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Mobiles Demokratielabor der Initiative „Gesicht zeigen!“ an der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule in Moabit. Magazin Mitbestimmung

Schule: Demokratisch, praktisch und gut für alle

Ausgabe 01/2024

Die Wissenschaft weiß, wie eine demokratische Schule funktioniert. Doch im Alltag scheitert echte Beteiligung an vielen Hürden. Angesichts der politischen Lage höchste Zeit, sie aus dem Weg zu räumen. Von Fabienne Melzer

Das nennt man wahrscheinlich Vorführeffekt: Da wollten sich die angehenden Lehrkräfte freien Unterricht anschauen, und ausgerechnet in dieser Woche hatten die Kinder in Falko Peschels Klasse beschlossen, dass sie frontal unterrichtet werden wollen. Die Episode liegt schon lange zurück, aber Falko Peschel erinnert sich auch deshalb so gerne daran, weil sie viel über seinen Unterricht aussagt.

Freier Unterricht heißt für Falko Peschel nicht Wochenplan, stundenweise Freiarbeit oder Stationenlernen. „Kinder merken sehr schnell, ob es ernst gemeint ist, dass sie selbst bestimmen können“, sagt Peschel. In seinem Unterricht entscheiden die Kinder, was sie wann und wie lernen. „Wichtig ist die gemeinsame Basis“, sagt Peschel. Und die lautet: „Wir sind hier, um zu lernen.“ Dreimal am Tag treffen sie sich im Kreis, bestimmen einen unter sich zum Kreisleiter, tragen vor, was sie machen wollen oder gemacht haben, klären Fragen und Konflikte. Sie können Frontalunterricht wählen oder die Kreisbesprechungen abwählen. Was demokratisch ausgehandelt wurde, wird gemacht.

Seit mehr als 20 Jahren unterrichtet Falko Peschel nach seiner Methode, zunächst im Köln-Bonner Raum und seit 2009 an seiner eigenen Schule in Ostwestfalen. Immer mit den gleichen Ergebnissen: Überdurchschnittlich viele Kinder wechselten auf das Gymnasium, Kinder, die schon als unbeschulbar abgestempelt worden waren, integrierten sich wieder, und alle Themen des Lehrplans wurden bearbeitet.

Demokratiebildung findet in deutschen Schulen zu spät, zu wenig und vor allem zu wenig auf Ebene der Schule selbst statt.“

Martina Schmerr, Referentin für den Bereich Schule beim GEW-Vorstand

Der ideale Ort

Demokratisches Handeln lernen Menschen in sozialen Zusammenhängen, und dafür eignet sich kaum ein Ort besser als die Schule. Unterricht bringt Kinder unterschiedlichster Herkunft über Jahre täglich zusammen. Doch das Potenzial wird oft nicht genutzt. Martina Schmerr und Elina Stock von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sehen in der Dreigliedrigkeit und im Leistungsgedanken die größten Hürden für ein Schulsystem, in dem Kinder ihr Lernen selbst bestimmen. „Demokratiebildung findet in deutschen Schulen zu spät, zu wenig und vor allem zu wenig auf Ebene der Schule selbst statt“, sagt Martina Schmerr, Referentin für den Bereich Schule beim GEW-Vorstand.

In ihrer derzeitigen Struktur ist Schule nicht demokratisch. Lehrpläne geben die Themen vor, Lehrkräfte gestalten den Unterricht und vergeben Noten. „Die standardisierte Leistungsorientierung setzt der Demokratiebildung Grenzen“, sagt Elina Stock, Referentin im Vorstandsbereich Vorsitzende. In einem System, in dem Kinder vermessen werden und bewertet werden müssen, ob sie für den einen oder anderen Bildungsweg geeignet sind, bleibt kaum Zeit und Raum für soziales Lernen, Selbstbestimmung und freie Entfaltung.
 

Aufregung um Steuererklärung

Demokratiebildung kann auf zwei Ebenen stattfinden – implizit, wie in der Schule von Falko Peschel, oder explizit, im Politik- oder Geschichtsunterricht. Daher heißt es oft: Demokratiebildung macht der Gesellschaftskundelehrer ab der 8. Klasse und für zwei Stunden pro Woche. Selbst das hängt allerdings davon ab, auf welcher Schule ein Kind gelandet ist, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. Danach erhielten 2019 an Gymnasien 55 Prozent in den Klassen 9 und 10 Politikunterricht, an anderen allgemeinbildenden Schulen nur 44 Prozent. Während in der gymnasialen Oberstufe das Fach zwei bis drei Stunden pro Woche unterrichtet wurde, war es an Berufsschulen nur eine Stunde.

Auch dieser magere Teil schrumpft, sagt Martina Schmerr: „Politikunterricht wurde eher noch abgebaut zugunsten ökonomischer Bildung.“ Besonders symptomatisch findet sie die Diskussion über die Steuererklärung und die Aufregung darüber, dass Schule so etwas Kindern nicht beibringt. Wenn Schule zur Serviceagentur für den Arbeitsmarkt und zum Aufbau von Alltagsfähigkeiten verkümmere, bleibe Demokratielernen zwangsläufig auf der Strecke. Wissen über Bundestag und Bundesrat, Gewaltenteilung und Föderalismus allein macht aber aus kleinen Menschen noch keine großen Demokraten. „Demokratiebildung ist eine Querschnittsaufgabe“, sagt Elina Stock. „Das funktioniert nur, wenn Schule in ihrer Struktur, Kultur und Qualität demokratisch-partizipativ weiterentwickelt wird.“

Es ist schön, zu sehen, wie Kinder und junge Menschen aufblühen, wenn sie wirklich mitreden können.“

Jan Vorpahl, Lehrer an der Berliner Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule

Schulgesetze erlauben ausdrücklich, Kinder über Unterrichtsinhalte und Leistungsbewertung mitbestimmen zu lassen. Doch für Demokratiebildung brauchen Lehrkräfte Zeit und Ressourcen. Jan Vorpahl nimmt sie sich. Er unterrichtet in Teilzeit Deutsch und Geschichte an der Berliner Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule. In der restlichen Zeit kümmert er sich um demokratische Schulentwicklung. Demokratie heiße ja nicht einfach: Die Mehrheit bestimmt. Demokratie nimmt auch auf Meinungen von Minderheiten Rücksicht. „Das ist anstrengend und kostet Zeit“, sagt Vorpahl, „aber es lohnt sich.“ Nicht in Heller und Pfennig, sondern viel besser: „Es ist schön, zu sehen, wie junge Menschen aufblühen, wenn sie wirklich mitreden können“, sagt Vorpahl.

2021 hat sich die Gemeinschaftsschule auf den Weg zur demokratischen Schule gemacht. Unter ihrem Dach lernen Kinder von der ersten Klasse bis zum Abitur. Damit fällt schon ein Demokratiehindernis weg: Nach der vierten Klasse wird nicht sortiert. Doch die Schule wollte mehr – mehr Beteiligung von allen an allen schulischen Prozessen, Beteiligung von Lehrkräften, Kindern und ihren Eltern. Dazu setzten sich die Gruppen im vergangenen Herbst zusammen und schrieben auf, was ihnen an der Schule gefällt und was sie ändern würden. Nun wird geprüft, was sich wann und wie umsetzen lässt. Eins gehört auch zu einer demokratischen Schulkultur: „Wer sich beteiligt, möchte auch sehen, dass zumindest ein Teil seiner Vorschläge umgesetzt wird“, sagt Vorpahl. Da sei man schon einen Schritt vorangekommen. So hatte eine Gruppe das Mensaessen bemängelt. Das ließ sich nicht sofort ändern, aber es gibt nun eine Koch-AG, die Alternativen anbietet. Auch für Jan Vorpahl zahlt sich die Arbeit aus: „Ich bin viel zufriedener in meinem Job.“

  • Im Demokratielabor bauen Schülerinnen und Schüler mit Lehrer Jan Vorpahl an ihrer idealen Schule.
    Im Demokratielabor an der Berliner Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule bauen Schülerinnen und Schüler mit Lehrer Jan Vorpahl an ihrer idealen Schule.

Es gibt die Leuchttürme

Rund 70 demokratische Schulen nach dem Sudbury-Modell zählt Martin Nanzig vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik, weltweit, rund eine Handvoll davon in Deutschland. „Die Leuchttürme zeigen, dass Demokratie in der Schule funktioniert“, sagt Nanzig, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal im Bereich Berufsbildungsforschung arbeitet. Falko Peschel hat über seine Arbeit Bücher geschrieben, an Universitäten unterrichtet und in der Lehrerfortbildung gearbeitet. Dabei hat er oft die Erfahrung gemacht: „Alle finden freien Unterricht toll, aber fast jeder findet Gründe, warum es nicht geht. Die Schulaufsicht sagt: Das funktioniert mit unseren Schulleitungen nicht. Die Schulleitung sagt: Das funktioniert mit unseren Lehrkräften nicht, die Lehrkräfte sagen: Das funktioniert mit unseren Schulleitungen und der Schulaufsicht nicht.“ Dabei müssten Lehrkräfte nicht gleich das volle Programm übernehmen. Sie könnten den Kindern zu Beginn vorstellen, was im nächsten halben Jahr in ihrem Fach ansteht, und sie entscheiden lassen, wie sie sich den Inhalt erarbeiten wollen. Falko Peschel versteht ohnehin nicht, warum man Kindern nicht sagt, was im Schuljahr auf sie zukommt. „Kein Erwachsener würde sich so behandeln lassen.“

An der Uni Wuppertal bietet Martin Nanzig ein Seminar „Demokratiepädagogik in der Schule“ an. Er vermittelt Methoden wie die Einrichtung eines Klassenrats, eine Art Schülerparlament, das über Themen und Probleme berät und entscheidet. Nanzig sieht kleine positive Veränderungen. Viele Schulen seien methodisch inzwischen breiter aufgestellt, aber von einer
flächendeckenden Demokratisierung könne man nicht sprechen. „Schule hat die Aufgabe zu selektieren“, sagt Nanzig. Das funktioniert nicht demokratisch. Dabei weiß die Wissenschaft theoretisch, wie Demokratie in der Schule gelernt werden kann.

Die Kinder merken sehr schnell, ob es ernst gemeint ist, dass sie selbst bestimmen können.“

Falko Peschel, Schulleiter Bildungsschule Harzberg

Weniger Streit, weniger Arbeit

Doch selbst wer mit dem nötigen Wissen von der Uni an die Schule kommt, scheitert oft an Problemen des Alltags. Personalmangel, Zeitnot und Bürokratie bestimmen den Arbeitstag vieler Lehrkräfte. Demokratieschulen wirken auf Menschen, die klassischen Unterricht erlebt haben, häufig befremdlich. So müssen Lehrkräfte oft auch die Eltern erst einmal gewinnen. Dafür brauchen sie Zeit. Eine demokratische Schule würde Lehrkräfte aber auch entlasten. Wenn Kinder und Jugendliche mitbestimmen, auch das zeigen die Leuchttürme, gibt es weniger Streit und Ärger im Unterricht, weniger Störungen – und damit weniger Arbeit für das Kollegium.

Davon können nicht nur Lehrkräfte profitieren, sondern auch die Gesellschaft. „Wir wünschen uns eine Bevölkerung mündiger Demokraten“, sagt Nanzig. „Aber viele lernen es nicht in der Schule, und wenn sie Pech haben, gibt es auch am Arbeitsplatz keine demokratische Beteiligung.“ Demokratie bekommt aber niemand in die Wiege gelegt, sie will gelernt werden. Angesichts aktueller Wahlprognosen hofft Martina Schmerr auf Bewegung in der Bildungspolitik – weg von der Lehrplanfixierung im 45-Minutentakt hin zu gelebter Demokratie.

Ganz demokratisch entschieden sich übrigens die Kinder in Falko Peschels Klasse damals nach einer Weile, den Frontalunterricht wieder aufzugeben. Auch im Interesse des Lehrers, wie ein Zweitklässler feststellte: „Das war voll blöd. Da musste der Peschel alles allein machen.“

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