Quelle: Fraunhofer IPT
Magazin MitbestimmungWearables: Eine Frage der Macht
Ein Forscherteam hat den Einsatz von smarten Handschuhen und Datenbrillen in Betrieben untersucht. Solche Systeme lassen sich zur Überwachung der Beschäftigten missbrauchen – doch starke Betriebsräte können das verhindern. Von Andreas Molitor
Das ist doch mal ein Arbeitgeber so ganz nach dem Geschmack von Betriebsräten: „Unsere Mitarbeiter sollen sich bei der Arbeit nicht gehetzt fühlen“, stellt der Geschäftsführer eines namhaften Logistikunternehmens klar. „Genau das ist auch unsere Philosophie bei der Einführung neuer digitaler Technologien.“ Der richtige Name des Unternehmens kann leider nicht genannt werden. Das Gespräch mit dem Geschäftsführer fand im Rahmen einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie statt. Die Verfasser gaben der Firma den Fantasienamen RetailLog.
Ein gemischtes Team aus Forschern des Wissenschaftszentrums Berlin und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat in dieser Studie erstmals die Chancen und Risiken beim Einsatz sogenannter Wearables wie intelligenter Handschuhe, smarter Armbanduhren oder Datenbrillen in Fabriken und Logistikzentren untersucht. Die Wissenschaftler befragten Technologieentwickler, Manager, Betriebsräte und Beschäftigte nach ihren Hoffnungen, Befürchtungen und Erfahrungen mit den digitalen Helfern.
Der Vorarbeiter mit der Stoppuhr aus der Frühzeit des Taylorismus hat ausgedient. Sensorbasierte Feedbacksysteme registrieren kleinste Bewegungen und verteilen durch eine kurze Vibration, ein Tonsignal oder ein Aufleuchten unmittelbar Lob, Tadel – oder sie vermelden Fehler, wenn der Lagerarbeiter beispielsweise das falsche Paket aus dem Regal genommen hat oder seine Leistung hinter der vorgegebenen Norm zurückbleibt.
Kontrolle bis in den Körper hinein
Wearables ermöglichen, so die Studie, „eine neue Qualität der Überwachung des Arbeitsprozesses und damit letztendlich der Beschäftigten“. Sie vernetzen die Beschäftigten untereinander, speisen Daten über den Arbeitsprozess in die IT-Systeme ein und machen den Körper der Mitarbeiter – zumindest theoretisch – für den Arbeitgeber gläsern. „Bei Wearables reicht die Kontrolle erstmals bis in den Körper hinein“, sagt Sabine Pfeiffer, Professorin für Soziologie an der Uni Nürnberg und Mitautorin der Studie. „Das öffnet tatsächlich eine neue Tür.“ Wenn beispielsweise eine Smartwatch bei der Arbeit Körperfunktionen wie Puls oder Stresslevel erfasst – was in Deutschland verboten ist –, weiß der Arbeitgeber, wie es um die Fitness der Beschäftigten steht; frühzeitig kann er einen Leistungsabfall infolge von Krankheit oder innerer Kündigung erkennen. Sabine Pfeiffer malt ein solches Szenario aus: „Der Chef registriert bei einem Lagerarbeiter am Montag regelmäßig ein geringeres Konzentrationsniveau. Da könnte er doch versucht sein, den Mitarbeiter zu einem Gespräch über ausschweifendes Feiern und zu hohen Alkoholkonsum am Wochenende einzubestellen.“
Manche Entwickler richten den Blick längst auf das Verhalten und das Befinden der Beschäftigten. Das US-Softwareunternehmen Humanyze hat ein kreditkartengroßes Gerät mit eingebautem Mikrofon zur Datenerfassung entwickelt, das am Rücken der Mitarbeiter baumelt. Es registriert Stimmlage, Lautstärke, Sprechtempo, Pausen, vor allem aber Kommunikationsmuster. Wer spricht im Büro mit wem? Wie oft und wie lange? Wer redet kaum mit anderen? Ist der Gesprächspartner im Meeting oder an der Kaffeemaschine gelangweilt? Aufgeregt? Verängstigt? Humanyze hat ein solches System zur totalen Kommunikationsdurchleuchtung in drei Niederlassungen einer großen deutschen Bank getestet – zur großen Zufriedenheit des Geldinstituts, wie zu lesen ist.
Die Wearables-Studie fand unter den befragten Managern keine Kontrollfreaks. Allerdings hatten alle untersuchten Unternehmen einen Betriebsrat. In den meisten Fällen regelt eine Betriebsvereinbarung den Einsatz der digitalen Technologien und schließt eine Speicherung und Auswertung der Daten zur Verhaltens- und Leistungskontrolle aus.
Solche Vereinbarungen ergeben sich nicht von allein. Wearables und ähnliche Systeme zur Leistungskontrolle sind, so der Berliner Soziologe Philipp Staab, „Instrumente betrieblicher Herrschaft“. Es stellt sich die Machtfrage. Für die Autoren der Studie steht fest, dass „eine menschenzentrierte Gestaltung von digitalen Assistenzsystemen und Wearables“ nur dort möglich ist, wo es starke Mitbestimmung gibt. Wo kein Betriebsrat existiert und „Personalmangel und Management ‚by stress‘ herrschen, ist eine solche Gestaltung kaum möglich“.
Niels Van Quaquebeke, Professor für Leadership and Organizational Behavior an der Hamburger Kühne Logistics University, begleitete die Einführung eines solchen Systems in einer ausländischen Niederlassung eines großen deutschen Unternehmens und machte eine überraschende Entdeckung: „Die Arbeiter in der Produktion fanden die Vermessung von Arbeitsleistungen durchweg super.“
Niels Van Quaquebeke hat dafür auch eine Erklärung: „Die Menschen wollen sich bei der Arbeit gut fühlen. Erreichen können sie das häufig durch eine direkte Rückmeldung zur Qualität ihrer Arbeit.“ Früher mussten die Arbeiter in dieser Fabrik dafür zum Vorarbeiter gehen, der oft keine Zeit hatte oder auch fachlich überfordert war. Die Mitarbeiter waren dann frustriert. Sie wussten nicht, warum sie eine Produktionsquote nicht erfüllt hatten oder warum eine Maschine nicht richtig lief. Das neue System, so Van Quaquebeke, empfanden sie „wie einen frischen Luftzug“. Es gab ihnen „mehr Gestaltungsmacht, weil sie nun besser und schneller begründen konnten, warum es beispielsweise an einer Produktionslinie hakt“.
Ob Assistenzsysteme Motor für Teamgeist oder digitale Peitsche sind, ob sie zur Entsolidarisierung der Beschäftigten führen oder, ganz im Gegenteil, zu mehr Freiheit, hängt nach Ansicht Van Quaquebekes davon ab, wer an welcher Stelle des Unternehmens die Verfügungsgewalt über die Daten hat. Das Management in der von ihm begutachteten Fabrik habe „der großen Versuchung widerstanden, die Daumenschrauben von Monat zu Monat anzuziehen“. Allerdings sei den Führungskräften auch klar gewesen, „dass die Akzeptanz des Systems auf null sinkt, sobald die Mitarbeiter so etwas wittern“.
Die Frage der Akzeptanz war auch den Autoren der Wearables-Studie wichtig. Als „bemerkenswertes Ergebnis“ interpretiert Sabine Pfeiffer, dass die Mehrheit der Beschäftigten „an diesen Technologien durchaus interessiert und sehr experimentierfreudig ist“. Die Betriebsräte mussten die Technikeuphorie mitunter etwas bremsen. Nur gut ein Viertel der Befragten hat grundsätzliche Bedenken. Beim Pilotversuch sind die meisten gern dabei. Das Gros knüpft seine Bereitschaft allerdings an Bedingungen. Vor allem wollen sie die Kontrolle über die Daten und ihre Nutzung behalten und fordern eine tatsächliche Entlastung bei der Arbeit. Die größte Ablehnung verzeichnen die Autoren bei der Erfassung von Gefühlen – vor einem gläsernen Gefühlshaushalt graust es den meisten.
Wie sich digitale Technologien auf Arbeitsinhalte und Qualifizierung auswirken, sieht Betriebsrat Chavdarian Alireza im Halbleiterwerk von Bosch in Reutlingen. Dort verschwinden zunehmend vor allem Arbeiten auf der mittleren Qualifikationsebene, bei der Wartung von Maschinen beispielsweise. „Früher hat ein Mechaniker am Klang einer Achse erkannt, wann sie geschmiert werden muss oder ein Lager ausgeschlagen ist“, erklärt Chavdarian Alireza. „Heute übernehmen Sensoren diese Arbeit. Jahrzehntelanges Erfahrungswissen von Spezialisten ist eigentlich kaum noch etwas wert.“ Ein Pilotprojekt mit intelligenten Handschuhen wurde in Reutlingen übrigens nach kurzer Zeit eingestellt, weil die Tätigkeiten, für die der Smart Glove gedacht war, ins Ausland verlagert wurden.
Die Studie bestätigt den Praxisbefund aus Reutlingen – zumindest für die Logistik. Hier dienen die digitalen Helfer „der Reduktion von Handlungsspielräumen und der Standardisierung der Prozessabläufe“. Dieses Downgrading findet erstaunlicherweise sogar den Beifall vieler Beschäftigter, weil die Systeme ihnen Entscheidungen abnehmen und somit „den Stress reduzieren“. Die durch Wearables erzeugte Transparenz von Arbeitsprozessen, sagt ein Betriebsrat, sei auch deshalb hilfreich, weil sie „die Belastung und zu knappe Personalausstattung sichtbar“ mache – ein Argument in Diskussionen mit der Geschäftsführung.
Beherzt reingrätschen
Bei Verhandlungen mit dem Arbeitgeber über die Einführung solcher Technologien, so ein Fazit der Studie, sind Betriebsräte stark gefordert. „Sie müssen die Technik kennen“, erklärt Sabine Pfeiffer, „sie müssen wissen, welche Daten erhoben und wo sie gespeichert werden, was man mit den Systemen übermorgen alles machen kann und wo man als Betriebsrat beherzt reingrätschen muss.“ Ansonsten bleibe nur die Möglichkeit, die einer der befragten Betriebsräte resignierend als Strategie ausgibt: „Wir müssen uns auf das verlassen, was das Unternehmen uns erzählt.“
Weitere Informationen
Der Horrorfall
„Wir diskutieren im Team, ob wir den Pulsmesser einbauen oder nicht. Der Horrorfall ist: Der Puls steigt, wenn sich zwei Arbeiter treffen; der Puls steigt, weil der eine in den anderen verliebt ist – und ich kann so rauskriegen, dass der homosexuell ist.“
Ein Technikentwickler
Vertrauen ist gut
„Früher hätten wir eine Betriebsvereinbarung am Anfang gemacht und alles abgesichert. Jetzt machen wir es iterativ. Wir lassen Projekte laufen und machen mit. Es entwickelt sich einfach alles zu schnell, als dass wir es anders machen könnten. Wir setzen darauf, dass wir gegenseitiges Vertrauen aufbauen.“
Ein Betriebsrat
Fatale Folgen
„Ich muss Menschen haben, die Kabel ziehen. Die werden auch bezahlt wie Kabelzieher. Und die kann ich, auch wenn ich denen noch so viele Datenbrillen aufziehe, nicht an die Anlagen lassen, weil der falsche Knopf, zur falschen Zeit gedrückt, fatale Kosten und Folgen hat.“
Ein Betriebsrat
Keine digitale Peitsche
„Wir müssen sicherstellen, dass es keine Auswertung der Daten für Leistungskontrolle gibt, dass also beispielsweise die Daten täglich gelöscht werden.“
Ein Betriebsrat
Martin Krzywdzinski/Sabine Pfeiffer/Maren Evers/Christine Gerber: Die Vermessung der Arbeitswelt. Wearables und digitale Assistenzsysteme in Fertigung und Logistik.
Die von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie, für die Manager und Betriebsräte von 16 Unternehmen sowie mehr als 1000 Beschäftigte befragt wurden, erscheint demnächst.