Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungVon MARGARETE HASEL: EuGH-Anhörung: Nagelprobe für die Mitbestimmung
Aufsichtsrat Ist die Unternehmensmitbestimmung, Kern des deutschen Modells der sozialen Marktwirtschaft, europarechtskonform? Darüber muss die höchste Rechtsinstanz Europas, der Europäische Gerichtshof, entscheiden. In einer Anhörung in Luxemburg am 24. Januar hat sich die EU-Kommission klar positioniert.
Von MARGARETE HASEL
„Wir haben hier heute Zustimmung zu unserer Rechtsauffassung auf breiter Ebene erfahren, von den Sozialpartnern, seitens einer Reihe europäischer Staaten wie auch von der Kommission“, kommentierte Elke Eller, Personalvorstand und Arbeitsdirektorin der TUI Group. Und betonte: „TUI bekennt sich zur Mitbestimmung und der Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat.“ Zusammen mit Vertretern von Unternehmen und Betriebsrat war sie vier spannende Stunden lang der mündlichen Anhörung gefolgt, die die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) angesetzt hat, um zu überprüfen, ob die deutsche Mitbestimmung europarechtskonform ist.
Ihr Unternehmen TUI ist Prozesspartei – „Erzberger vs. TUI, C-566/15“ ist die Rechtssache überschrieben. Denn der Kläger Konrad Erzberger, ein TUI-Kleinaktionär, sieht den TUI-Aufsichtsrat auf Arbeitnehmerseite falsch besetzt. Weil die Beschäftigten der ausländischen TUI-Töchter nicht den Aufsichtsrat der Konzernmutter wählen und für ihn kandidieren dürfen, verstoße die Mitbestimmung gegen das in Artikel 18 AEUV, des „Vertrags über die Arbeitsweise der EU“, postulierte Diskriminierungsverbot.
Außerdem, so der Kläger, werde nach Artikel 45 AEUV die Arbeitnehmerfreizügigkeit der TUI-Beschäftigten in Deutschland eingeschränkt, weil sie bei einem Arbeitsplatzwechsel ins Ausland ihr Wahlrecht verlieren – und zudem ihren Aufsichtsratssitz, sofern sie zuvor eines der zehn Arbeitnehmermandate im 20-köpfigen Kontrollgremium innegehabt haben sollten. Sein Ziel: über den Missbrauch europäischen Rechts die Abschaffung des nationalen Rechts auf Mitbestimmung. Dafür hat er zunächst vor dem Landgericht Berlin geklagt und verloren. In zweiter Instanz hat das Berliner Kammergericht noch nicht geurteilt, sondern überraschend die Frage an den EuGH weitergeleitet, ob die deutsche Unternehmensmitbestimmung in transnationalen Konzernen gegen EU-Recht verstoße. Die Berliner Richter halten das immerhin für „vorstellbar“.
Politische Bewertung der Kommission lässt aufhorchen
Die Erleichterung, die TUI-Arbeitsdirektorin Eller nach der Anhörung anzumerken war, bezog sich insbesondere auf die Ausführungen des Vertreters der Kommission. „Die deutsche Mitbestimmung ist für die Kommission ein hohes Gut und ein wichtiges politisches Ziel“, stellte der fest. Die Kommission sei der Auffassung, „dass die bestehenden deutschen Vorschriften als mit dem EU-Recht vereinbar angesehen werden können.“ Mögliche Beschränkungen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern in Europa könnten damit gerechtfertigt werden. Das interpretierten auch die zahlreichen Prozessbeobachter aus den Mitbestimmungsabteilungen der deutschen Gewerkschaften allenthalben als veritable politische Festlegung der Kommission.
Schließlich hatte sich der juristische Dienst der EU-Kommission in seiner schriftlichen Stellungnahme zum Verfahren, die im vorigen Sommer an die Öffentlichkeit gespielt wurde, noch auf die Seite des Klägers geschlagen. Er hielt die Mitbestimmungsregelungen für geeignet, „die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“ und mit EU-Recht unvereinbar erklärt „dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in den Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind“.
Die Wucht der guten Argumente
Welcher Argumentation und Sicht der Dinge sich das Gericht anschließt, ist offen. Die Fragen, mit denen der Vorsitzende Richter, der belgische EuGH-Präsident Koen Lenaerts wie auch der Berichterstatter, der Lette Egils Levits, den Kommissionsvertreter in der abschließenden Fragerunde in die Zange nahmen, könnten vermuten lassen, dass sie die Rechtsauffassung der Kommission von einem möglichen, aber vertretbaren Verstoß gegen die Freizügigkeit nicht notgedrungen teilen. Immer wieder insistierten sie – auf Deutsch übrigens, obwohl Amtssprache beim EuGH Französisch ist – auf einer Präzisierung, wo er den transnationalen Bezug erkenne, der erst einen Verstoß begründen könne.
Denn die Wucht der in der Anhörungsrunde zuvor mehrheitlich vorgetragenen guten Argumente zum Schutz eines nationalen Rechts wie der Mitbestimmung war beeindruckend. Sowohl der Stuttgarter Arbeitsrechtler Christian Arnold als Anwalt der Prozesspartei TUI sowie – für den TUI-Betriebsrat und ver.di – Marlene Schmidt, Frankfurter Anwältin und Leiterin des Hugo-Sinzheimer-Instituts, erklärten der 15-köpfigen, europäisch zusammengesetzten Großen Kammer das Besondere der deutschen Mitbestimmung. Mitbestimmung sei aus gutem Grund unionsrechtlich nicht harmonisiert – und ließe sich nicht europaweit ausdehnen, ohne in die Zuständigkeit anderer nationaler Gesetzgeber einzugreifen, führte Arnold aus.
Dahinter steht die Rechtsfigur des Territorial- oder Territorialitätsprinzips. Daraus leiteten in der Anhörung unisono auch die Vertreter der Regierungen Frankreichs, Luxemburgs, Österreichs und der Niederlande mit Beispielen aus ihrem nationalen Rechtskreis ab, dass es triftige Gründe gibt, den Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers von europäischem Recht unberührt zu lassen. „Das deutsche Mitbestimmungsgesetz ist im Ausland schlicht nicht anwendbar“, erklärte der Österreicher unumwunden; undenkbar, dass ein österreichisches Arbeitsgericht verpflichtet werden könnte, deutsche Rechtsnormen durchzusetzen. Der Vertreter Frankreichs brach eine Lanze für die „europäische Vielfalt der politischen Kulturen“ und plädierte dafür, „die Ermessensspielräume der nationalen Gesetzgeber zu wahren“ – wie dies etwa bei der Regulierung des Glücksspiels oder der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme der Fall sei. „Das muss auch für die Repräsentanz von Arbeitnehmervertretern in Unternehmensgremien gelten.“
Mehr als ein Gnadenerlass der Konzernspitze
Zentral war das Territorialprinzip auch für die Argumentation des Vertreters der Bundesregierung, Johannes Möller vom Referat Vertretung der Bundesrepublik Deutschland vor den europäischen Gerichten, das beim Bundeswirtschaftsministerium angesiedelt ist. „In 40 Jahren ist eine große Akzeptanz gewachsen“, betonte Möller – unter Hinweis auf den Gastbeitrag für das „Handelsblatt“ im September, in dem DGB-Chef Reiner Hoffmann und BDA-Präsident Ingo Kramer „in seltener Einmütigkeit“, so Möller, den Stellenwert der Mitbestimmung für die deutsche Gesellschaft und die industriellen Beziehungen betont und die Argumente von Kläger Erzberger zerpflückt hatten. Auch erinnerte er daran, dass Bundespräsident Joachim Gauck beim Festakt zum 40. Jubiläum des Mitbestimmungsgesetzes im vorigen Sommer die Mitbestimmung als ein „Kulturgut mit identitätsstiftender Wirkung“ gewürdigt hatte.
Möller übernahm es auch, dem europäischen Richterkollegium die Komplexität der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat nach deutschem Recht zu erläutern. Er sprach vom grundlegenden Akt der Einsetzung eines Wahlvorstands, von Wählerlisten, vom Sonderfall der leitenden Angestellten und er betonte die gesetzlich garantierte Unabhängigkeit dieser Wahlen von der Unternehmensleitung als substanziellen Kern der deutschen Mitbestimmung und als unverzichtbare Voraussetzung, „dass Mitbestimmung ihren demokratischen Part spielen kann“.
Deshalb sei es nicht damit getan, „dass die Konzernmutter per Erlass gnädig ein Wahlrecht einräumt“, sagte er mit Blick auf die Praxis etwa in Dänemark. Dort sind – anders als in Deutschland – die Unternehmensleitungen für die Durchführung der Wahlen von Arbeitnehmervertretern in den Verwaltungsrat zuständig und verantwortlich, an den Gremienwahlen teilnehmen könnten auch Arbeitnehmer dänischer Unternehmen im Ausland – etwa die Beschäftigten in ausländischen Niederlassungen. Gedankenspielen, die in einer Übertragung des dänischen Systems eine Lösung sehen, erteilte er eine klare Absage: „Wir können nicht verpflichtet werden, ein völlig anderes Verständnis von Mitbestimmung zugrunde zu legen, nur weil es dann vermeintlich leichter wäre.“
Einzig Erzbergers Anwalt Caspar Behme – und an seiner Seite die Vertreterin der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA aus Norwegen – sahen das anders. „Die grenzüberschreitende Ausrichtung der Mitbestimmungsregelungen ist rechtlich möglich“, postulierte Behme. Problemlos könne der deutsche Gesetzgeber das Wahlrecht erstrecken, „ohne die Souveränität der Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.“ Was er nicht sagte: Wenn das gelänge, hätte der Kläger Recht bekommen. Und die Mitbestimmung wäre in ihrer Substanz abgeschafft.
Doch auch EuGH-Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe aus Dänemark schien von Möllers Argumenten nicht recht überzeugt. Immer wieder löcherte er den Vertreter der deutschen Regierung in der abschließenden Fragerunde, warum in Deutschland ein Problem sei, was in Dänemark offenkundig funktioniere. Oder in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Aber da hatte er wohl gerade nicht auf dem Schirm, dass um die Arbeitnehmerbeteiligung in der SE über 30 Jahre gestritten und verhandelt wurde, ehe der Kompromiss europäisches Gesetz werden konnte.
Wie es weitergeht
Seinem Schlussantrag, den er für den 4. Mai ankündigte, räumen EuGH-kundige Prozessbeobachter traditionell großes Gewicht ein. Im Frühherbst dann könnte das EuGH-Urteil an das Berliner Kammergericht überstellt werden, mit dessen Beschluss, die deutsche Mitbestimmung vom EuGH auf ihre Europarechtskonformität überprüfen zu lassen, das Verfahren im Oktober 2015 begann.
„Auch beim denkbar besten Ausgang des TUI-Verfahrens am EuGH müssen wir zuhause und auf europäischer Bühne politisch am Ball bleiben“, kommentiert Mitbestimmungsexperte Norbert Kluge von der Hans-Böckler-Stiftung den aktuellen Stand des Verfahrens. „Für uns ist klar: Nur wenn wir starke Modelle der Mitbestimmung wie in Deutschland, aber auch in Dänemark, Schweden, Norwegen oder Österreich haben, bekommen wir eine starke europagesetzliche Mindestregelung für die Stimme der Arbeitnehmer in Aufsichts- und Verwaltungsräten überall in Europa, wie sie der Europäische Gewerkschaftsbund EGB schon seit zwei Jahren fordert“, mahnt er den europäischen Gesetzgeber.
Fotos: Gerichtshof der Europäischen Union, Stephan Pramme
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