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Magazin Mitbestimmung

: Erinnerungen an einen intellektuellen Aufbruch

Ausgabe 04/2010

ZUKUNFTSDEBATTE 20 Jahre nach Erscheinen von "Jenseits der Beschlusslage" des Hattinger Kreises diskutieren Gewerkschafter und Wissenschaftler über die Wirkungen des provokanten Gutachtens. Von Andreas Molitor

ANDREAS MOLITOR ist Journalist in Berlin/Foto: Peter Frischmuth

Der Mittsechziger mit der schwarzen Aktentasche in der ersten Reihe hört aufmerksam zu. Vom Podium spricht ein Mann, der weiß, was der Niedergang der Arbeiterbewegung konkret bedeutet. John Monks, der Generalsekretär des EGB und frühere Chef des britischen TUC, musste in bitteren Jahren unter konservativer Regentschaft erleben, wie die Gewerkschaften marginalisiert wurden. "I hope you're not feeling too suicidal", irritiert er freundlich lächelnd seine Hamburger Zuhörer. Derart feiner britischer Sarkasmus lässt sich kaum übersetzen. Wer es dennoch versucht, bekommt etwas wie: "Ich hoffe, Sie sind nicht allzu sehr in Selbstmordstimmung."

Dem Mienenspiel des Mannes in der ersten Reihe konnte man entnehmen, dass er sich da nicht so sicher war. Fröhlicher Optimismus sieht jedenfalls anders aus. Vielleicht war er aber auch nur in Gedanken - zwei Jahrzehnte zurück. Damals hatte er, der Arbeits- und Sozialrechtler Ulrich Mückenberger, im Verein mit 17 anderen gewerkschaftsnahen Wissenschaftlern - allesamt Vertrauensdozenten der Hans-Böckler-Stiftung, darunter der kürzlich verstorbene Politologe Jürgen Hoffmann - und Reiner Hoffmann, dem damaligen Leiter der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung ein Gutachten unter dem Titel "Jenseits der Beschlusslage"* vorgelegt. Dessen Langzeitwirkung wurde kürzlich, zum 20. Jubiläum, in Hamburg von einer guten Hundertschaft hochrangiger Gewerkschafter und Wissenschaftler begutachtet. Die Latte lag hoch, denn mit ihrer 1990 vorgelegten Streitschrift wollten die Autoren die Gewerkschaften aufrütteln und herausführen aus der intellektuellen Defensive.

PROVOKATION UND PROGRAMM_ Der Titel der Expertise war Provokation und Programm zugleich. Er impliziert, dass die erhofften Impulse über das manchmal enge Korsett der Beschlusslage von Gewerkschaftskongressen hinausweisen. In Gewerkschaftskreisen wurde "Jenseits der Beschlusslage" rasch zum geflügelten Wort.

Die Idee zum Gutachten war entstanden, nachdem konservative Vordenker wie Kurt Biedenkopf, Lothar Späth und Meinhard Miegel die Deutungshoheit über die sich in den 80er Jahren abzeichnenden gesellschaftlichen Umbrüche übernommen hatten, die sich am treffendsten unter dem Schlagwort "Individualisierung" zusammenfassen lassen: Der Einzelne löst sich heraus aus traditionellen Sozialbeziehungen, aus Schicht, Klasse, Religion und Milieu. Nun ist ein jeder aufgefordert, seinen eigenen Lebenslauf zu schmieden. Die konservative Intelligenz hatte die Individualisierung in ihrem Sinne instrumentalisiert und einen Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit konstruiert. Das verkrustete und überkommene Sicherheitsdenken schränke die Entfaltung der persönlichen Freiheiten ein - so war die Argumentation, die bei vielen verfing.

Die Gewerkschaften befanden sich in Argumentationsnot. Individualisierung, das war für sie gleichbedeutend mit einer vom Egoismus regierten Welt ohne Moral und ohne Solidarität mit den Armen und Schwachen. Doch mit ihren traditionellen Politikmodellen drohten sie die Zukunftsfähigkeit zu verlieren. Aus einer Reihe von Workshops im DGB-Bildungszentrum in Hattingen entstand deshalb 1987/88 die Idee zu einem "Gegengutachten" im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Das Autorenkollektiv, das sich in Anlehnung an die Tagungsstätte "Hattinger Kreis" nannte, wollte belegen, "dass Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze sind, sondern dass ein Grund-sockel an Sicherheit nötig ist, um sich in der individualisierten Gesellschaft frei entscheiden zu können" - so beschreibt Ulrich Mückenberger den damaligen Ansatz.

Die Ende 1989 fertiggestellte und ein Jahr später als Buch veröffentlichte Analyse war allerdings nicht nur eine Replik auf die konservativen Meinungsführer; genauso kratzte sie am gewerkschaftlichen Selbstverständnis und zerpflückte die traditionellen Denk- und Deutungsmuster.

EROSION UND UMBRUCH_ Im Zentrum der "Beschlusslage" stand das "Normalarbeitsverhältnis" als Dreh- und Angelpunkt gewerkschaftlichen Handelns. Der "Normalarbeiter" ist, vereinfacht ausgedrückt, ein männlicher, vollzeitbeschäftigter (Fach-)Arbeiter in der verarbeitenden Industrie. Er repräsentiert idealtypisch die deutsche Industriegesellschaft der 60er und 70er Jahre.

In den 80ern jedoch war die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses bereits in vollem Gange. Individueller Wertewandel und wirtschaftlicher Strukturwandel - von der Fabrikarbeit zu Dienstleistungen - hatten die Vollzeit-Lohnarbeit als alleinigen und erstrebenswerten Mittelpunkt des Lebens infrage gestellt. Neue Beschäftigungsformen waren längst auf dem Vormarsch: Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung, Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, (Schein-)Selbstständigkeit.

Ein Festhalten an der Illusion der Arbeitswelt von gestern erschien dem Autorenkollektiv als reine Nostalgie - und zudem alles andere als erstrebenswert. "Wir haben deutlich gemacht, dass hinter dem Normalarbeitsverhältnis auch ein patriarchalisches Lebensmodell steht", erklärt Mückenberger, "es zementiert die Geschlechterteilung, und es berücksichtigt weder Hausarbeit noch Erziehungszeiten." Die "Hattinger" sahen die Gewerkschaften nun in der "Rekrutierungsfalle": Die gewerkschaftliche Mitgliederstruktur bildete das Beschäftigungsgefüge einer schwindenden Industriegesellschaft ab. "Mit dem Wegbrechen des Normalarbeiters drohte nun auch das Rückgrat der Organisation wegzubrechen.".

Der Hattinger Kreis verordnete einen Paradigmenwechsel. Gewerkschaften sollten sich "das Dogma nicht aufdrängen lassen, dass, wer freier und nach seinen Lebensbedürfnissen leben will, auch mehr soziale Unsicherheit in Kauf nehmen muss". Es mache keinen Sinn, die unaufhaltsame Individualisierung zu leugnen oder zu verdammen; man müsse sie mitgestalten - damit die Welt der neuen Freiheiten nicht eine nur für die Individualisierungs-Balletteusen werde, die leichtfüßig von Option zu Option tänzeln. Außerdem täte eine gewerkschaftliche Kümmerungs-Offensive not - in Richtung Frauen, Jüngere, Hochqualifizierte, Teilzeit-Beschäftigte und Zeitarbeiter. Nicht zuletzt seien Politikformen zu entwickeln, die "hochgradig experimentell und beteiligungsorientiert" sein sollten. Starke Worte.

MEGA-TRENDS RICHTIG BESCHRIEBEN_ Die Reaktion schwankte zwischen wohlmeinendem Interesse, Zustimmung und schroffer Abwehr. Der damalige DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer sei für die Gedanken der "Beschlusslage" durchaus aufgeschlossen gewesen, erinnert sich Mückenberger. Die Autoren saßen einige Male mit Meyer zusammen, der auch das Vorwort zum Buch schrieb. Aber der DGB-Chef musste auch die Traditionalisten einbinden. Viele Anregungen aus dem Gutachten, erinnerten sich Beteiligte von damals auf dem Hamburger Symposium, sollten weisungsgemäß ausdrücklich nicht Beschlusslage werden.

Von manchen wurde das Gutachten als theoretische Unterfütterung von Arbeitgeber-Positionen interpretiert, andere wiederum kritisierten, dass die Systemfrage nicht thematisiert worden war. So manchem gestandenen Gewerkschaftskämpen stieß sicher auch der professorale und imperative Duktus der "Beschlusslage" säuerlich auf. "Muss" und "müssen" sind ständige Begleiter der Lektüre.

Doch wie steht es um die langfristige Wirkung? Haben die Autoren recht behalten mit ihren Prognosen? Sind ihre Empfehlungen in die gewerkschaftliche Praxis diffundiert? Oder zählen sie heute zur Kategorie "Exotisches aus dem Elfenbeinturm", in dem ältere Professoren sich behaglich zurücklehnen und gegenseitig bestätigen, dass die Welt besser wäre, wenn man nur auf sie gehört hätte?

Auf dem Hamburger "Beschlusslage"-Kongress blieb es dem Vorsitzenden der IG BCE vorbehalten, eine Lanze für den Hattinger Kreis und sein bedeutendstes Werk zu brechen. "Am bemerkenswertesten ist vielleicht, dass keiner der beschriebenen Megatrends sich als falsch erwiesen hat", konstatierte Michael Vassiliadis. Die Gewerkschaften stünden "weiter vor den gleichen und sogar noch vor schärferen Herausforderungen und zugespitzten Konflikten". Am deutlichsten wird das bei der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. So ist mittlerweile jeder zehnte Arbeitnehmer nur befristet beschäftigt, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen hat sogar jeder Vierte einen Vertrag mit Verfallsdatum. Aber auch die Risiken eines ungehemmten globalen Spekulationskapitalismus hatten die Autoren vorhergesehen. "Wenn die produktive Basis der Ökonomie im Rausch der Finanzspekulation desintegriert oder gar zerstört wird, dann werden die ‚Äste abgesägt‘, an denen die ‚Früchte‘ (Zinsen) des Kapitals reifen sollten", heißt es im Gutachten. Kritik - als Fragen verkleidet - richtete Vassiliadis einzig an die damaligen Adressaten des Gutachtens. "Haben wir uns nicht richtig oder nicht schnell genug bewegt?" "Haben wir wichtige Aspekte unterschätzt oder sogar übersehen?" Der Mann in der ersten Reihe nickte leise.

WACHSENDE KULTURELLE KLUFT_ Es war nie Zeit, in Ruhe die Empfehlungen der "Beschlusslage" abzuarbeiten, zu diskutieren, abzuwägen, in Beschlüsse zu gießen. Fast zeitgleich mit dem Abschluss des Gutachtens fiel die Mauer. Neun Millionen DDR-Gewerkschaftsmitglieder mussten integriert, eine völlig neue Organisation im Osten Deutschlands aufgebaut werden. Dann der Niedergang der ostdeutschen Industrie, die Rezession der Nach-Einheitsjahre. Die sich aberwitzig beschleunigende Globalisierung. Die Verlagerung deutscher Arbeitsplätze ins Ausland. Der Siegeszug des Shareholder-Value mit seinen desaströsen Folgen für die Belegschaften. Der Niedergang der Sozialdemokratie. Es waren schwere Schläge in schneller Folge. Welche Gewerkschaft hätte da Schritt halten sollen?

"Meist sehr spät und oft nur halbherzig", kritisiert ein keineswegs altersmilder Ulrich Mückenberger, hätten die Gewerkschaften sich den Umbrüchen in der Arbeitswelt als gestaltende Akteure gestellt. "Die Kluft zwischen der Gesellschaft und den Gewerkschaften ist in den vergangenen 20 Jahren tiefer geworden." Das nach wie vor herrschende Denken brachte ein Teilnehmer des Symposiums am Beispiel der prekären Arbeitsverhältnisse auf den Punkt: "Man hat begriffen, dass man sich mit Leiharbeit befassen muss, aber eigentlich will man nicht. Wir kümmern uns lieber weiter um die Stammbelegschaften." Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses hat - vielleicht auch weil die Gewerkschaften zu spät reagiert haben - in den meisten Fällen nicht zu der erhofften Emanzipation geführt, sondern zu neuen, noch größeren Abhängigkeiten, zu Jobs, von denen niemand leben kann, zu einem "Herrschafts- und Kontrollsystem", so der Jenaer Soziologe Klaus Dörre, "das auch die Normalarbeitnehmer diszipliniert".

EINLADUNG DER GEWERKSCHAFTEN_ Dass gewerkschaftliches Engagement, wenn es - im Geist der "Beschlusslage" - planvoll und mit geballter Kraft vorgetragen wird, nicht wirkungslos verpufft, zeigt die Erfahrung aus jetzt zwei Jahren Leiharbeits-Kampagne "Gleiche Arbeit - Gleiches Geld" der IG Metall. Es geht um Lohngerechtigkeit, aber auch um Mitgliedergewinnung aus der Armee der Leiharbeiter. Allein in den ersten Monaten der Kampagne kamen 10?000 Leiharbeiter zur IG Metall, von denen allerdings ein Teil durch die anschließenden krisenbedingten Entlassungen wieder verloren ging. Mit rund 500 "Besservereinbarungen", zwischen IG Metall und Betrieben abgeschlossen, konnte die Situation von Leiharbeitern vor Ort deutlich verbessert werden.

Ähnlich positive Erfahrung im Bereich prekärer Beschäftigung machten die Kolleginnen und Kollegen von ver.di, als sie sich dagegen wehrten, dass Krankenschwestern und Pfleger, deren befristete Verträge auslaufen, anschließend bei Zeitarbeitsfirmen wieder eingestellt werden und die gleiche Arbeit machen wie vorher - allerdings für ein paar hundert Euro weniger.

Die Frage, woher 20 Jahre nach der "Beschlusslage" neue Impulse kommen könnten, führte die Symposium-Teilnehmer nicht zuletzt zur künftigen Rolle des DGB. Die müsste deutlich aufgewertet werden - darüber herrschte in Hamburg Konsens. "Völlig unzureichend", so lautete das selbstkritische Urteil von IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis über den bisherigen Verlauf der DGB-Struktur-reformdebatte. Er wünscht sich den DGB als "starke Marke". "Wir sollten den Menschen wieder eine Einladung der Gewerkschaften zukommen lassen", rief er den Hamburger Kongressteilnehmern zu und fügte, sehr zur Freude des Mannes in der ersten Reihe, hinzu: "Nicht zum Literaturkreis unerschrockener Historiker und nicht zum Aktenstudium vergangener Erfolge. Sondern zur gemeinsamen Gestaltung gesellschaftlicher Realität in einem Land mit großer solidarischer Erfahrung." Wenn's sein muss, hätte er noch hinzufügen können, durchaus auch mal jenseits der Beschlusslage.

*Jenseits der Beschlusslage. Gewerkschaft als Zukunftswerkstatt. Köln 1990, Herausgeber waren: Jürgen Hoffmann, Professor für Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP), Hamburg, Reiner Hoffmann, Leiter der Abteilung Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung, Ulrich Mückenberger, Professor für Rechtswissenschaft an der HWP, Dietrich Lange, Professor für Sozialpädagogik und -politik an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen.

 

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