Quelle: Jürgen Seidel
Magazin MitbestimmungNachruf: Entscheidungsfreudig und nahbar
Im September starb der ehemalige DGB-Vorsitzende Dieter Schulte. Von Nikolaus Simon
Heutigen Stipendiatinnen und Stipendiaten, Vertrauensdozentinnen und -dozenten oder Beschäftigten können die Jahre 1994 bis 2002 nur wenig vertraut sein. Selbst unsereinem ist ja nach 20 Jahren schon vieles verblasst. Aber die Jahre, in denen Dieter Schulte als Vorsitzender des DGB auch gleichzeitig Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung war, bleiben in Erinnerung als durchgängig so dynamisch, wie es der offizielle Nachruf des DGB postuliert.
Bevor mich der Vorstand im Herbst 1997 zum Geschäftsführer der Stiftung berief, kannte ich Dieter Schulte insbesondere aus der letzten Etappe der Arbeit am neuen DGB-Grundsatzprogramm. In der Stiftung brodelte es damals teilweise heftig. Das zu Recht auf seine einmalige Tradition und allgemein anerkannte wissenschaftliche Reputation so stolze WSI musste auf eine neue, zukunftssichere finanzielle Basis gestellt werden. Das bedeutete den Verlust der Selbstständigkeit und die vollständige Integration in die Stiftung. Das war für die Mehrheit des WSI nachvollziehbar kränkend. In der „alten“ Stiftung (und in einigen Gewerkschaften) kursierte der bitterböse Spruch: „Was soll dabei herauskommen, eine Kranke zu einer Gesunden ins Bett zu packen?“ Gemeint war in erster Linie die Frage der Neuverteilung von Ressourcen. Die Verhärtungen auf beiden Seiten mussten in gegenseitigen Respekt und in neue Synergien überführt werden.
Auch darin hat der offizielle Nachruf sehr fein recht: In diesen Turbulenzen war die gewerkschaftlich erfahrene und wissenschaftlich renommierte Professorin Heide Pfarr als Wissenschaftliche Direktorin sowohl für das WSI als auch für die Stiftung ein Segen. Dieter Schulte hatte für ihre Ernennung nicht nur Beifall aus den Gewerkschaften erhalten. Heide Pfarr wurde zugleich auch zur Geschäftsführerin ernannt.
Mit den neuen Akteurinnen und Akteuren begannen fünf Jahre sehr gelungener Kooperation zwischen DGB, den Gewerkschaften und innerhalb des Hauses. Dieter Schulte lebte als Vorsitzender eine Kultur notwendiger Entscheidungsfreude und auch Härte in der Sache, immer austariert durch verständnisvolle Zuwendung und Nahbarkeit. Es wäre zu plump, diese Eigenschaften nur der Erfahrung des ehemaligen Gesamtbetriebsrats in der Stahlindustrie zuschreiben zu wollen. Auch das diplomatische Geschick des vormaligen geschäftsführenden Vorstandsmitglieds der IG Metall fasst es nicht.
Bestimmt haben solche Erfahrungen zu seiner Sicherheit im Urteil und zu seiner Souveränität als Letztentscheider geführt. Aber diese Entwicklungswege bringen ja leider bisweilen auch recht herrische, also autoritäre und sture Führungspersönlichkeiten hervor. So mussten wir, Gott sei Dank, Dieter Schulte nie erleben. Eine kleine Anekdote möge sein feines Gespür für Rollen auf Zeit verdeutlichen: Einer der Bundeskanzler oder Bundespräsidenten hatte ihm eine sehr freundliche Weihnachtskarte geschickt. Seinem Sohn erklärte er jedoch: „Glaube bitte bloß nicht, dass die Karte dem Dieter Schulte gilt. Die ist für den DGB-Vorsitzenden bestimmt.“
Es lohnte sich, die gewerkschaftspolitischen und allgemeinpolitischen Herausforderungen in seiner Zeit als Vorsitzender von DGB und Stiftung genauer zu beleuchten. Das gehört jedoch nicht mehr in diese kleine Würdigung. Sie gilt zuerst der Erinnerung an den liebenswerten Menschen Dieter Schulte, den wir auch nach seiner aktiven Zeit in freundschaftlicher und fröhlicher Verbundenheit erleben durften. Wir trauern mit der Familie und den Freunden.
Nikolaus Simon war von 1997 bis 2013 Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung.