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Porträt Hugo Sinzheimer (schwarz-weiß) Magazin Mitbestimmung

Geschichte: Eine neue Idee des Arbeitsrechts

Ausgabe 02/2025

Der Rechtswissenschaftler Hugo Sinzheimer wäre am 12. April 150 Jahre alt geworden. Sein Ansatz, aus den Strukturen der Arbeitswelt allgemeine Rechtsgrundsätze abzuleiten, war damals visionär – und ist immer noch aktuell. Von Ernesto Klengel, Wissenschaftlicher Direktor des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht

Manchmal gehen juristische Normen so sehr in Fleisch und Blut über, dass wir sie gar nicht mehr hinterfragen. Oft ist das ein Zeichen dafür, dass unser Recht mit der sozialen Wirklichkeit in Einklang steht. Bei der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie handelt es sich um ein solch „eingängiges“ Recht. Dass Beschäftigte Gewerkschaften gründen oder zu den Mitteln des Arbeitskampfes greifen können, um gemeinsam ihre Interessen zu verfolgen, und dass sie die Einigung in Tarifverträgen festhalten, wird heute kaum noch hinterfragt. In Gewerkschaften organisierte Beschäftigte müssen sich nicht auf Verhandlungsglück und den guten Willen des Arbeitgebers verlassen, der Tarifvertrag vermittelt ihnen einklagbare Rechte. Wie es zur rechtlichen Verankerung dieser Prinzipien kam, ist eine spannende Geschichte, die untrennbar mit dem Namen Hugo Sinzheimer verbunden ist.

Hugo Sinzheimer, der am 12. April 1875 in Worms zur Welt kam, war ein ungewöhnlicher Jurist. Damit ist nicht sein Erscheinungsbild gemeint, Zeitgenossen beschrieben den Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten, der mit der Herstellung von Herrenanzügen wohlhabend geworden war, als stets stilsicher. Doch Sinzheimer kam bereits während des Studiums mit den Rechtsfragen in Berührung, um die sich andere Juristen nicht kümmerten. Als fesselnder Redner war er als Referent für gewerkschaftliche Bildung auf Veranstaltungen im Einsatz. Sein wissenschaftliches Interesse zu dieser Zeit galt etwa dem linksliberalen Ökonomen Lujo Brentano, von dem folgender berühmter Satz stammt: „Der Arbeiter war durch seine rechtliche Befreiung nicht wirklich frei, sondern durch die Macht der sozialen Gewalten zu einer neuen sozialen Untertänigkeit hinabgedrückt worden.“

Ungewöhnlich war auch die Vielfalt der Tätigkeiten und Aufgaben, die Sinzheimer in der Rechtspolitik, der Rechtswissenschaft und als Rechtsanwalt übernahm. Im Alter von 28 Jahren begann er seine Tätigkeit für den Deutschen Metallarbeiterverband, einen der Vorgänger der IG Metall, den er in strafrechtlichen, aber auch in politisch geführten Verfahren vertrat. 1919 wurde er für die SPD in den Reichstag gewählt und wirkte als Mitglied des Verfassungsausschusses bei der Gestaltung der Weimarer Reichsverfassung mit. Seine Handschrift tragen Vorschriften, die auch heute noch im Grundgesetz angelegt sind. Die in Artikel 9 Absatz 3 verankerte Koalitionsfreiheit gehört dazu, aber auch der Grundsatz in Artikel 14 Absatz 2, dass „Eigentum verpflichtet“. Auch der uneingelöste „Räte-Artikel“ der Reichsverfassung, Grundlage für den Gedanken der Wirtschaftsdemokratie, geht auf Sinzheimer zurück.

Vater des modernen Tarifrechts

Voraussetzung für die Etablierung des modernen Tarifrechts war eine Arbeiterbewegung, die bereit war, harte Kämpfe um ihre berechtigten Interessen zu führen. Stück für Stück ging es voran: Anerkennung der Gewerkschaften, die schrittweise Legalisierung von Arbeitskämpfen und Tarifverträgen. Die Tarifvertragsordnung von 1918, der Vorläufer des heutigen Tarifvertragsgesetzes, war in der revolutionären Situation nach dem Ersten Weltkrieg eine Konzession der Unternehmer an die Gewerkschaften. Heute lernen Betriebs- und Personalräte in ihrem ersten Seminar die arbeitsrechtliche Normenpyramide kennen: Tarifverträge sind geltendes Recht, sie haben Vorrang vor Betriebsvereinbarungen und Arbeitsverträgen – es sei denn, dass Letztere günstigere Vorschriften vorsehen.

Doch um die tarifliche Praxis derart abzusichern, bedurfte es rechtswissenschaftlicher Kühnheit und juristischen Scharfsinns. Für Zivilrechtler ist der Tarifvertrag immer etwas Eigenartiges, weil er die Doktrinen des bürgerlichen Rechts geradezu sprengt: ein Vertrag, der auf ein anderes Verhältnis, nämlich das zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin bzw. Arbeitnehmer, unmittelbar und zwingend einwirkt. Der Jurist Hugo Sinzheimer war der maßgebliche Architekt dieser so einfachen und deshalb genialen rechtlichen Konstruktion.

Sinzheimers Verdienst hat mehrere Facetten. Er leitete aus der arbeitsrechtlichen Praxis allgemeine rechtliche Grundsätze ab, die bis heute Bestand haben. Dabei hatte er stets den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang im Blick – für ihn war Recht als „soziales Recht“ ein Beitrag zur Humanisierung und ein Mittel zur Gestaltung der Arbeit. Heute, wo es darum gehen müsste, die Möglichkeiten der digitalen Arbeitswelt bewusst und planvoll im Sinne der Beschäftigten und der Nutzerinnen und Nutzer und nicht im wirtschaftlichen und politischen Interesse einer kleinen Elite einzusetzen, ist diese Perspektive wichtiger denn je.

Von der Praxis zur Theorie

Sinzheimer leistete außerdem einen großen Beitrag für die Methodik der Rechtswissenschaft. Jura war für ihn kein begriffliches Glasperlenspiel. Nach seinem Verständnis musste das Recht der Arbeit aus den Strukturen und dem Funktionieren des Arbeitslebens heraus entwickelt werden – ein Ansatz, der wohl dazu beitrug, dass ihm zu Lebzeiten in den konservativen und interdisziplinär wenig aufgeschlossenen Zivilrechtler-Kreisen die Anerkennung als maßgebliche Autorität des Fachs verwehrt blieb.

Es sind eben auch gesellschaftliche Kräfte, die Recht schaffen. Dieser Ansatz macht Sinzheimer noch heute aktuell. Wenn die Fahrerinnen und Fahrer von Lieferdiensten neue und bislang unbekannte Formen finden, ihren Interessen Ausdruck zu verleihen, kann man mit Sinzheimer nur daraus lernen und ihre Praxis rechtlich anerkennen und schützen. Wenn neue Technik am Arbeitsplatz die Mitbestimmung auf den Plan ruft, um neue Lösungen zu finden, können wir daraus Schlüsse für notwendige Reformen des Arbeitsrechts ziehen.

Illustrieren lässt sich der Sinzheimer’sche Ansatz auch an der aktuellen Entscheidung des  Bundesverfassungsgerichts zu Nachtarbeitszuschlägen, an der Sinzheimer sicher einiges auszusetzen gehabt hätte. Die Karlsruher Richter haben eine Ungleichbehandlung von Beschäftigten in Nachtarbeit für gerechtfertigt erklärt, obwohl diese dagegen geklagt hatten. Je nachdem, ob sie die Nachtarbeit regelmäßig oder unregelmäßig leisten, beträgt der Zuschlag 25 oder 50 Prozent. Die Verfassungsrichter waren der Meinung, diese Ungleichbehandlung sei von der Tarifautonomie gedeckt.

Hugo Sinzheimer wäre sicher aufgestoßen, dass das Bundesverfassungsgericht die Tarifautonomie als kollektive Privatautonomie“ bezeichnet. Die Tarifautonomie kann nach seiner Auffassung nicht nur eine Fußnote der Vertragsfreiheit sein. Auch stellt sich die Frage, weshalb es mit der Tarifautonomie unvereinbar sein soll, wenn Beschäftigte einen soliden Schutz vor Benachteiligung erhalten – und einen Ausgleich, sofern sie ungerechtfertigt benachteiligt werden.

Wer das Arbeitsrecht allein im Gesetz sucht, der wird es nicht finden.”

HUGO SINZHEIMER

Der Gelehrte und Politiker

Hugo Sinzheimer kandidierte nicht erneut für den Reichstag, wozu ihn auch die antisemitischen Anfeindungen bewogen haben, denen er ausgesetzt war. Seine Gedanken der „sozialen Selbstbestimmung im Recht“ entwickelte er ab 1920 als erster Professor für Arbeitsrecht in Deutschland an der Frankfurter Goethe-Universität. In den folgenden Jahren war er in verschiedenen Funktionen für die Gewerkschaften tätig, auch als Schlichter, eine Rolle, die ihm die wohl stärkste Kritik aus dem eigenen Lager einbrachte.

Über manches wissen wir nur wenig, etwa über sein Wirken in der Frankfurter Stadtgesellschaft und über die kurze Zeit als Frankfurter Polizeipräsident, zu dem er vom Vollzugsausschuss des Frankfurter Soldatenrats für einige Monate ernannt wurde. Auf Sinzheimer geht auch die Rettung der Goethe-Universität als Stiftungsuniversität zurück, sowie, im gleichen Zuge, die Gründung der Akademie der Arbeit. Dokumente von und über ihn sind in verschiedenen Archiven verstreut und warten noch auf eine Erschließung.

Im Vorfeld seines 150. Geburtstags ist der IG Metall ein kleiner Coup gelungen: Nach einer längeren Anlaufzeit ist der Nachlass von Hugo Sinzheimer, der sich im Privatbesitz befand, für die Forschung zugänglich gemacht worden. Er befindet sich nun im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn und wird in kurzer Zeit erschlossen werden können. Darunter sind einige private Briefe, in denen er etwa seine Zeit in Berlin reflektiert, sowie ein Austausch mit dem Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der in der Weimarer Republik als Rechtsanwalt der Arbeiterbewegung tätig war.

Nicht nur Fraenkel, der Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft und spätere Autor des Buches „Der Doppelstaat“, eines Klassikers über das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus, wurde von Sinzheimer geprägt, ebenso der Politologe und Jurist Hans Joachim Morgenthau, der erste ÖTV-Vorsitzende Adolph Kummermuss sowie der Politologe und Jurist Wolfgang Abendroth und etliche andere, von denen viele im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv waren. Auch die internationale Bedeutung von Sinzheimers Werk ist noch nicht systematisch erforscht, rezipiert wurde er etwa in Norwegen, den Niederlanden oder Italien.

Wie über vielen Biografien Intellektueller seiner Zeit liegt ein dunkler Schatten auch über seinem Leben. Bereits im Mai 1920, kurz nach der Übernahme der Professur, störten nach seinen mutigen Auftritten gegen rechtsnationalistische Politiker wie Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg rechte Burschenschaftler seine ersten Vorlesungen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten verhinderte endgültig, dass Sinzheimer seine Arbeit in Deutschland fortsetzen konnte. Immerhin: Er konnte fliehen und überlebte die NS-Schreckensherrschaft im Versteck in den Niederlanden, wo er der Deportation knapp entkam. Im Nachlass findet sich sein gefälschter Pass, der ihm bei der Flucht geholfen hat.

Hugo Sinzheimer starb, völlig entkräftet, wenige Tage nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Wie unser Rechtssystem heute aussähe, wenn dieser brillante, der Arbeiterbewegung verpflichtete juristische Denker das Entstehen des Grundgesetzes und das Arbeitsrecht der Bundesrepublik noch hätte mitprägen können, bleibt Spekulation. „Wer das Arbeitsrecht allein im Gesetz sucht, der wird es nicht finden.“ Dieser berühmte Satz aus der Feder Sinzheimers ist mehr als eine Erkenntnis, er ist eine Aufforderung an die Juristinnen und Juristen von heute.

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Infopaket zur Hugo Sinzheimer

  • Biographie – Wer war Hugo Sinzheimer?
  • Über Hugo Sinzheimer – Veröffentlichungen über Hugo Sinzheimer
  • Von Hugo Sinzheimer – Veröffentlichungen von Hugo Sinzheimer

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