen Wandel angeht, hält Reißaus, der selbst als Busfahrer gearbeitet hat, die üstra AG eher für schlecht gewappnet. Tatsächlich muss das Unternehmen Personal abbauen. Im Jahr 2000 hatte es noch 2287 Beschäftigte, im Jahr 2003 noch 2072. Bald sollen es nur noch 1648 Vollzeitstellen sein. "Unsere Kollegen werden älter, neue werden nicht eingestellt", sagt Reißaus: Knapp zwanzig Jahre, so seine Erfahrung, halte jemand den Job als Busfahrer durch: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute bald mit Ende 60 noch hinter dem Lenkrad sitzen."

 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen