Quelle: Anna Diechtirow
Magazin MitbestimmungArbeitsmarkt: Es mangelt an allen Ecken und Enden
Sechs Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in Kitas, Schulen und Hochschulen. Dazu kommen noch einmal 1,3 Millionen in der staatlichen und betrieblichen Weiterbildung. Die Politik hat Bildungsansprüche ausgeweitet. Doch überall fehlen Fachkräfte. So arbeiten die meisten unter hoher Belastung und mangelhaften Bedingungen. Von Annette Jensen
Am Limit
20 Jahre lang arbeitete Birgit Müller im internationalen Bankgeschäft. Dann fing sie in einer Berliner Kita an. Damit wechselte sie nicht nur den Beruf, sondern auch die Gehaltsklasse. Ihr monatliches Einkommen schrumpfte gewaltig. Für sie ein sicheres Zeichen, wie wenig Bildungsarbeit mit kleinen Kindern in Deutschland immer noch wertgeschätzt wird. Dabei liege gerade in der Vorschulpädagogik der Schlüssel, ungerecht verteilte Bildungsvoraussetzungen auszugleichen. „Wir legen die Grundlagen, wie Kinder in der Schule und im Leben zurechtkommen“, sagt die Berliner Kita-Leiterin.
800 000 neue Kita-Plätze wurden in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland geschaffen. Trotzdem übersteigt die Nachfrage das Angebot deutlich. Nach Berechnungen von Verdi fehlen bereits jetzt 170 000 Beschäftigte in den Kitas. Der DGB fordert daher eine Fachkräfteoffensive von Bund und Ländern. Um mehr Menschen für Sozial- und Erziehungsberufe zu gewinnen, müssten die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verbessert werden. Dazu gehören eine kostenfreie und vergütete Ausbildung, attraktive Tarifgestaltung mit guter Bezahlung sowie Weiterbildung mit Entwicklungsmöglichkeiten.
Davon ist die Wirklichkeit weit entfernt. In Corona-zeiten war manchmal eine Erzieherin für 25 Kinder verantwortlich. Doch auch in normalen Zeiten reicht die Personaldecke oft nicht aus für individuelle Förderung, bedürfnisorientierte Betreuung und fachgerechte Dokumentation. Rechnerisch ist in Deutschland eine Fachkraft für 8,2 Kinder ab zwei Jahren zuständig. Der Ausfall durch Krankheit und Urlaub wird fast überall zu knapp angesetzt, Vor- und Nachbereitungszeiten fallen oft dem Lückenstopfen zum Opfer. Etwa ein Viertel der Berufsanfängerinnen steigt binnen fünf Jahren wieder aus.
Im Frühjahr hatte Verdi zum Streik aufgerufen, Zehntausende versammelten sich auf den Straßen unter dem Motto: „Wir sind am Limit!“ Sie forderten vor allem Entlastung. Zwei Regenerationstage und mehr Lohn, besonders am unteren Ende, konnten vereinbart werden. Am Personalmangel im Alltag aber ändert das erst einmal nichts.
Gefahr, zu verbrennen
Eine ähnliche Bilanz zieht Anja Bensinger-Stolze, Leiterin des Bereichs Schulen bei der GEW, für die Lehrkräfte: „Der Lehrkräftemangel treibt die Belastungen an den Schulen in die Höhe. Wir kommen jetzt an Grenzen.“ Seit zehn Jahren hat ihre Gewerkschaft auf den drohenden Mangel hingewiesen, nun kann auch die Politik ihn nicht mehr leugnen. Mit Seiten- und Quereinsteigenden sollen die Lücken gefüllt werden.
Für Grundschullehrerin Manuela Stahn aus Berlin-Spandau bedeutet das viel zusätzliche Arbeit. Viele neue Kräfte seien ja superengagiert, aber ihnen fehle einfach die Unterrichtserfahrung. „Manchmal lerne ich jedes halbe Jahr jemanden neu an.“ Nur ein paar Kilometer entfernt leitet Sven Olsok-Becker eine Grundschule in einem Viertel, das oft als Brennpunkt bezeichnet wird. Nur etwa 80 Prozent des Kollegiums sind ausgebildete Lehrkräfte. An Köpfen mangele es nicht. „Aber bei Fragen der Schulentwicklung kann ich beispielsweise die Studierenden nicht einbinden. Außerdem besteht immer die Gefahr, junge Leute zu verbrennen, wenn sie zu viel und zu früh an vorderster Front arbeiten.“
Hinzu kommen immer mehr Zusatzaufgaben. Corona hat deutlich gemacht, welchen Nachholbedarf es im Bereich Digitalisierung gibt – doch es fehlt an IT-Administratoren für die Schulen. Auch die Gespräche mit den Eltern, mit Inklusionsstellen und Jugendhilfe fressen Zeit. „Wir müssen extrem viel dokumentieren, damit Kinder zum Beispiel Lernförderung bekommen“, erzählt Manuela Stahn. Schulen sollen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. Wie sehr Lehrkräfte dabei differenzieren müssen, ist von Schule zu Schule unterschiedlich und hängt meist vom sozialen Umfeld ab. Daher fordert der DGB, Schulen in schwierigen Lagen besser auszustatten als andere, damit sie Klassen verkleinern und Förderangebote ausbauen können.
Die Landesregierung in Baden-Württemberg wollte dem Mangel dagegen durch weniger Teilzeit begegnen – was den Teufelskreis von Überlastung und Personalmangel wohl weiter angeheizt hätte. Berlin denkt lieber über die Kürzung der Stundenpläne nach, und Sachsen-Anhalt kürzt die Unterrichtsstunden um fünf Minuten.
Immer wieder versuchen die Länder, Lehrkräfte aus anderen Teilen der Republik abzuwerben. Statt sich gegenseitig Konkurrenz zu machen, fordert der DGB, bundesweit mehr in die Lehrkräftegewinnung zu investieren. Studienplätze für das Lehramt müssten ausgebaut und die Studienbedingungen verbessert werden. „Die Kultusministerkonferenz müsste endlich gemeinsam vorgehen“, verlangt GEW-Frau Bensinger-Stolze. Kurz vor den Sommerferien hat die KMK eine Kommission beauftragt, die Vorschläge erarbeiten soll.
Hanna organisiert sich
Dieser Schuss ging nach hinten los: Im Sommer 2021 rechtfertigte das Bundesbildungsministerium die unsicheren Arbeitsverhältnisse an deutschen Hochschulen mit einem Erklärvideo, in dem die Comicfigur Hanna die Vorteile der befristeten Verträge für wissenschaftliche Beschäftigte lobte. Die Empörungswelle überrollte das Ministerium binnen kürzester Zeit. 130 000 junge Universitätsbeschäftigte posteten ihre Biografien unter: #IchBinHanna. Wenig später entstand mit Unterstützung von GEW und Verdi #HannaOrganisiertSich.
Wissenschaftliche Mitarbeitende übernehmen inzwischen den allergrößten Teil der Lehre. Mehr als 90 Prozent haben nur befristete Arbeitsverträge. Begründet wird das damit, dass viele an ihrer Dissertation schreiben, und dies gilt noch als Qualifizierungsphase. Doch zum einen ist die durchschnittliche Vertragsaufzeit von weniger als zwei Jahren zu kurz für eine Doktorarbeit. Zum zweiten hat auch kaum jemand der sogenannten Postdocs eine Dauerstelle, weil es zu wenig Geld für die Lehre gibt – aber auch zu wenig Bereitschaft der Hochschulen, verlässliche Arbeitsverträge zu vergeben.
Christine Schulmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Personalrätin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg (HAW), berichtet: „Die Lage der meisten Lehrenden ist hochprekär, und sie arbeiten viel mehr als vertraglich vereinbart.“ Beschäftigte mit einer Promotionsstelle widmen je nach Stelle offiziell einen Teil der Arbeitszeit ihrer Doktorarbeit und einen Teil der Lehre. Tatsächlich aber müssten die meisten fast vollständig in ihrer Freizeit forschen.
Daher bewertet der DGB die letzte Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes als nicht ausreichend. Er fordert eine Überarbeitung, die wissenschaftliche Karrieren planbar macht und mehr Dauerstellen schafft. Die Ampelregierung will bis Jahresende eine Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes vorlegen. Sonja Staack von Verdi blickt ihr verhalten entgegen: „Wir sind alle sehr gespannt und erwarten eine intensive Debatte.“
Eine Frage der Qualität
Digitalisierung, Strukturwandel und Fachkräftemangel machen Qualifizierung in vielen Branchen zur Zukunftsfrage. Alle finden berufliche Weiterbildung wichtig. Weniger wichtig scheinen die Arbeitsbedingungen und die Einkommen der Beschäftigten in der staatlich finanzierten Weiterbildung. Wer einen Kurs im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit leitet, verdient aktuell oft 1.000 Euro weniger als Lehrkräfte, die nach Tarif im öffentlichen Dienst bezahlt werden. Auch lange Berufserfahrung zählt hier nicht. Hinzu kommt, dass 30 bis 40 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse sachgrundlos befristet sind. Arnfried Gläser von Verdi beobachtet, wie sich die Lage weiter verschärft. „Weil im öffentlichen Schulsystem Fachkräftemangel herrscht, saugen die allgemein- und berufsbildenden Schulen viele Lehrkräfte aus der beruflichen Weiterbildung ab.“ Doch gute Weiterbildung ist für den DGB eine Frage der Qualität. Daher fordert er einheitliche Standards, die Anbieter anhand ihrer Ausstattung, ihres Erfolgs und der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten bewerten und auswählen.
Immerhin konnten Verdi und GEW vor zehn Jahren erstmals einen tariflichen Mindestlohn nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz für das pädagogische Personal in der beruflichen Weiterbildung erreichen. Bis 2026 wird sich das Niveau im Osten um mehr als 85 Prozent und im Westen um gut 65 Prozent erhöht haben. Doch etwa die Hälfte des pädagogischen Personals arbeitet in der öffentlich geförderten beruflichen Aus- und Weiterbildung noch immer auf Honorarbasis – und viele erhalten, umgerechnet, nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Die Vor- und Nachbereitungszeit des Unterrichts ist der Vergabepolitik in den letzten 20 Jahren zum Opfer gefallen. Der DGB fordert, nicht nur diese Zeiten zu vergüten, auch müsse die Bezahlung insgesamt verbessert und unsichere Beschäftigung abgebaut werden.
Denn unter den derzeitigen Bedingungen steigen viele aus, weiß Ralf Grieger, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei der Deutsche Angestellten-Akademie (DAA): „Bei uns liegt die Fluktuation der Beschäftigten bei 25 bis 30 Prozent im Jahr.“ Das Unternehmen ist mit etwa 4000 Beschäftigten einer der wenigen Großen unter den insgesamt 3200 Trägern, die Maßnahmen für die Bundesagentur übernehmen. „Die Personaldecke wird immer kürzer, und das bedeutet Abstriche bei der Qualität, Arbeitsverdichtung und unbezahlte Überstunden“, fasst Grieger zusammen. Ständig müssten neue Beschäftigte eingearbeitet werden, während zugleich Wissen aus den Organisationen abfließt. „So schräg das ist: Der Krankenstand bei uns wird gar nicht systematisch erfasst“, sagt der Betriebsrat. Dass die Quote hoch sei, ließe sich jedoch an der steigenden Zahl von betrieblichen Eingliederungsmaßnahmen ablesen. Seinem Arbeitgeber wirft Grieger das nicht vor. „Ein wirtschaftlicher Betrieb mit anständigen Löhnen und Arbeitsbedingungen ist bei den Preisvorgaben der Bundesagentur für Arbeit nicht möglich.“