Quelle: Stephen Petrat
Magazin MitbestimmungBetriebsrätepreis: „Fast eine Viertagewoche”
Ein ausgeklügeltes Schichtmodell reduziert die Belastungen der Beschäftigten bei Essity Operations. Der Betriebsrat hat entscheidend daran mitgewirkt. Von Andreas Schulte
Ohne „Tempo” zog das Tempo an. Diesen scheinbaren Widerspruch erlebten vor zwei Jahren Beschäftigte des Hygienepapier-Herstellers Essity Operations am Standort Neuss. Denn als das Management die Weiterverarbeitung von Taschentüchern der Traditionsmarke Tempo an den Standort Mannheim verlagerte, erhielt Neuss im Gegenzug die Verarbeitung der Handelsmarken des Konzerns. „Damit stiegen die Volumina”, sagt der Betriebsratsvorsitzende Ralf Kruska. „Das führte zu mehr Belastung der Beschäftigten und so stieg schließlich auch der Krankenstand.” Zeitweilig betrug er bis zu dreizehn Prozent.
Zwar galt damals im Betrieb die 35-Stunden-Woche. Doch häufig waren sogenannte Einbringeschichten nötig, um sie zu erfüllen. Zudem mussten Beschäftigte den hohen Krankenstand ausgleichen. „Es gab daher ständig Änderungen im Dienstplan. Bald war die Zeitkonten so voll, dass es nicht möglich war, zu viel gearbeitete Stunden abzufeiern”, sagt Kruska.
Dieser Zustand störte nicht nur die Belegschaft. Auch der Arbeitgeber war unzufrieden. Er forderte angesichts der hohen Auslastung der Produktion den sogenannten Durchfahrbetrieb, bei der grundsätzlich an sieben Tagen in der Woche gearbeitet wird. Doch die Vorstellungen beider Lager für die Problemlösung drifteten zunächst auseinander. Während die Arbeitnehmervertreter mehr Personal forderten, brachte die Essity-Führungsetage die 38-Stunden-Woche ins Gespräch. „Da haben wir uns gedacht, nicht mit uns”, erzählt Kruska.
Eine Wette mit dem Arbeitgeber
Der Betriebsrat machte sich daran aufzuzeigen, wie ein neues Schichtmodell im Durchfahrbetrieb für Entlastung sorgen kann, ohne zusätzliche Kosten zu verursachen. „Im Grunde war es eine Wette mit dem Arbeitgeber: Gelingt es uns, ihm zu beweisen, dass wir nicht nur den Krankenstand senken können, sondern uns auch für neue Mitarbeiter interessant machen, denn natürlich sind auch wir vom Fachkräftemangel betroffen”, sagt Kruska. Vor allem Azubis waren nach ihrer Ausbildung bis zuletzt nicht für Schichtarbeit zu begeistern. „Wir mussten also auch zeigen, wie wir junge Menschen im Unternehmen halten können.”
Denn insgesamt habe die Loyalität zum Betrieb abgenommen, berichtet Kruska. „Früher hatten wir oft 25- und 40-jährige Dienstjubiläen zu feiern. Das kommt mittlerweile seltener vor. Heute suchen sich Beschäftigte sehr schnell einen neuen Arbeitgeber, wenn die Bedingungen nicht stimmen. Schließlich haben wir in den angrenzenden Ballungszentren rund um Neuss reichlich Konkurrenz.”
Um die Chancen auf den Gewinn der Wette zu erhöhen, setzte der Betriebsrat auf externe Hilfe. Das Gremium ließ sich von der IG BCE und externen Experten für Arbeitszeitsysteme beraten – freilich nicht ohne in Workshops die Wünsche der Belegschaft zu erfragen und zu berücksichtigen.
Mit Fakten den Arbeitgeber überzeugt
„Wir haben dann mit einem speziellen Tool durchgerechnet, was eine Umstellung des bis dahin üblichen Vierschichtmodells auf ein Fünfschichtmodell bedeuten würde”, sagt Kruska. Zunächst einmal stand durch zusätzliches Personal eine Kostensteigerung. „Das machte unsere Verhandlungsposition nicht leichter”, sagt Kruska. Doch langfristig würde die Umstellung unter Berücksichtigung aller Faktoren inklusive verringerter Fluktuation und Senkung des Krankenstands kostenneutral verlaufen. „Diese Fakten haben den Arbeitgeber schließlich überzeugt”, sagt Kruska.
Seit dem ersten Januar 2023 gelten nun die neuen Regeln. „Die Beschäftigten sind super-zufrieden", sagt Kruska. „Die wollen kein anderes Modell mehr.” Denn sehr schnell zeigten sich die Vorteile für alle Beteiligten. Beim Fünf-Schicht-Modell arbeitet jeder nun wöchentlich 32,5 Stunden. Der Clou: Das Entgelt entspricht aber weiterhin der zuvor üblichen 35-Stunden-Woche. Einbringeschichten entfallen. „Überall wird gerade noch über die Viertagewoche diskutiert, aber wir sind mit unserem Modell und einer Wochenarbeitszeit von 4,2 Tagen schon ganz nah daran”, sagt Kruska. Dabei sind in der Papierindustrie mit ihren rund 40 000 Beschäftigten in Deutschland wöchentliche Arbeitszeiten von 38 Stunden weiterhin üblich.
Doch es ist nicht nur die reduzierte Belastung, die aus dem neuen Schichtmodell ein Erfolgsmodell macht. Der Krankenstand sei seit Beginn des Jahres deutlich auf nunmehr rund acht Prozent gesunken, sagt Kruska. Leistungsgewandelte Beschäftigte, also jene, die etwa wegen einer Krankheit dauerhaft nur eingeschränkt einsatzfähig sind, müssen keine Nachtschichten übernehmen. „Das nutzen viele bereits aus”, sagt Kruska.
Nicht nur intern kommt das neue Schichtmodell gut an. Essity Operations steigert zudem seine Arbeitgeberattraktivität. Die verbesserten Arbeitsbedingungen scheinen sich in Neuss und in der Region bereits herumzusprechen. Das Unternehmen hatte jedenfalls keine Probleme, zu den 450 Beschäftigten am Standort 50 neue für das personalintensivere Modell zu rekrutieren.
Mehr zum Betriebsräte-Preis 2023:
Der Deutsche Betriebsräte-Preis wird am 9. November im Rahmen des Deutschen Betriebsrätetags in Bonn verliehen. Von 76 Bewerbungen wurden zwölf Projekte nominiert, einer der Nominierten ist der Betriebsrat des Hygienepapier-Herstellers Essity, der in diesem Jahr den Sonderpreis „Gute Schichtarbeit“ erhält.
Mehr über die nominierten Projekte auf der Seite des I.M.U. zum Deutschen Betriebsrätetag 2023
Das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung bietet ein Archiv mit zahlreichen Betriebsvereinbarungen.