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Schülerpraktika in Betrieben ¬fanden während der Pandemie kaum statt. Das rächt sich jetzt:  Die Zahl der Ausbildungsplatz¬bewerber ist gesunken. Magazin Mitbestimmung

Wissenschaft: Eine Frage der Perspektive

Ausgabe 06/2021

Gewerkschafts- und arbeitgebernahe Forscher haben die sozialen Folgen der Coronapandemie in den Blick genommen. Von Andreas Molitor

Fast zwei Jahre nach dem Ausbruch von Corona in Deutschland ist die Debatte zum Einfluss der Pandemie auf das Sozial­gefüge der deutschen Gesellschaft eröffnet: Hat Corona bestehende soziale Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt weiter befeuert? Oder ist die Epidemie am Ende sogar der große Gleichmacher? Wie unterschiedlich die Antworten ausfallen können, wenn man die Perspektive geringfügig verändert, zeigen aktuelle Analysen gewerkschafts- und arbeitgebernaher Wirtschaftswissenschaftler sowie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit.

Es ist ein Satz wie eine Kampfansage an all jene, die überzeugt sind, die Pandemie habe die Armen noch ärmer gemacht: „Von einem Anstieg der Einkommensungleichheit kann kurzfristig nicht die Rede sein“, sagt Bernd Fitzenberger, der Direktor des IAB. Die Stärkung des Staates, insbesondere durch das – in vielen Branchen deutlich aufgestockte – Kurzarbeitergeld, habe die Einkommen der unteren sozialen Schichten stark und effektiv geschützt, belegt der Wissenschaftler mit Zahlen aus dem ersten Coronajahr. Die Stabilisierung durch das Kurzarbeitergeld sei eine „große Erfolgsgeschichte“.

Bettina Kohlrausch, die Wissenschaftliche Direktorin des WSI, stellt die stabilisierende Wirkung der staatlichen Coronapolitik nicht in Abrede. Ihr Gesamtbefund fällt allerdings deutlich pessimistischer aus – weil sie die Einkommensentwicklung nicht nur während der Coronazeit, sondern seit 2010 in den Blick nimmt. Kohlrausch zeigt, dass das unterste Einkommensdezil, also die zehn Prozent der Erwerbstätigen mit dem niedrigsten verfügbaren Netto-Haushaltseinkommen, unmittelbar vor Ausbruch der Pandemie exakt beim gleichen Einkommen angelangt war wie im Jahr 2010, während sich insbesondere die Bezieher mittlerer Einkommen im gleichen Zeitraum über kräftige Verdienstzuwächse freuen konnten. Corona hat diese Ungleichheit nicht weiter verstärkt, aber zementiert – und zudem noch Millionen Leidtragende am Wegesrand zurückgelassen, die vom Kurzarbeitergeld ausgeschlossen waren: Geringqualifizierte, Soloselbstständige und Minijobber. Sie waren in Hunderttausenden von Fällen auf die Grundsicherung, also Hartz IV, angewiesen.

Die Kinder, die es am meisten nötig gehabt hätten, sind im Homeschooling weiter zurückgefallen und haben richtig gelitten.

Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des WSI

Aufschlussreich, so Kohlrausch, sei zudem ein Blick auf den „Gender Care Gap“: Wegen der Schließung von Kitas und Schulen mussten Eltern teils monatelang zu Hause einspringen – und diese Arbeit wurde überwiegend von Frauen geleistet. Gerade Frauen in schwächerer Arbeitsmarktposition, also Minijobberinnen und Teilzeitkräfte, „haben sich in der Coronakrise tendenziell stärker vom Arbeitsmarkt zurückgezogen“, erklärt Bettina Kohlrausch. Ihre Befürchtung: Es handelt sich nicht um vorübergehende Verschiebungen, sondern „es besteht die Gefahr, dass Frauen nachhaltig vom Arbeitsmarkt verdrängt werden“.

Einig sind sich die Forscher, dass die größten Coronaverlierer vor allem auf lange Sicht unter den Kindern und Jugendlichen zu suchen sind. Weil seit dem Ausbruch der Pandemie kaum noch Praktika und berufsvorbereitende Maßnahmen stattfinden, ist die Zahl der Ausbildungsplatzbewerber deutlich zurückgegangen. Spiegelbildlich ist auch bei den Betrieben die Rekrutierung von Auszubildenden erheblich ins Stocken geraten. Bernd Fitzenberger diagnostiziert „eine Ausbildungsplatzkrise, die uns erheblich zu schaffen machen wird“. Im Ausbildungssystem werden „uns am unteren Ende viele verloren gehen“. Aktuell sieht der IAB-Direktor vor allem die Gefahr, „dass junge Menschen im derzeit nachgefragten Niedriglohnsektor bleiben, anstatt eine Ausbildung zu beginnen, und damit verlieren wir diese Menschen, die wir für die anstehende Transformation der Unternehmen dringend benötigen“.

Allerdings setzt die Verliererkette schon viel früher an. Vor allem im Bildungsbereich habe die Pandemie schichtspezifische Unterschiede in einem dramatischen Ausmaß vergrößert. „Die Schere ist weiter auseinandergegangen“, so der Befund von Bettina Kohlrausch. „Die Kinder, die es am meisten nötig gehabt hätten, sind im Homeschooling weiter zurückgefallen und haben richtig gelitten.“

Ein Ende der Misere ist nicht abzusehen. Derzeit sind wegen des dramatischen Pandemiegeschehens wieder Zehntausende Schüler in häuslicher Quarantäne; die Bildungslücken werden also noch größer. Dass ein Ausfall an Bildungszeiten an den Schulen später nicht mehr aufzuholen ist und „langfristig zu schlechteren Einkommensperspektiven führt“, betont Michael Hüther, der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Seine größte Sorge: „Ich sehe in der Politik bislang keine Antworten darauf. Es gibt keinen Ansatz einer Strategie, wie dieser Bildungsverlust wieder aufgeholt werden könnte.“

„Vor Corona sind nicht alle gleich“ war das Thema einer Diskussion zwischen Bettina Kohlrausch, Bernd Fitzenberger und Michael Hüther auf dem diesjährigen WSI-Herbstforum. Der Videomitschnitt ist abrufbar auf der Dokumentationsseite der Veranstaltung.

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