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Magazin Mitbestimmung

: Enttäuschung über das Provisorium

Ausgabe 05/2009

GESCHICHTE Als vor 60 Jahren das Grundgesetz verabschiedet wurde, waren die Gewerkschafter enttäuscht. Die Marktwirtschaft galt als riskant.

Von KARL LAUSCHKE, Historiker und Hochschullehrer in Dortmund/Foto: ullsteinbild

Erst war das Grundgesetz, dann der DGB. Als vor 60 Jahren die deutsche Verfassung beraten und beschlossen wurde, hatten sich die Gewerkschaften in den Westzonen noch nicht zu einem einheitlichen Dachverband zusammengeschlossen. Erst fünf Monate nach der Verkündung des Grundgesetzes wurde im Oktober 1949 in München der DGB gegründet. Im September 1948, als der Parlamentarische Rat, eine Art provisorisches Parlament, unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer zu seiner ersten Sitzung in Bonn zusammentrat, gab es nur eine gemeinsame Vertretung der vier gewerkschaftlichen Dachverbände aus der britischen und amerikanischen Zone - den Gewerkschaftsrat. Trotzdem hatten die Gewerkschaften das größte Interesse, Einfluss auf das Treiben in Bonn zu nehmen. Da sie selbst dort keine Stimme hatten, mussten sie versuchen, über einzelne Politiker oder über die Fraktionen einzugreifen.

Zu diesem Zweck richtete der Gewerkschaftsrat, dem Hans Böckler vorstand, eigens einen Stab ein, der Einfluss auf die Politiker in Bonn nehmen sollte - den sogenannten Verfassungsausschuss. Zu dessen Mitgliedern gehörten unter anderem Viktor Agartz, der Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften, der bereits 1947 als Leiter des Bizonen-Wirtschaftsamtes in Minden wegen seiner Forderung nach einer geplanten Wirtschaft in Schwierigkeiten geraten war, der Arbeitsrechtler Hans-Carl Nipperdey, der auch während der NS-Zeit die Anpassung des Arbeitsrechts an die herrschende Ideologie betrieben hatte, die beiden Sekretäre des Gewerkschaftsrates Ludwig Rosenberg und Fritz Tarnow sowie Werner Hansen, der Vorsitzende des DGB-Landesbezirks Nordrhein-Westfalen und damals die rechte Hand Hans Böcklers.

DER DGB FORDERT GEMEINEIGENTUM_ Der Verfassungsausschuss sollte dafür sorgen, dass gewerkschaftliche Vorstellungen das Grundgesetz und damit die neue Wirtschafts- und Sozialverfassung mitbestimmen sollten. Aber welche Vorstellungen waren das, nur vier Jahre nach dem Ende des Krieges? Bereits im September 1947 hatte der Bundesvorstand des DGB in der britischen Zone "als der berufene Sprecher der Mehrheit der Bevölkerung" in einem Schreiben an die Ministerpräsidenten, Parteivorstände und Landtagsabgeordneten Forderungen aufgestellt, die in den Verfassungen der Länder der britischen Besatzungszone ihren Niederschlag finden sollten. Die 38 Punkte, die darin aufgeführt waren, zielten "auf eine gerechte Würdigung der Arbeit, der arbeitenden Menschen und eine demokratische Neugestaltung der Wirtschaft".

Neben Forderungen zur Koalitionsfreiheit, zum Streikrecht, zu Tarifverträgen, zur Arbeitsgerichtsbarkeit und zur Sozialversicherung enthielt die Eingabe auch Artikel zur gleichberechtigten Mitwirkung und Mitbestimmung in allen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten, zur Überführung ganzer Wirtschaftszweige in Gemeineigentum: so des Bergbaus, der Unternehmen der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie, der Grundchemie und der Energiewirtschaft. Dazu kamen Artikel zur Selbstverwaltung der Wirtschaft durch paritätisch besetzte Kammern auf den verschiedenen Ebenen.

Einige dieser Vorschläge fanden auch Eingang in die Landesverfassungen. Diejenigen Bestimmungen, die zu einer grundlegenden Änderung des gesellschaftlichen Status quo geführt hätten, wurden von den westlichen Besatzungsmächten jedoch nicht zugelassen. Einer Regelung durch einen künftigen deutschen Staat sollte nicht vorgegriffen werden. Angesichts der Beratungen über das Grundgesetz gewannen die 1947 entwickelten Vorschläge eine erhöhte Aktualität. Um zu vermeiden, dass der neue deutsche Staat ein ähnliches Schicksal wie die Weimarer Republik erleiden und - auch - unter dem Druck mächtiger Wirtschaftskreise zerstört werden würde, durfte man nach Ansicht des Gewerkschaftsrates nicht mehr bei einer politischen Demokratie stehen bleiben, sondern musste nun auch die Wirtschaft demokratisieren.

TREFFEN MIT SPD-POLITIKERN_ Wenige Tage, nachdem die Liste der gewerkschaftlichen Verfassungsvorschläge am 25. September 1948 im "Bund", dem offiziellen Organ des DGB in der britischen Zone, veröffentlicht worden war, traf sich der Verfassungsausschuss des Gewerkschaftsrats mit drei sozialdemokratischen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates. Die Politiker erklärten den Gewerkschaftsvertretern jedoch, dass soziale Grundrechte oder eine Festlegung für eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialordnung in der Verfassung fehlen würden. Im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates war man schon zuvor übereingekommen, nur die klassischen Individual-Grundrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.

Der Ausschuss begründete diese Entscheidung damit, dass die neue Bundesrepublik nur ein Provisorium sei und die Gestaltung der Lebensordnung nicht endgültig festgelegt werden sollte, solange die Menschen in der sowjetisch besetzten Zone nicht mitsprechen konnten. Tatsächlich wäre es den Parteien im Parlamentarischen Rat auch alles andere als leicht gefallen, sich auf Grundsätze einer Wirtschafts- und Sozialordnung zu verständigen, denn die Vorstellungen waren ganz unterschiedlich, ja gegensätzlich. Im Übrigen beruhigten die Sozialdemokraten die Gewerkschafter mit dem Argument, die Möglichkeit, später Gesetze zur Sozialisierung oder zur Mitbestimmung zu erlassen, sei durch ein schlankes Grundgesetz überhaupt nicht versperrt. Und empfahlen sich damit zugleich für die Wahl.

Ende Oktober 1948 teilte Hans Böckler seinem Gegenüber Konrad Adenauer mit, die Gewerkschaften seien mit dem Vorgehen des Rates grundsätzlich einverstanden, behielten sich aber vor, "bei der Schaffung einer endgültigen Verfassung für Deutschland ihre grundlegenden Forderungen für diese Ordnungen alsdann zu unterbreiten". In dem Schreiben, das in Kopie auch an alle anderen Mitglieder des Parlamentarischen Rates ging, wurden jetzt in sieben Punkten konkrete Änderungs- und Ergänzungsvorschläge zu den klassischen Grundrechten gemacht.

Die Gewerkschaften verlangten, "neben der Würde und Freiheit des Menschen den Wert der persönlichen Arbeit und ihren Schutz besonders hervorzuheben", drängten auf ein klar definiertes Verbot der Zwangsarbeit, forderten insbesondere, die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht in einem gesonderten Artikel des Grundgesetzes zu garantieren, und schlugen vor, dass jeder Arbeiter, Angestellte und Beamte "zur Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und zur Ausübung ihm übertragener öffentlicher Ehrenämter" Anspruch auf die nötige freie Zeit unter Beibehaltung seiner Vergütung haben sollte.

Im Anhang des Schreibens wurde darüber hinaus formuliert, "dass die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit selbständige Gerichtsbarkeit unter Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist"; in einem Artikel des Grundgesetzes sollte außerdem die Einrichtung paritätisch besetzter Wirtschaftskammern festgeschrieben werden, "die neben Selbstverwaltungsaufgaben auf Bundes-, Länder- und bezirklicher Ebene auch die Organe der Gesetzgebung und Verwaltung beraten und unterstützen". Mit diesem letzten Punkt, der Forderung nach Körperschaften der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, in denen die Unternehmer und die Arbeitnehmer gleichberechtigt vertreten sein sollten, knüpften die Gewerkschaften an den Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung an und versuchten, zumindest einen Kernpunkt ihres Konzepts der Wirtschaftsdemokratie im Grundgesetz zu verankern.

UNERFÜLLTE HOFFNUNGEN_ Die programmatische Begründung hatte der aus dem englischen Exil zurückgekehrte Ludwig Rosenberg mit seiner Broschüre "Vom Wirtschaftsuntertan zum Wirtschaftsbürger" geliefert, die in 30 000 Exemplaren gedruckt worden war. Sie richtete sich gegen die "Befürworter eines sich neugebärdenden wirtschaftlichen Liberalismus" und stellte eine Antwort auf die Wirtschaftspolitik dar, die der Direktor der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft, Ludwig Erhard, betrieb: Diese Politik wurde von den Gewerkschaften entschieden bekämpft.

Von den gewerkschaftlichen Vorschlägen wurden vom Parlamentarischen Rat nur wenige angenommen. Erfolgreich waren die Gewerkschaften vor allem in der Frage der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. Auch in Fragen der Koalitionsfreiheit und der Freiheit der Berufswahl wurden Formulierungen des Gewerkschaftsrates übernommen, zum Teil fast wörtlich. Doch überhaupt nicht durchsetzen konnten sich die Gewerkschaften in der Frage der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Von der Arbeit des Parlamentarischen Rates waren sie daher enttäuscht, denn er hatte - wie der "Bund" am 7. Mai 1949 schrieb - "nur teilweise die Hoffnungen der Gewerkschaften" erfüllt.

Bemängelt wurde vor allem das Fehlen eines "Grundrechts auf Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in der Wirtschaft". Das änderte jedoch nichts daran, dass die Gewerkschaften dem Grundgesetz prinzipiell zustimmten und darin eine gewünschte Festigung parlamentarisch-demokratischer Verhältnisse sahen. Dass es zu gewissen Enttäuschungen kommen würde, hatte sich aber schon früh abgezeichnet. Bereits Anfang November 1948 hatten die Gewerkschaften feststellen müssen, dass "fast alle wichtigen sozialen und wirtschaftlichen Fragen dem zukünftigen Gesetzgeber" überlassen würden.

Die Erwartungen der Gewerkschafter an den Parlamentarischen Rat, wenigstens auf deutlich reduzierte Forderungen einzugehen, waren im Jahr vor der Verabschiedung des Grundgesetzes gesunken. Wohl auch deshalb ging Hans Böckler auf die Bitte von Werner Hansen nicht ein, am 3. Dezember 1948 persönlich an einer Sitzung aller Fraktionen teilzunehmen, um die Abgeordneten umzustimmen. Er wusste: Wirtschaftsdemokratische Vorstellungen waren offenbar nur noch über die Gesetzgebung möglich - und damit über das erst noch zu wählende Bundesparlament.

DER TRAUM VON EINER ANDEREN GESELLSCHAFT_ Wo die eigentlichen Befürchtungen der Gewerkschaften lagen, zeigte sich am 12. November 1948. An diesem Tag beteiligten sich mehr als neun Millionen Arbeitnehmer an einem Demonstrationsstreik, um gegen den von Ludwig Erhard eingeschlagenen marktwirtschaftlichen Kurs zu protestieren und die Forderung nach Mitbestimmung in der Wirtschaft zu unterstreichen. Die Gewerkschaften hatten ein erstes Signal gesetzt, für die Durchsetzung dieser Forderung gegebenenfalls auch die Arbeitnehmer zu mobilisieren.

Ein Jahr später dann, auf dem Gründungskongress des DGB im Oktober, zeigte sich, wie wenig die Gewerkschaften sich mit dem Ziel einer marktwirtschaftlichen Ordnung abgefunden hatten. Hans Böckler, der soeben zum Vorsitzenden des neuen Gewerkschaftsbundes gewählt worden war, zeigte sich von der Nachkriegsentwicklung "bitter enttäuscht". Er erklärte, das Geldchaos sei überwunden, die Wirtschaft habe sich weitgehend stabilisiert, aber die Lage der Arbeitnehmerschaft habe sich kaum geändert. Dann fuhr er fort: "Dafür gibt es nur eine Erklärung, nämlich die, dass die bestehende Wirtschafts- und Sozialordnung, sofern man überhaupt von Ordnung sprechen kann, in jedem Falle gegen die Interessen der arbeitenden Menschen ist."

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