Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungDebatte: Einfallstor für rechts
In „einer Welle migrationspolitischer Euphorie“ sei der Linken der Sinn für Ordnungspolitik verloren gegangen, ausgerechnet gegenüber dem hochsensiblen Arbeitsmarkt gibt sie sich ultraliberal, kritisiert Christoph Deutschmann.
Seit Jahren herrschen Krieg und Bürgerkrieg in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens, und bereits im Jahr 2014 ist die Zahl der in Deutschland und Europa Schutz suchenden Flüchtlinge aus diesen Gebieten erheblich angestiegen. Was hätte die Bundesregierung schon damals tun können, um den unabweisbaren humanitären Verpflichtungen Deutschlands nachzukommen? Kurz gesagt: dasselbe, was sie jetzt auch versucht. Mehr finanzielle Unterstützung für die Flüchtlingslager in der Türkei, im Libanon und in Jordanien, stark erhöhte deutsche Aufnahmekontingente, Unterstützung für Griechenland und Italien beim Aufbau von „Hotspots“. Im Übrigen hätte man sich darauf beschränken können, die geltenden Regelungen des Asylrechts anzuwenden (Stichworte Dublin, Drittstaatenregelung), immerhin fallen die Nahost-Flüchtlinge nicht unter das Asylrecht, sondern unter die Genfer Konvention.
Zunächst jedoch geschah nichts von alledem. Vielmehr sah man zu, wie alle geltenden Regeln außer Kraft gesetzt wurden und das Asylrecht sich faktisch in ein Einfallstor für eine unkontrollierte Einwanderung entwickelte. Diese Entwicklung wurde nicht nur hingenommen, sondern sogar begrüßt. Unter der Ägide der Bundeskanzlerin wurde von Parteien, Medien, Kirchen, Verbänden eine „Willkommenskultur“ verkündet. Alle, die nur leise Zweifel äußerten, wurden in die Ecke des Rechtspopulismus gestellt. Eine Welle migrationspolitischer Euphorie erfasste das Land. Auch die anderen Länder der Europäischen Union wurden unter Druck gesetzt, sich dem Kurs der deutschen Bundesregierung anzuschließen. Die Migranten selbst ließen sich die Botschaft nicht zweimal sagen. Allein in den Monaten September bis November kamen drei- bis viermal so viele Flüchtlinge nach Deutschland wie im gesamten Jahr 2014. Dabei handelte es sich nur etwa zur Hälfte um Betroffene der Kriege in Syrien und im Irak, die anderen kamen aus einem breiten Kreis von Ländern von Bangladesch bis Westafrika.
Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. Die Behörden erweisen sich schon bei der Registrierung der Flüchtlinge geschweige denn bei der Einreichung und Bearbeitung der Asylanträge als hoffnungslos überfordert. Landkreise und Kommunen wissen nicht mehr, wie sie die vielen Neuankömmlinge unterbringen sollen. Polizei, kommunale Mitarbeiter und ehrenamtliche Helfer sind erschöpft, und nach den Kölner Ereignissen der Silvesternacht ist offenkundig, was zu erwarten war: dass nicht nur schutzsuchende, friedliebende Menschen kommen.
Kritik an ungesteuerter Einwanderung
Die Unterstützung, die Deutschland von der Europäischen Union einfordert, bleibt weitgehend aus. Nicht nur die mittelosteuropäischen Länder verweigern sich. Auch die Regierungen in Frankreich und Großbritannien sind entgegen anderslautenden Lippenbekenntnissen nicht bereit, Flüchtlinge in nennenswertem Umfang aufzunehmen. Sie haben ihre Erfahrungen mit lang anhaltender, unkontrollierter Einwanderung gemacht und stehen innenpolitisch unter starkem Druck migrationsfeindlicher Parteien. Sogar das traditionell migrationsfreundliche Schweden hat einen Kurswechsel vollzogen und will die weitere Aufnahme von Flüchtlingen einschränken. Ohne es offen einzugestehen, hat auch die deutsche Bundesregierung längst begonnen, zurückzurudern. Das Asylrecht wurde verschärft, bis jetzt freilich ohne nennenswerte praktische Auswirkungen. Angestrebt wird jetzt auch ein „stärkerer Schutz der EU-Außengrenzen“. Insbesondere möchte man die Türkei einbinden und ihr die unangenehme Aufgabe der Zurückweisung der Migranten an der Grenze zuschieben, vor der man selbst zurückscheut. Einmal in Gang gekommen, lässt sich der Flüchtlingsstrom jedoch so schnell nicht bremsen. Weiterhin überqueren täglich Tausende die deutsche Grenze; ob die Bundesregierung ihr Ziel einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen in absehbarer Zeit erreichen kann, ist höchst ungewiss.
Was bedeutet die anhaltende, ungesteuerte Einwanderung für den deutschen Arbeitsmarkt? Wirtschaft und Arbeitgeberverbände haben den Kurs der Bundesregierung bislang überwiegend unterstützt. Man hoffte, die Zuwanderung werde den Fachkräfte- und Nachwuchsmangel in Industrie, Handwerk und vielen Dienstleistungsbereichen beheben helfen. Diese Hoffnungen sind sicherlich nicht ganz falsch, aber auch hier nehmen die Zweifel zu. Die Qualifikationen der Flüchtlinge sind, nach Daten des IAB in Nürnberg, meist gering. Der Anteil akademisch Qualifizierter ist niedrig, zwei Drittel verfügen nicht über eine berufliche Ausbildung, auch viele Analphabeten sind dabei, Probleme sind vor allem die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse und der Mangel an Geld und Personal für die nötigen Deutschkurse.
Unter den Experten herrscht Einigkeit darüber, dass es trotz der gegenwärtig relativ guten Arbeitsmarktlage Jahre dauern wird, bis es gelingen wird, einen nennenswerten Teil der Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt zu vermitteln; das belegen auch die bisherigen Erfahrungen mit Asylbewerbern in Deutschland und anderen Ländern. Um die Eingliederung zu erleichtern, fordern Arbeitgeberverbände eine Aussetzung des Mindestlohnes für Flüchtlinge – eine Forderung, die bislang von der Bundesregierung abgelehnt wird, was aber die Entstehung eines Schattenarbeitsmarktes freilich kaum wird verhindern können, erst recht, wenn der Migrationsdruck anhält.
Gefahr der Bildung von Migrantenghettos
Aber das wäre noch das geringere Problem. Trotz aller Bemühungen um Arbeitsmarktintegration wird ein erheblicher Teil der in Deutschland bleibenden Asylbewerber in absehbarer Zeit weder Arbeit noch Wohnung finden. Die Kosten für Unterbringung, Sozialhilfe und Hartz-IV-Leistungen werden stark zunehmen, und die Politik wird unter Druck geraten, diese Leistungen zu kürzen. Viele Flüchtlinge werden auf lange Zeit in provisorischen Unterkünften leben müssen. Wie schon in Frankreich, Belgien, Großbritannien und Schweden besteht die Gefahr der Bildung von Migrantenghettos mit ihren Potenzialen von Kriminalität und religiöser Radikalisierung. Viele Migranten sind mit hohen, oft unrealistischen Erwartungen nach Deutschland gekommen – Erwartungen, die zwangsläufig enttäuscht werden und dann leicht in Ressentiments umschlagen können. Woher nehmen wir den Glauben, diese Probleme besser lösen zu können als unsere europäischen Nachbarn, wenn unsere Verwaltung noch nicht einmal in der Lage ist, die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge genau zu erfassen?
Konkurrenz unter Geringverdienern steigt
Für die Sozialdemokratie und die Linke, die die Einwanderungspolitik der Bundesregierung bislang unterstützen (zum Teil noch als zu restriktiv kritisieren), bedeutet die unkontrollierte Einwanderung ein Dilemma, über das sie sich nicht offen Rechenschaft ablegen. Es ist vor allem ihre Wählerklientel – die Geringverdiener, prekär Beschäftigten und Arbeitslosen, unter ihnen auch viele schon hier lebende Immigranten –, die unter einer anhaltenden, unkontrollierten Einwanderung am ehesten zu leiden hat. Von der zu erwartenden verschärften Konkurrenz nicht nur an den Arbeits-, sondern auch an den Wohnungsmärkten und bei den sozialen Leistungen ist sie am stärksten betroffen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die einwanderungskritischen Stimmungen in den unteren Schichten besonders verbreitet sind – Stimmungen, die nicht als „Ausländerfeindlichkeit“ diffamiert werden sollten, denn es handelt sich um den legitimen Ausdruck eines sozialen Interessenkonflikts.
Die SPD und die Linke täuschen sich über dieses Dilemma mit der Leerformel hinweg, Flüchtlinge und Einheimische dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, und es müssten genug Arbeitsplätze und Wohnungen für alle bereitgestellt werden. Aber wie glaubwürdig sind diese Beteuerungen, wenn es der SPD als Regierungspartei noch nicht einmal befriedigend gelungen ist, sie auch nur für die schon in Deutschland Lebenden einzulösen? Auch die finanziellen Möglichkeiten linker Sozialpolitik sind begrenzt, und die besten Sozialprogramme werden unwirksam, wenn die Zahl der Leistungsanwärter aufgrund der offenen Außengrenzen immer weiter anwächst.
Die Sozialdemokratie leidet wie die gesamte Linke daran, dass ihr der Sinn für ordnungspolitische Kohärenz und für den Unterschied zwischen guten Absichten und faktischen Konsequenzen politischer Entscheidungen verloren gegangen ist. Sie weiß zwar, dass unregulierte Märkte nicht gut mit einer linken Sozialpolitik vereinbar sind, und ist deshalb entsprechend kritisch gegenüber den TTIP-Verhandlungen und liberalisierten Finanzmärkten. Aber ausgerechnet gegenüber dem sensibelsten aller Märkte, dem Arbeitsmarkt, gibt man sich ultraliberal. Alle sollen kommen können und sollen möglichst sofort und uneingeschränkt Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Wenn diese politische Schizophrenie dazu führt, dass die eigene Klientel – wie in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Schweden, Dänemark, Finnland und Österreich zu beobachten – in Scharen zu rechtsnationalen Parteien überläuft oder überhaupt nicht mehr zur Wahl geht, wundert man sich und schiebt die Schuld dem politischen Gegner zu.
Die Sozialdemokratie hat eine der vielleicht wichtigsten Lektionen aus ihrer Geschichte vergessen, nämlich dass praktische Verbesserungen der Lage der Arbeiterschaft vor allem durch Maßnahmen zur Steuerung und Begrenzung des Angebots an den Arbeitsmärkten erzielt worden sind: durch Alters- und Arbeitszeitbeschränkungen, Qualifizierungsregelungen und, ja, auch durch Einwanderungsbeschränkungen. Wer alle Begrenzungen der Einwanderung beseitigt, schafft einen globalen Arbeitsmarkt mit faktisch grenzenloser industrieller Reservearmee, von dem nicht die Arbeitenden, sondern nur das Kapital profitiert. Die Alternative dazu ist nicht Abschottung, wie so oft irreführend gesagt wird, sondern eine Regulierung des Arbeitsmarktes mit dem Ziel des Interessenausgleichs zwischen Einwanderern und Einheimischen. Man mag die geltenden Regeln legaler Arbeitsmarktmigration als zu restriktiv kritisieren. Aber dann sollte man neue Regeln vorschlagen, die unvermeidlich neue Restriktionen bedeuten. Wer nur in einem apolitischen Traumland ohne Regeln und Restriktionen leben will, mag darin seine Befriedigung finden. Aber die sozialdarwinistischen Folgen einer solchen Haltung werden sich schwerlich als sozialdemokratisch oder gar „links“ verkaufen lassen.
Zur Person
Christoph Deutschmann ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Tübingen. Seine Schwerpunkte sind Wirtschaftssoziologie und industrielle Beziehungen. Er arbeitete am Sozialforschungsinstitut in Frankfurt, an der Tohoku-Universität in Japan und am WZB in Berlin.