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Magazin Mitbestimmung

: Europa am Scheideweg?

Ausgabe 05/2004

Am 1. Mai sind zehn weitere Länder der EU beigetreten, im Juni stehen Wahlen zum Europaparlament an. Welche Perspektiven eröffnet dies den Gewerkschaften? Fragen an Reiner Hoffmann, den stellvertretenden Generalsekretär des EGB.

Mit Reiner Hoffmann sprach Margarete Hasel.

Im Unterschied zu vielen Nichtregierungsorganisationen hat sich der EGB für den Verfassungsentwurf stark gemacht. Der ist vorerst gescheitert. Wohin marschiert Europa?
Wollen wir ein europäisches Sozialmodell, das sich deutlich abhebt von Wirtschaftsregionen wie der NAFTA und das mehr ist als nur eine Freihandelszone? Wollen wir zumindest eine politische Verpflichtung auf das Ziel der Vollbeschäftigung, und wollen wir eine Stärkung von Arbeitnehmerrechten innerhalb der Europäischen Union, wie sie mit der Übernahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag vorgesehen ist? Hier hat der Konvent unseren Vorstellungen sehr weit entsprochen. Im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge hingegen haben wir uns größere Fortschritte erhofft. Weit mehr positive Strahlwirkung könnte von einem Verfassungsvertrag freilich ausgehen, wenn die Werte und politischen Zielsetzungen nicht nur feierlich verabschiedet, sondern Grundlage von praktischer Politik werden. Trotzdem wäre mit einem Bekenntnis zum europäischen Sozialmodell viel gewonnen.

Am 13. Juni wird das neue Europaparlament gewählt. Vor fünf Jahren, bei der letzten Wahl, waren die meisten europäischen Länder sozialdemokratisch regiert. Tempi passati. Das wird sich auch auf die Zusammensetzung der neuen Kommission auswirken. Was bedeutet dies für die künftige Politik?
Die bisherigen Mehrheitsverhältnisse haben ermöglicht, dass wir in einigen Politikbereichen unsere Vorstellungen durchsetzen konnten. Insbesondere Mitte der 90er Jahre haben wir bei den Arbeitnehmerrechten Fortschritte erzielt und auch einige sozialpolitische Regulierungen hinbekommen. Wir haben heute ein Beschäftigungskapitel im EU-Vertrag und das Sozialprotokoll integriert, wir haben die Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten (EBR) sowie die Richtlinie über Informations- und Konsultationsrechte und einen Kompromiss bei der Europäischen Aktiengesellschaft. In dieser Zeit haben die Gewerkschaften auf europäischer Ebene unter anderem mit dem Sozialen Dialog auch formal an Bedeutung gewonnen. Mit einer Mitte-Rechts-Mehrheit im Parlament und einer Kommission, die deutlich anders besetzt sein wird als derzeit, wo immerhin zehn der 20 Kommissare von Mitte-Links-Regierungen kommen, wird dies ohne Zweifel schwieriger. Hinzu kommt, dass unsere Mitgliedsorganisationen auf nationaler Ebene in immer schwierigere Fahrwasser geraten.

Wie kann sich der EGB in diesem veränderten Umfeld als Akteur behaupten?
Wir dürfen nicht immer nur nach den europäischen oder nationalen Gesetzgebern schielen. Wir müssen die Instrumente, die wir entwickelt haben, künftig stärker nutzen. Nehmen wir die Europäischen Betriebsräte (EBR): Wir haben gute Gründe, eine Novellierung der Richtlinie zu fordern. Gleichwohl schöpfen wir die vorhandenen Möglichkeiten nicht aus. Wir haben bisher erst rund 700 Eurobetriebsräte, allerdings gibt es zirka 1800 Unternehmen in Europa, in denen dieses Gremium eingerichtet werden kann. Schließlich ist bekannt, dass Eurobetriebsräte durchaus in der Lage sind, ihre formalen Handlungsbedingungen über Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber deutlich über das EU-Gesetz hinaus zu erweitern. Zweites Beispiel: Tarifpolitik. Seit Anfang der 90er Jahre wissen wir, dass die Währungsunion eine stärkere Koordinierung notwendig macht. Dies kann uns keiner abnehmen - und damit auch nicht die Antwort auf die Frage, wie wir das insbesondere auf der sektoralen Ebene verbindlicher hinkriegen.

Hängt es auch mit diesen Defiziten zusammen, dass Gewerkschaften in der öffentlichen Debatte nicht als die "Verbündeten von Veränderungen” wahrgenommen werden, als die sie beispielsweise der EGB-Generalsekretär John Monks sehen möchte?
Um glaubwürdig zu bleiben, muss es uns gelingen, soziale Besitzstände zu sichern und gleichzeitig neue Arbeitnehmergruppen, aber auch die Arbeitslosen mitzunehmen. Das ist eine schwierige Balance. Besitzstandswahrung kann nicht bedeuten, dass alles bleibt wie es ist. Auch wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Systeme der sozialen Sicherung, wie wir sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, heute nicht mehr passfähig sind. Warum müssen alle mit 65 in den Ruhestand gehen? Ich könnte mir flexiblere Formen vorstellen. Wer erwerbsbedingt mit 55 Jahren ausgepowert ist, hat sich den Lebensabend verdient, wer das Rentenalter erreicht hat und gern noch fünf Jahre als Teilzeitbeschäftigter arbeiten will - warum nicht? Diese Fragen müssen wir offen und offensiv diskutieren.

Anfang April nun folgten europaweit Millionen Menschen dem gewerkschaftlichen Aufruf für ein soziales Europa. Allein in Deutschland demonstrierten über 500000 gegen die aktuelle Politik. Ist Europa also doch kampagnenfähig?
Vor allem zeigte der Erfolg, wie aktuell die Forderungen unseres Aktionsprogramms sind, das der EGB auf seinem letzten Kongress verabschiedet hat: Wir brauchen einen Stabilitätspakt, der auf Wachstum und zugleich auf Beschäftigung setzt. Sonst droht die Lissabon-Strategie zu scheitern. Die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung und die Erhöhung der Beschäftigungsquote sind in den Hintergrund getreten, Strukturreformen stehen ganz oben auf der Tagesordnung - und sind in den meisten Ländern mit Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsmärkte verbunden. Was fehlt ist ein makroökonomischer Policymix, der das dreiprozentige Wirtschaftswachstum, das Lissabon zur Voraussetzung hat, erst ermöglichen würde. Auch deswegen wollen wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer motivieren, am 13. Juni wählen zu gehen.

"Die Stimme von 60 Millionen Arbeitnehmern”, wie sich der EGB stolz bezeichnet, ist nicht immer so kräftig zu hören. Deswegen hast du unlängst gefordert, dass die gewerkschaftlichen Ressourcen in Brüssel besser gebündelt werden müssen. Was heißt das?
Das betrifft zunächst die finanziellen Ressourcen des EGB, die außerordentlich begrenzt sind. Dazu gehört aber auch eine stärkere Verpflichtung unserer Mitgliedsorganisationen, das umzusetzen, was wir gemeinsam in Brüssel diskutieren und beschließen, und deutlich zu machen, dass gewerkschaftliches Handeln heute weit mehr ist als nationales Handeln. Dies gelingt nach wir vor nur unzureichend. Die Frage muss erlaubt sein, warum wir die Ressourcen der 24 nationalen Gewerkschaftsbüros - sie entsprechen übrigens in etwa den finanziellen Ressourcen des EGB - hier in Brüssel nicht besser bündeln? Unser Handlungspotenzial wäre schon stärker, wenn die Gewerkschaftsbüros beispielsweise im Internationalen Gewerkschaftshaus unter einem Dach wären, statt verstreut über die ganze Stadt.

Michael Sommer hat unlängst in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau eingeräumt, dass die Gewerkschaften, auch in Deutschland, zu lange "nur rein nationale Politik” betrieben haben. Zugleich kündigte er an, dass sich das jetzt grundlegend ändern soll. Freust du dich?
Ich bin Realist. Wir können die nationalen Interessen unserer Mitgliedsorganisationen nicht negieren. Sie sind ja auch legitim. Letztendlich stehen die Gewerkschaften vor Ort unter unmittelbarem Handlungsdruck und müssen mit den unterschiedlichsten Interessen ihrer Mitglieder umgehen. Zum Beispiel in der Diskussion um die EU-Erweiterung: Wird Lohn- und Sozialdumping zunehmen, werden billige Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt in Konkurrenz treten zu tariflich entlohnten Arbeitnehmern? Auf diese Fragen müssen unsere Kolleginnen und Kollegen im Betrieb eine Antwort geben. Da haben wir in Brüssel es schon etwas leichter: Unsere Aufgabe besteht auch darin, die Vorteile der europäischen Integration auch für Arbeitnehmer zu betonen - und die überwiegen, auch wenn wir in vielen Einzelfällen auf der Ebene des Betriebes oder in bestimmten Branchen immer wieder damit konfrontiert werden, dass Kolleginnen und Kollegen ihren Arbeitsplatz verlieren, unter anderem weil Betriebsstätten verlagert werden.

Gleichwohl wird sich das Lebensstandardgefälle innerhalb der EU mit der Erweiterung um einiges vergrößern, vor der Gefahr eines geteilten Arbeitsmarktes wird gewarnt. Deswegen hielt sich die Begeisterung am 1. Mai, dem Tag des Beitritts, auch in Grenzen. Trotzdem unterstützten die Gewerkschaften die Erweiterung.
Bereits 1993 hat ein Bezirksleiter der IG Metall auf einer Betriebsrätekonferenz darauf hingewiesen, dass die EU-Erweiterung beispielsweise Arbeitsplätze in der deutschen Stahlindustrie gefährden wird, dass es aber trotzdem keine Alternative gibt. Denn diese Prozesse vollziehen sich in jedem Fall, weil die Unternehmen auch ohne EU-Erweiterung ihre Standorte global verlagern. Mit der Erweiterung haben wir deutlich bessere Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus dem acquis communitaire und den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Regulierungsinstrumenten ergeben.

Die Entwicklung in den neuen Bundesländern in Deutschland zeigt, dass man dafür einen sehr langen Atem braucht. Komparative Vorteile können dabei verloren gehen. Wie motiviert man Menschen, diesen Weg trotzdem mitzugehen?
Die Vorteile sind zum Teil nur kurzfristig und zum Teil nur scheinbar. Gleichwohl müssen wir uns realistischerweise darauf einstellen, dass die Disparitäten auf den Arbeitsmärkten in den nächsten Jahren nur in begrenztem Umfang abgebaut werden können. Trotzdem sollte niemand gehindert werden, in ökonomisch stärkeren Regionen Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erkämpfen - auch wenn dies nicht überall synchron erfolgen kann.

Also doch ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten?
Das europäische Sozialmodell kann nur wetterfest gemacht werden, wenn wir einen Unterbietungswettbewerb bei Löhnen und Arbeitsstandards vermeiden. Deswegen müssen wir auch über flexiblere Formen von Regulierung nachdenken, um regionalen, betrieblichen oder sektoralen Spezifika Rechnung tragen zu können. Eine europaweite Normierung von Arbeits- und Lebensbedingungen wird uns nicht gelingen und wäre auch illusorisch.

Arbeitnehmerrechte, Arbeitnehmermitwirkung bei Unternehmensentscheidungen gehören zum institutionellen Gerüst der EU. In den MOE-Staaten fehlt diese Tradition.
Hier ist nicht nur der EGB, sondern es sind alle europäischen Gewerkschaften gefordert. Verstärkt müssen Foren für den Erfahrungsaustausch über die verschiedenen Formen der betrieblichen Interessenvertretung und der Nutzung des acquis communitaire geschaffen werden. Betriebspartnerschaften, wie es sie in den grenznahen Bereichen schon gibt, müssen angestoßen werden. Wir haben im Europa der Fünfzehn erste Gehversuche in den Europäischen Betriebsräten gemacht. Jetzt kommt es darauf an, diese Erfahrungen auch in den Beitrittsländern zu fördern.

Es gibt die kühne These, dass in den neuen Mitgliedsländern mit ihren ausgedehnten gewerkschafts- und mitbestimmungsfreien Zonen die künftigen europäischen Arbeitsbeziehungen vorweggenommen werden.
Das will ich nicht hoffen, kann es aber auch nicht ausschließen. Kein Naturgesetz garantiert die Existenz von Gewerkschaften und starken betrieblichen Interessenvertretungen. Basis ist immer, was wir aus eigener Kraft zu leisten in der Lage sind.

Doch auch in Deutschland steht die Mitbestimmung unter Beschuss. Wie wirken die Angriffe aus Brüsseler Sicht?
Die Arbeitgeber wissen die Gunst der Stunde und unsere Schwächen zu nutzen. Wir haben es bisher nicht geschafft, auf den weit reichenden Strukturwandel der letzten 20 Jahre Antworten zu finden und deutlich zu machen, dass Mitbestimmung und Interessenvertretung nicht nur im klassischen Großbetrieb funktionieren. Und es gelingt uns derzeit leider nur völlig unzureichend, neue Arbeitnehmergruppen und insbesondere junge Menschen und Frauen zu gewinnen. Das ist unsere größte Schwäche - überall
in Europa.


Zur Person

Reiner Hoffmann, 48, wurde auf dem EGB-Kongress im Mai 2003 in Prag zum stellvertretenden Generalsekretär gewählt. Vor seiner Brüsseler Karriere arbeitete der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler über zehn Jahre, bis 1994, in der Hans-Böckler-Stiftung. Danach war er Direktor des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (EGI). Der begeisterte Langläufer ist Mitglied der IG BCE.

 

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