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Magazin Mitbestimmung

Niedriglöhne: Endlich ein bisschen besser

Ausgabe 05/2012

Monika Bäcker arbeitet als Fleischverpackerin in einem Oberhausener Rewe-Markt. Sie hat gegen ihren Stundenlohn von 5,50 Euro geklagt – mit Erfolg. Eine Richterin hat den Lohn kürzlich als sittenwidrig kassiert. Von Petra Welzel

Sie hat sich immer geschämt, für so wenig Geld zu arbeiten. „Ich habe das niemandem erzählt. Wenn mich jemand fragte, dann habe ich immer behauptet, ich bekäme 6,50 Euro“, sagt Monika Bäcker. Selbst diese Notlüge fiel ihr schwer. Denn in Wirklichkeit waren es nur 5,50. Erst jetzt, wo sie erfolgreich gegen ihren Lohn geklagt hat, ist das schlechte Gefühl endlich weg. Die Fleischverpackerin, die in einem Rewe-Markt in Oberhausen-­Osterfeld arbeitet, schämt sich kein bisschen mehr. Jetzt ist sie die Frau, über die die BILD-Zeitung titelte: „Diese Frau macht allen Arbeitern Mut“. Jetzt dürfen alle wissen, für welch miserablen Lohn sie arbeiten gegangen ist. Auch zwei Tage nach ihrem Erfolg vor dem Arbeitsgericht Oberhausen am 18. April 2012 freut sie sich noch aufrichtig, nicht diebisch. Zukünftig muss Rewe ihr 9 Euro die Stunde zahlen. Außerdem gibt es eine Nachzahlung von 7500 Euro. Wer der kleinen Frau mit den durchgestuften blonden Haaren gegenübersitzt, blickt in die Augen einer Entschlossenen. Aufrecht, die Arme auf dem Tisch vor sich verschränkt, erzählt sie ihre Geschichte.

REWE ZAHLTE NUR DIE HÄLFTE VOM TARIFLOHN

Sie hat die Fachhochschulreife, Zahnarzthelferin gelernt und ist jetzt 43 Jahre alt. Zu alt für ihren erlernten Beruf, wie sie seit drei Jahren feststellen muss. Wenn sie sich auf eine Stelle als Zahnarzthelferin bewirbt, heißt es in den Absagen immer „zu alt“. „Die nehmen lieber Berufsschulabgänger, denn die sind billiger“, sagt Bäcker. Aber arbeiten will sie unbedingt. Nicht, weil es ihr langweilig ist, zu Hause nur für Mann und Sohn zu sorgen, auch weil sie muss. Denn die 1500 Euro netto, die ihr Mann in Vollzeit als Stuckateur verdient, reichen für die dreiköpfige Familie bei einer Miete von über 500 Euro fast nie. Die Stellenanzeige für eine Aushilfskraft in dem Osterfelder Rewe-Markt, in dem sie manchmal einkauft, kommt da wie gerufen. Sie macht eine Bewerbung fertig und bekommt die Stelle. Als 400-Euro-Kraft beginnt sie 2009 in dem Rewe-Supermarkt und wundert sich bald, dafür über 72 Stunden im Monat arbeiten zu müssen. Also nahezu halbtags. Anfangs denkt sie, das seien die üblichen Löhne im Einzelhandel. Doch ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit. Sie beginnt, im Internet zu recherchieren, und stellt fest, dass nicht überall so schlecht bezahlt wird. Im Oktober 2011 tritt sie schließlich in die Gewerkschaft ver.di ein und lässt sich beim Bezirk Mühlheim-Oberhausen beraten. „Ich bin fast vom Stuhl gefallen“, sagt sie, „als ich erfuhr, wie hoch der Tariflohn ist: 10,79 Euro!“

Monika Bäcker muss nicht lange nachdenken, sie will klagen. Dass sie durch ver.di noch keinen Rechtsschutz hat, weil sie noch keine drei Monate Mitglied ist, es ist egal, sie hat ja einen privaten Rechtsschutz. Vor allem hat sie mit Günter Wolf, ihrem zuständigen Gewerkschaftssekretär, den richtigen Mann an der Seite. Das Online-Portal der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ hat ihn den „Revierwolf“ genannt. Weil er da ist, wo seine Mitglieder sind, vor allem bei denen, die Unterstützung brauchen. Schon einmal hat er sechs Frauen, die bei dem Textildiscounter Kik beschäftigt waren und auch sittenwidrig bezahlt wurden, gut beraten. Auch sie haben geklagt und gewonnen: eine Nachzahlung und deutlich höhere Stundenlöhne. Wolf sucht auch mit Monika Bäcker nach einer Lösung. Um sich den Klageweg vielleicht sparen zu können, setzt er zunächst einen Brief an den Geschäftsführer des Rewe-Markts auf, fordert ihn auf, den Tariflohn zu zahlen. Doch vier Wochen später hat der noch nicht geantwortet. Immerhin spricht er mit Monika Bäcker, will es sich überlegen, besser zu bezahlen. Ende Oktober lehnt er endgültig ab. Da bleibt nur der Klageweg. Bäckers Mutter sagt: „Wenn du meinst, dass das richtig ist, dann musst du das machen.“ Auch Bäcker selbst sagt, es habe sich „richtig angefühlt, von Anfang an“.

Sicher, es gibt Kollegen, die sticheln und ihr vorwerfen, sie gefährde ihrer aller Arbeitsplätze. Doch das alles nimmt sie in Kauf, da auch auf sie niemand Rücksicht nimmt. „Es ist eine schwere Arbeit“, sagt Monika Bäcker. Schätzungsweise 20 bis 30 Kisten von rund 15 Kilo Gewicht trägt sie pro Schicht vom Schlachtraum an die Selbstbedienungstheke. Zuvor packt sie die vom Metzger portionierten Koteletts, Schnitzel und andere Fleischwaren hygienisch in Folie. Manchmal kommt sie nach Hause und kann ihren Rücken vor Schmerzen kaum noch bewegen. sagt sie. Zwei Kolleginnen können die Arbeit wegen kaputter Rücken inzwischen schon nicht mehr machen. Aber Monika Bäcker beißt die Zähne zusammen. Sie ist stark, nicht nur von ihrer Statur her. Eine Kämpferin sei sie, sagt sie über sich. Vor zehn Jahren starb ihre Tochter ein paar Stunden nach der Geburt. Das prägt. Sie weiß, wie es ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

EIN UNERWARTETES URTEIL

Als es mit der Klage ernst wird, erhöht der Rewe-Markt den Lohn ab dem 1. April 2012 für sie und andere auf 7 Euro. Bei einem Gütetermin erklärt der Geschäftsführer, das Arbeitsverhältnis sei zerrüttet. Er bietet eine Auflösung des Vertrages an, und eine Abfindung von 1500 Euro. Doch Bäcker will mehr. Sie will weiterarbeiten. Und sie will endlich einen gerechten Lohn. Die 7 Euro sind immer noch sittenwidrig, weil sie mehr als ein Drittel unter dem Tariflohn liegen. Rewe hätte 50 Cent drauflegen sollen.

Die Hauptverhandlung wird eine Nervenprobe. Bäckers Anwältin Sigrid Britschgi deutet von vornherein an, dass es nötig werden könnte, die nächste Instanz anzurufen. Denn der Ausgang des Verfahrens erscheint ungewiss. Doch dann erklärt die Richterin: „Wer als Arbeitgeber Notsituationen oder Unwissenheit der Arbeitnehmer ausnutzt, begeht Lohnwucher. Das ist ein Straftatbestand.“ Das Gericht überlege daher, die Akten an den Staatsanwalt weiterzuleiten. So etwas hat selbst ver.di-Mann Wolf vor Gericht noch nie erlebt. Und Anwältin Britschgi erklärt nach dem Prozess, dies sei ein Signal für andere schlecht bezahlte Beschäftigte und für deren Arbeitgeber. Als Monika Bäcker nach ihrem Erfolg vor Gericht wieder auf der Arbeit erscheint, gehen bei ein paar Kollegen die Daumen hoch, manche grinsen sie an.

ver.di Nordrhein-Westfalen hat jetzt damit begonnen, eine Übersicht über die Stundenlöhne in der Branche zusammenzustellen. Denn die Lohnstruktur selbst im Rewe-Konzern ist unübersichtlich. Es gibt tarifgebundene, zentral betriebene und privat geführte Filialen. Schriftlich distanziert sich die Pressestelle des Unternehmens ausdrücklich von Stundenlöhnen von 5,50 Euro und betont: „Dies sind leider bedauerliche Einzelfälle und spiegeln nicht unsere Unternehmenskultur wider.“ Aber schließlich gelte für die privaten Filialisten der Grundsatz der Tariffreiheit. Warum das so ist und warum es nicht geändert wird, darauf gibt die Rewe-Zentrale auf Nachfrage keine befriedigende Antwort. Nur die Verlautbarung, dass man sich des Themas „zentralseitig aktiv annehmen wolle“ und die Partnerkaufleute auf die geltenden Gesetze hinweise.

Offenbar ohne durchschlagenden Erfolg. Denn für Günter Wolf häufen sich diese „Einzelfälle“: „Die Präsentation der Waren, die Werbung, das Sortiment, alles ist bei Rewe zentralisiert, nur die Lohngestaltung, da sind die privaten Marktleiter unabhängig“, sagt Gewerkschafter Wolf. Er sieht ein System dahinter. Aber: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Er weiß, dass die Arbeitgeber mit der Unkenntnis und der Furcht ihrer Beschäftigten kalkulieren. Monika Bäcker wirbt jetzt kräftig für ­ver.di. Eine Kollegin konnte sie schon gewinnen. Die Einzige, die ihr damals keine Vorwürfe machte und die wohl auch klagen wird. Dass sie ihren Job verlieren könnte – davor hat Monika Bäcker keine Angst. Sie hat den Schutz der Öffentlichkeit und Günter Wolf. Der verspricht, „Remmidemmi“ zu machen, sollte ihr Arbeitgeber versuchen, sie zu kündigen.
 
WER NICHTS TUT, IST SELBST SCHULD

 Bäcker sitzt im Bistro „Jedermann“, mitten auf dem Marktplatz Osterfeld im alten Ortskern, direkt gegenüber dem Rewe-Markt, in dem sie weiter arbeiten kann, für einen fairen Lohn, etwa 40 Stunden im Monat. Sie bestellt eine Tasse Kaffee, mischt Milch und Süßstoff hinein. Die Leute erledigen ihre Wochenendeinkäufe. Die Marktstände vom Vormittag werden schon abgebaut. Die Bedienung im „Jedermann“ schaut Bäcker ein wenig länger an als die anderen Gäste. „Die hat mich bestimmt auch erkannt“, sagt Monika Bäcker. Seit drei Tagen wird über sie bundesweit berichtet, im Ruhrgebiet schon seit drei Wochen, seit dem Gütetermin. Die Lokalzeitungen schreiben über sie, der Fernsehsender RTL lässt einen ganzen Tag lang ihren Erfolg vor Gericht in den Nachrichten laufen. „Seit vorgestern sprechen mich die Leute hier auf der Straße und in den Geschäften an. Die finden gut, dass ich das mit dem Gericht gemacht habe“, sagt Monika Bäcker und blickt sich kurz um, als spürte sie die Blicke. Hätte sie auch nur ansatzweise geahnt, welchen Medienrummel das alles auslöst, sie hätte es sich vielleicht noch mal anders überlegt.

Beinahe hätte sie schon gleich am Anfang einen Rückzieher gemacht, als ihr Günter Wolf eine Rechtsanwältin in Düsseldorf empfahl. Monika Bäcker erschienen die 50 Kilometer dorthin einfach zu weit. Sie hatte befürchtet, die Auseinandersetzung könne sich Monate, wenn nicht über ein Jahr hinziehen. Schließlich muss sie schon zur ver.di-Geschäftsstelle einmal quer durch Oberhausen. Dazu dann zusätzlich immer auch nach Düsseldorf fahren?

Jetzt ist sie froh, dass sie die Sache durchgezogen hat. Und Günter Wolf ebenso. Er braucht einen starken Kaffee. Heute früh hat er sich schon um sechs Uhr die ersten Nachrichten auf RTL angesehen, um den Beitrag über Monika Bäcker nicht zu verpassen. Anschließend war sein Vormittag mit Rechtsberatungsterminen verplant. Inzwischen ist früher Nachmittag. Eigentlich beginnt jetzt sein Wochenende. Wolf kennt die Einzelhandelsbranche von der Pike auf. Er hat selbst vor 40 Jahren seine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in einem Kaufhaus gemacht. „Damals waren dort 600 Menschen beschäftigt, heute sind es nur noch 60“, sagt er. Und das sei nur ein Beispiel von vielen.

„KAPOVAZ“ wird der Personalabbau auch genannt: an der Kapazität orientierte, variable Arbeitszeiten. Vor etwa 20 Jahren habe das begonnen, sagt Günter Wolf. Schleichend würden die Belegschaften ausgewechselt. Die Vollzeitstellen lösen sich entweder ganz oder in Teilzeitstellen und in immer mehr sozialversicherungsfreie Jobs auf. „Meinen Job hat vorher auch eine Vollzeitkraft gehabt“, sagt Monika Bäcker. „Da kriegst du dann so einen Hals!“, sagt Wolf. Das Fazit, das er aus seiner langjährigen Erfahrung zieht, bedeutet, dass es keinen bequemen Weg gibt: Die Betroffe­nen müssen wie Monika Bäcker oder die Kik-Frauen selbst kla­gen,wenn sie ihre Lage verändern wollen. „Wer das jetzt nicht kapiert hat“, sagt Günter Wolf, „der ist selbst schuld.“ 

Text: Petra Welzel, Journalistin in Berlin / Foto: Manfred Vollmer

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