Quelle: Karsten Schöne
Magazin MitbestimmungWiderstand: Emotionen unterschätzt
Die Flut hatte das ZF-Werk in Ahrweiler zerstört. Mit viel Solidarität baute die Belegschaft den Betrieb wieder auf, als eine weitere Hiobsbotschaft folgte. Von Carmen Molitor
Das ZF-Werk in Ahrweiler hatte sich gerade neu aufgestellt und sah sich für die Zukunft gerüstet, da kam die Flut. Mitgerissene Wohnwagen, Autos und sonstiges Treibgut schossen mit den Wassermassen durch das Rolltor in die Produktionshalle und zerstörten die Automatenstraße des Autozulieferers. Die Mitarbeiter der Spätschicht retteten sich in die höher gelegenen Stockwerke. Als es hell wurde, zeigte sich ihnen ein groteskes Trümmerfeld, eine zähe, übelriechende Schlammschicht bedeckte die Produktionshalle, das Betriebsratsbüro war zerstört, bis heute sieht man Schäden am Haupteingang.
Mit viel Eigeninitiative und Unterstützung aus anderen ZF-Standorten richtete die Belegschaft das Werk wieder her. Doch auf die Flut folgte die nächste Hiobsbotschaft: Das Management von ZF wollte den Standort in Ahrweiler aufgeben. Man befürchte, dass die Gebäude nahe der Ahr nicht mehr adäquat versichert werden könnten und erneute Hochwasser drohten. Die Belegschaft solle künftig in bislang leerstehenden Hallen am Standort in Koblenz produzieren. Was dann passieren könnte, malte sich Betriebsratsvorsitzender Rainer Stenz so aus: Erst hat man keinen eigenen Standort mehr, dann verlagert man vielleicht das Produkt nach Osten, dann gehen die Arbeitsplätze verloren. Die Ankündigung war ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich nach der Flut für das Werk ins Zeug gelegt hatten. Aber es war im Grunde keine neue Situation für den Betriebsrat und die IG Metall in Neuwied. Denn Kämpfe um den Standort gab es schon öfter.
Die Geschichte begann 1964 unter dem Namen Boge mit der Produktion von Federbeinen und Dämpferaggregaten, hauptsächlich für den Ford Taunus. Als Boges Stern sank, begann ein Reigen von Inhaberwechseln: Boge verkaufte das Werk an Mannesmann; es ging über zu Sachs und wurde zuletzt Teil der ZF Friedrichshafen AG. Die goldenen Zeiten für konventionelle Stoßdämpfer in Ahrweiler waren in den Nullerjahren vorbei, der Preisverfall am Markt enorm. Den Beschäftigten im Ahrtal war klar: So hat der Standort keine Zukunft. 2014 entschied sich der Betriebsrat für die Flucht nach vorn und forderte vom Arbeitgeber ein neues, zukunftsfähiges Produkt. Er stieß auf wenig Gegenliebe.
Markus Eulenbach, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Neuwied, erinnert sich noch gut daran: „Der Betriebsrat und die Belegschaft forderten eine Transformation, als diesen Begriff noch keiner kannte.“ Betriebsrat und Gewerkschaft organisierten einen Protestmarsch durch die Kreisstadt und informierten die Öffentlichkeit über die drohende Schließung des Werks. „ZF ist ein stiftungsgeführtes Unternehmen, das auf Öffentlichkeit reagiert“, sagt Eulenbach. Und mit einem den Organisationsgrad von 80 Prozent ließen sich öffentlichkeitswirksame Aktionen gut organisieren.
Die schlechte Presse zeigte Wirkung: Das Management sagte zu, neue Produkte in Ahrweiler zu fertigen, die zuvor im Werk in Schweinfurt beheimatet waren: eine im Dämpfer innenliegende und eine außenliegende elektronische Steuereinheit, sehr begehrt für E-Autos.
Letztendlich begann in Ahrweiler zwar bisher nur die Produktion der außenliegenden Einheit, die innenliegende wird weiter in Schweinfurt hergestellt. „Aber das war der Start in die Zukunft in Ahrweiler“, sagt Eulenbach. „Ein Großteil der Belegschaft musste ein Jahr lang in Schweinfurt qualifiziert werden. Da muss man schon daran glauben, dass man seinen Arbeitsplatz damit sichern kann. Und die Kollegen in Schweinfurt müssen bereit sein, ihr Wissen an die Kollegen aus Ahrweiler weiterzugeben. Das sind alles keine trivialen Prozesse und es ist aus meiner Sicht sehr gut gelaufen.“ Die Mühen rund um die Transformation hatten Erfolg: Zum neuen Kundenstamm gehörten bald Porsche, BMW, Honda und der Autobauer NIO, der als „Tesla aus China“ gilt. Als Anfang 2021 die Zielbildprozesse von ZF begannen, bei denen alle Standorte auf ihre Rentabilität geprüft werden, machte man sich wenig Sorgen, dass das Werk an der Ahr keine Zukunft haben könnte.
„Betroffen ist hier eigentlich jeder“
Im Sommer kam dann die Flut und viele der 270 Stammbeschäftigten verloren den Boden unter den Füßen. „Materielle Schäden erlitten etwa 100. 40 davon sind sehr schwer betroffen und einige bis heute krankgeschrieben“, erzählt Stenz. „Aber ‚betroffen‘ ist hier eigentlich jeder – weil jeder einen kennt, der Schäden erlitten hat oder gestorben ist, ob nun Eltern, Verwandte, Nachbarn, Freunde.“ Der Betriebsrat musste die Beschäftigten überzeugen, für eine gewisse Zeit zum Standort Schweinfurt zu wechseln, um die Produktion halbwegs aufrechtzuerhalten. Manche gingen nur mit einer Plastiktüte voller Unterwäsche auf die Reise, weil sie sonst nichts mehr besaßen.
„Obwohl wir Wochen nicht vor Ort produziert hatten, haben wir keinen Kunden zum Stillstand gebracht“, sagt der Betriebsratsvorsitzende stolz. Gemeinsam schaffte man es, bereits im Oktober die Fertigung in Ahrweiler wieder aufzunehmen - mit neugebauten Maschinen für die übergangsweise Fertigung per Hand, bis die automatische Produktion wieder möglich ist. 100 befristet beschäftigte Kollegen verstärken solange die Belegschaft.
Langfristige Standortsicherung im Blick
Doch dann drohte wieder Gefahr für den Standort. Als die Pläne für eine mögliche Verlagerung nach Koblenz durchsickerten, setzten Gewerkschaft und Betriebsrat erneut auf die Hilfe von Öffentlichkeit sowie Kommunal- und Landespolitik, um das Werk in der Region zu halten. Sie informierten die Presse, drehten ein Protestvideo und luden unter anderem den rheinland-pfälzischen Arbeitsminister Alexander Schweitzer zu einer Betriebsversammlung ein, die wie ein Showdown wirkte. Der Konzern sah sich einem Sturm der öffentlichen Entrüstung ausgesetzt und zeigte sich verhandlungsbereit. „Das Management hat völlig unterschätzt, dass die Flutkatastrophe so emotionalisierbar ist – nicht nur bei den Beschäftigten, auch in der Region und der Landespolitik“, analysiert Markus Eulenbach.
Der Arbeitgeber schloss mit dem Betriebsrat eine Verfahrensvereinbarung: An der Suche nach einem alternativen Standort ist die Arbeitnehmervertretung jetzt beteiligt. IG Metall und die TBS aus Mainz standen dem Betriebsrat bei den Verhandlungen zur Seite.
Jetzt soll es schnell gehen: Innerhalb eines halben Jahres will man über die Alternative entscheiden und bereits 2024 dahin umziehen. Man arbeite daran, dass es ein Standort im flutgeplagten Kreis Ahrweiler sein wird, heißt es. Am liebsten bliebe man in Ahrweiler oder einer direkten Nachbargemeinde, aber verblüffender Weise sind die Signale aus der Kommunalpolitik dort dafür bisher nicht ermutigend. Dafür sind andere Ortschaften mit vielversprechenden Alternativen ins Bewerberrennen eingetreten. Wohin es für ZF am Ende auch immer gehe: Wenn dieser Umzug gelingt, so ist Gewerkschafter Eulenbach überzeugt, sei der Standort – diesmal langfristig – sicher.